Das Bundesverfassungsgericht hat sich bislang nicht mit der Maskenpflicht befasst. | Bild: Hasan Bratic / Shutterstock

Blindflug der Gerichte?

Das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz hat am 6. Juli in einem Beschluss die Maskenpflicht für rechtmäßig erklärt. Sie stehe „im Einklang mit der staatlichen Schutzpflicht für Leben und Gesundheit“. Das Gericht beruft sich dabei auf „maßgebliche Feststellungen“ des Robert Koch-Instituts. Deutlich wird, wie leicht sich nicht nur große Teile von Politik und Medien, sondern auch Richter im Nebel aus widersprüchlichen, unvollständigen und suggestiven Informationen verirren können. Eine Analyse.

OLIVER MÄRTENS, 14. Juli 2020, 3 Kommentare

Zwei Vorbemerkungen

Dem hier betrachteten Gerichtsbeschluss lag der Antrag eines Bürgers zugrunde, der Bedenken hatte, dass die staatlichen Maßnahmen zu seiner Fürsorge nicht ausreichen könnten, um seine Gesundheit wirksam zu schützen. Sein Antrag auf einstweilige Anordnung zielte daher darauf, die in Rheinland-Pfalz geltende Maskenpflicht dahingehend zu verschärfen, dass seinen Mitbürgern das Tragen von "Alltags"- und OP-Masken verboten würde und sie stattdessen höherwertige Masken der Typen FFP2 und -3 zu verwenden hätten. Der Antrag dieses Bürgers hat also sicher nicht die Evidenz aufgeführt, mit deren Hilfe man die Maskenpflicht hätte grundsätzlich hinterfragen und die Ungeeignetheit ihrer Anordnung hätte begründen können. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Antrag COVID-19 eine hohe Gefährlichkeit zuschrieb, so dass auch Maßnahmen mit geringem Vorteil oder einem weniger günstigen Nutzen-/Kosten-Verhältnis angebracht seien.

Ferner muss angemerkt werden, dass der Antrag auf Einstweilige Verfügung ein sogenanntes Eilverfahren einleitet, in dessen Verlauf ein Gericht lediglich eine summarische Prüfung vornehmen kann und muss. Es handelt sich nicht um die tiefergehende, differenzierte Analyse, wie sie in einem Hauptsacheverfahren möglich und geboten ist.

Diese beiden Punkte seien vorangeschickt, damit nicht der Eindruck entsteht, man wolle hier ein Gericht unfairerweise an den höheren Maßstäben eines Hauptsacheverfahrens messen, wenn die Richter und Richterinnen in Wirklichkeit im Eilverfahren beurteilen und beschließen müssen. Vielmehr soll im Folgenden anhand eines solchen Beschlusses grundsätzlich aufgezeigt werden, wie leicht Menschen in jeder Rolle Fehleinschätzungen unterlaufen können, die zu inkorrekten Schlussfolgerungen führen.

Der Beschluss

Im Beschluss 6 B 10669/20.OVG des Oberverwaltungsgerichtes Rheinland-Pfalz liest sich das in Auszügen wie folgt. Wobei der vollständige Beschluss hinter einer Art "Bezahlschranke" liegt, in Form einer Gebühr von 15 Euro, die zu bezahlen ist, wenn man den Beschluss bei Gericht anfordert. Einen ersten, kostenfreien Überblick gibt die dazugehörige Pressemitteilung des Gerichtes. Die Hervorhebungen sind in allen folgenden Zitaten aus dem vollständigen Beschluss die des Autors und nicht die des Gerichtes. So heißt es dort unter Randziffer 25:

"Die Corona-Pandemie begründet eine ernstzunehmende Gefahrensituation, die staatliches Einschreiten nicht nur rechtfertigt, sondern mit Blick auf die Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG weiterhin gebietet. Auch wenn sich das Infektionsgeschehen aufgrund der ergriffenen Maßnahmen in letzter Zeit verlangsamt hat und insbesondere die Anzahl der festgestellten Neuinfektionen rückläufig ist, besteht die Gefahr der Verbreitung der Infektion und daran anknüpfend einer Überlastung des Gesundheitswesens mit gravierenden Folgen für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung fort. Nach den maßgeblichen Feststellungen des Robert Koch-Instituts (vgl. § 4 IfSG) handelt es sich immer noch um eine sehr dynamische Situation. Die Gefährdung für die Bevölkerung wird deshalb nach wie vor als hoch eingeschätzt, für Risikogruppen sogar als sehr hoch.

Dabei variiert die Gefährdung von Region zu Region. Die Belastung für das Gesundheitswesen hängt maßgeblich von der regionalen Verbreitung der Infektion, den vorhandenen Kapazitäten und den eingeleiteten Gegenmaßnahmen wie Isolierung, Quarantäne und physischer Distanzierung ab (OVG NRW, Beschluss vom 25. Juni 2020 – 13 B 800/20.NE –, juris, Rn. 37). Sie ist aktuell in weiten Teilen Deutschlands gering, aber auch örtlich hoch, etwa aufgrund von COVID-19-Ausbrüchen in fleischverarbeitenden Betrieben mit einer 7-Tage-Inzidenz von über 50 Fällen je 100.000 Einwohner (vgl. Robert Koch-Institut, Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 [COVID-19], Aktualisierter Stand für Deutschland, Stand: 5. Juli 2020, abrufbar unter: www.rki.de)."

Die Fragmentierung von Informationen durch das Robert Koch-Institut (RKI)

Das Gericht hat also den RKI-Lagebericht für den 5. Juli 2020 herangezogen; das war ein Sonntag. Ist dem Gericht bewusst gewesen, dass das RKI ausführlichere Berichte mittwochs und donnerstags veröffentlicht? Dass der Mittwochsbericht zusätzlich die Teststatistik nach Kalenderwochen enthält? (An dieser Stelle wird die Betrachtung auf die KW 26 begrenzt, da dies die letzte verfügbare Veröffentlichung vor dem Bericht des 05.07.2020 war. Darauffolgende Berichtswochen konnte das Gericht im Zeitpunkt seiner Beschlussfassung nicht kennen.)

Diese Teststatistik wies den höchsten Anteil positiver Tests für die 14. KW mit 9,0 Prozent aus. Seitdem war ein Abwärtstrend bis auf 0,8 Prozent in KW 26 zu verzeichnen. Der Rückgang der Testpositivenrate betrug damit 91 Prozent! Die Positivenrate hatte sich also zwischenzeitlich auf einen Bruchteil des Maximums reduziert, so dass die obigen Hervorhebungen in den Ausführungen des Gerichtes durch gegenteilige Evidenz konterkariert waren. Doch irritierenderweise fragmentiert das RKI seine Informationen auf die Art, dass der jeweils jüngste Lagebericht niemals eine vollständige Informationsbasis darstellt!

Der Donnerstagsbericht des RKI enthält wiederum die Teststatistik nach Kalenderwochen nicht; dafür jedoch die sogenannten SARI-Zahlen sowie Angaben aus dem sogenannten GrippeWEB und der Arbeitsgemeinschaft Influenza (AGI). Auf diese drei Themen wird in der Folge noch näher einzugehen sein. Zunächst sei jedoch festgehalten, dass die Intensivbettenbelegung vom RKI durchgehend Montags bis Freitags berichtet wird, jedoch ausgerechnet nicht in den beiden Wochendberichten Samstags und Sonntags. Im Überblick:

  • SARI: nur Donnerstags
  • GrippeWeb: nur Donnerstags
  • AGI: nur Donnerstags
  • Teststatistik kalenderwochenweise: nur Mittwochs
  • Intensivbettenbelegung: Wochentags ohne Samstag und ohne Sonntag

Im Ergebnis gibt es niemals einen täglichen Lagebericht des RKI, der alle fünf aufgezählten Aspekte beinhaltet – das RKI fragmentiert wesentliche Informationen des COVID-19-Geschehens.

Der Beschluss gibt auch weitere Gesichtspunkte wieder, die im Lagebericht von Sonntag, dem 05.07.2020 aufgeführt sind. Allerdings verzichtet das Gericht hier darauf, eigenes Urteilsvermögen anzuwenden und übernimmt die Bewertungen des RKI. So würde sich zum Beispiel der Einfluss der regionalen Infektionsverbreitung auf die Belastung des Gesundheitswesens sehr stark relativieren, wenn man berücksichtigte, dass eine Aufstockung von Kapazitäten, die vorzeitige Entlassung minderschwerer Fälle und eine Verlegung von Patienten auf Krankenhäuser in Nachbarregionen mögliche Maßnahmen sind. Ferner wäre eine grundsätzliche Differenzierung nach milden, krankenhauspflichtigen und intensivpflichtigen Fällen angebracht, da sich dann die Bedrohung für das Gesundheitswesen auf einen Bruchteil des Suggerierten reduzieren würde.

Auch die sogenannte 7-Tage-"Inzidenz" ist nicht nur willkürlich gewählt, sondern auch durch den Umfang von Testungen, die Prävalenz (also das infektionsunabhängige Vorhandensein) von nachweisbarem Genmaterial und die Falschpositivenrate der gewählten Tests und ihre Auswertungsvarianten beeinflusst, so dass diese vermeintliche "Inzidenz" nicht nur sehr eingeschränkt überregional vergleichbar ist, sondern auch noch als höchst anfällig für Fehler und Manipulationen angesehen werden muss. Dies illustrieren die Beispiele hier und hier.

Das Influenza-Sentinel

Im jüngsten Donnerstagsbericht vor dem 05.07.2020, per 2. Juli 2020, finden sich Ergebnisse aus weiteren Surveillance-Systemen wie zum Beispiel dem Sentinel für Atemwegsinfektionen der Arbeitsgemeinschaft Influenza (AGI). Dabei handelt es sich um ein Überwachungssystem, das unter Mitarbeit einer repräsentativen Auswahl niedergelassener Ärzte vom RKI verantwortet wird. Daraus wird berichtet:

"(...), seit der 16. KW 2020 gab es in den Sentinelproben keine Nachweise von SARS-CoV-2 mehr."

Dies bedeutet, dass in der repräsentativen (!) Erhebung von akuten Atemwegsinfektionen in Deutschland unter fachlicher Leitung des RKI zuletzt im April das COVID-19 verursachende Virus nachgewiesen wurde. Die nicht mehr gegebene Nachweisbarkeit von SARS-CoV-2 seit der KW 16 spiegelt medizinisch und statistisch valide das Ende des maßgeblichen Infektionsgeschehens für dieses Virus wider.

Will man wissen, welchen Verlauf mit welchem Umfang das COVID-19-Geschehen zeigte, findet man weitere Informationen in den AGI-eigenen Berichten. Hier wird eine Auswertung aus dem AGI-Bericht bis einschließlich KW 15 herangezogen:

Quelle: RKI, Wochenbericht 15/2020 der Arbeitsgemeinschaft Influenza, Tabelle 2, Seite 4

Die Tabelle zeigt:

  • Bis zum Ende der 12. KW (die laut RKI das offizielle Ende der Influenzawelle darstellt) dominierten Influenzaviren das Geschehen mit Probenanteilen zwischen 19 und 42 Prozent.

  • SARS-CoV-2 spielte in den KW 10 bis 12 eine um den Faktor 12, 34 beziehungsweise 105 geringere Rolle als die Influenzaviren. Hätte COVID-19 eine "epidemische Lage von nationaler Tragweite" hervorgerufen, dann wäre die "Tragweite" der Influenza mindestens 12 Mal größer gewesen! (Vor der 10. KW war SARS-CoV-2 im Sentinel überhaupt nicht nachweisbar; insgesamt wurde das Virus von der AGI nur 13 Mal nachgewiesen.)

  • Selbst in der Woche mit dem absolut höchsten Nachweis von SARS-CoV-2, in KW 13, war das Aufkommen aller anderen Atemwegsviren zusammengenommen gut 10 Mal größer als das des COVID-19-Erregers.

  • Aus der repräsentativen Surveillance akuter Atemwegsinfektionen der AGI unter Federführung des RKI ist zwingend zu schließen, dass eine besorgniserregende COVID-19-Epidemie in Deutschland zu keinem Zeitpunkt bestanden hat.

Leider gehen diese enorm wichtigen Informationen aus keinem täglichen RKI-Lagebericht, noch nicht einmal aus dem Donnerstags-Bericht hervor, sondern sind in den Information der AGI – wobei das "I" auch noch für "Influenza" steht – geradezu versteckt: Ungefähr so, als würde das RKI sein "Bargeld" (COVID-19) in einer Dose mit der Aufschrift "Kaffee" (Influenza) aufbewahren. Im Donnerstagsbericht beschränkt sich das RKI auf den oben wiedergegebenen Halbsatz.

Weitere Details des Gerichtsbeschlusses

In Randziffer 28 heißt es:

"Die in der jüngeren Vergangenheit schrittweise erfolgte Aufhebung von Schutzmaßnahmen bedingt einen Anstieg an persönlichen und sozialen Kontakten, der von einschränkenden Schutzmaßnahmen flankiert werden muss, welche das Ziel verfolgen, Neuinfektionen mit dem Coronavirus möglichst zu verhindern und die Verbreitung des Virus zumindest zu verlangsamen bzw. die Infektionsdynamik zu verzögern."

Der Mittwochsbericht vom 01.07.2020 zeigt, dass trotz der Lockerungen die Testpositivenrate niedrig geblieben und weiter gesunken war. Der einzige Ausreißer in der Zeitreihe war die KW 25 mit 1,3 Prozent, gegenüber 0,8 Prozent in der Woche davor beziehungsweise danach. Eine "Infektionsdynamik" war also keinesfalls festzustellen, ebenso wenig eine zunehmende "Verbreitung" von SARS-CoV-2 und sicher keine Notwendigkeit, etwas zu "verlangsamen" oder zu "verzögern". Zur Verdeutlichung hier die dazugehörigen Positivenraten aus den bundesweiten SARS-CoV-2-Testungen:

Quelle: Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) vom 01.07.2020, Tabelle 5, S. 11

Die SARI-Zahlen

Gestützt wird dies auch durch die sogenannten SARI-Zahlen (SARI = schwere akute respiratorische Infektionen) des Donnerstagsberichtes vom 02.07.2020:

Quelle: Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) vom 02.07.2020, Abbildung 10, S. 12

An den blauen Säulen ist zu erkennen, dass das SARI-Geschehen seit der KW 12 – dem vom RKI erklärten Ende der Influenzawelle – stetig zurückging. Auch wenn sich ein Sockel von SARI-Zahlen seit der 18. KW hält, zeigt doch der zeitliche Verlauf der Anteile von COVID-19 daran (graue Linie), dass SARS-CoV-2 diesen Sockel immer weniger mit verursacht hat. Das ist konsistent mit dem Ende der Coronavirensaison, das üblicherweise in den Monat April fällt, der bis zur 18. KW reicht. Folgerichtig fällt ab der 20. KW der SARS-CoV-2-Anteil am SARI-Geschehen noch einmal deutlich ab. Im Lagebericht vom 02.07.2020 heißt es dazu:

"Im Rahmen der ICD-10-Code basierten Krankenhaus-Surveillance von schweren akuten respiratorischen Infektionen (SARI) (...) ist die Zahl der SARI-Fälle in der 25. KW 2020 gesunken. Die Fallzahl befindet sich noch immer auf einem sehr niedrigen Niveau. Es wurden 4% der berichteten SARI-Fälle mit einer COVID-19-Diagnose (...) hospitalisiert (...)."

Die Intensivbettenbelegung

Im Lagebericht vom 02.07.2020 wird dazu ausgeführt: "Insgesamt wurden 32.643 Intensivbetten registriert, wovon 21.530 (66%) belegt sind; (...)" und: COVID-19-Fälle in intensivmedizinischer Behandlung: 327 (02.07.2020, 12:15 Uhr). Damit machten mit COVID-19 assoziierte Intensivpatienten gerade einmal 1,5 Prozent aller Intensivbelegungen und nur 1,0 Prozent aller zur Verfügung stehenden Intensivbetten aus!

Das GrippeWeb

Ergänzend sei dazu schließlich noch die zentrale Aussage aus dem GrippeWeb erwähnt, "das in Deutschland die Aktivität akuter Atemwegserkrankungen beobachtet und dazu Informationen aus der Bevölkerung selbst verwendet", zitiert nach dem Donnerstags-Lagebericht vom 02.07.2020, Seite 11:

"In GrippeWeb, (...), ist die Rate akuter Atemwegserkrankungen (ARE-Rate) in der 26. KW 2020 im Vergleich zur Vorwoche gestiegen, (...). Die ARE-Rate liegt insgesamt seit dem Ende der Grippewelle in der 12. KW 2020 auf einem deutlich niedrigeren Niveau als zu dieser Zeit in den Vorjahren." (Hervorhebung durch den Autor.)

Weiteres aus dem Gerichtsbeschluss

Gut gerüstet mit diesen enorm wichtigen Zusatzinformationen, die das Gericht anscheinend nicht kannte, lohnt sich der Blick auf weitere Passagen des Gerichtsbeschlusses. Unter Randziffer 29 heißt es:

"Vielmehr unterstützt sie (die Mund-Nasen-Bedeckung, Anmerkung des Autors) zielführend das staatliche Bestreben, mittels eines Fremdschutzes die Verbreitung des Coronavirus durch die Verhinderung von Neuinfektionen zu verlangsamen."

Hier ist erneut zu fragen, was bei einer extrem niedrigen Testpositivenrate von 0,8 Prozent staatlicherseits "verlangsamt" werden soll: Die sogenannte "COVID-19-Epidemie" hat laut virologischer Überwachung des RKI nie stattgefunden. Leider ist wie erwähnt diese zentrale Information im jüngeren RKI-Bericht vom 05.07.2020 nicht erwähnt, im vorangegangenen vom 01.07.2020 wird sie in einem Halbsatz längst nicht deutlich genug ausgesprochen, sondern lediglich die fehlende Nachweisbarkeit von SARS-CoV-2 im Sentinel seit der KW 16 formuliert, siehe oben.

In Randziffer 30 des Gerichtsbeschlusses heißt es:

"Der Einschätzung des nach § 4 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 IfSG besonders zur Beurteilung der epidemiologischen Lage berufenen Robert Koch-Instituts zufolge ist die Schutzfunktion der sog. Community-Masken jedenfalls „plausibel“, indem dadurch z.B. beim Sprechen, Husten oder Niesen ausgestoßene infektiöse Tröpfchen abgefangen werden, und ihre Verwendung als zusätzlicher Baustein neben anderen Maßnahmen zur Reduktion der Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus geeignet (Stand: 13. Mai 2020, vgl. www.rki.de/Shared-Docs/FAQ/NCOV2019/FAQ_Mund_Nasen_Schutz.html mit Verweis auf das Epidemiologisches Bulletin 19/2020 „Mund-Nasen-Bedeckung im öffentlichen Raum als weitere Komponente zur Reduktion der Übertragungen von Covid-19”, 3. Update vom 7. Mai 2020)."

Korrekter Weise spricht das Gericht von der Reduzierung der Viruslast, die bei Maskennutzung vom Träger auf sein Gegenüber übergehen könnte. Aber ist die gesamte Bevölkerung von Rheinland-Pfalz infektiös? Wird die Maskenpflicht auf symptomatische, also infektiöse Personen begrenzt? Auf Menschen, die regelmäßig Kontakt mit Risikopersonen haben? Nein! Die Maskenpflicht wird ebenfalls gesunden Menschen ohne systematischen Kontakt zu Risikogruppen anlassunabhängig aufgezwungen, obwohl es dafür keine hinreichende formale Begründung geben dürfte, geschweige denn eine materielle (medizinische).

"Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat nach ursprünglich kritischer Einstellung ihren Standpunkt zur Maskenpflicht geändert und empfiehlt diese bei sachgemäßer Anwendung in Situationen, in denen die Abstandsregelungen nicht eingehalten werden können („Advice on the use of masks in the context of COVID-19, Interim guidance” vom 5. Juni 2020, abrufbar unter: www.who.int/publications)."

Tatsächlich heißt es im Dokument jedoch:

"Examples of where the general public should be encouraged to use medical and non-medical masks in areas with known or suspected community transmission"

Die WHO spricht also keinesfalls von einer Maskenpflicht, sondern von einer Empfehlung beziehungsweise einer Motivierung zum freiwilligen Maskentragen. Außerdem ist dieses "Encouragement" auf auffällige Gebiete beschränkt und nicht undifferenziert auszusprechen. Die Wiedergabe durch das Gericht ist also gleich zweimal fehlerhaft, einmal im Punkt der Verbindlichkeit und einmal bei der räumlichen Geltung.

Darüber hinaus listet das WHO-Dokument (Seite 8) mögliche Schäden und Nachteile auf wie zum Beispiel:

  • Berühren der eigenen Augen mit ungewaschenen Händen bei dem Versuch, den Maskensitz zu korrigieren

  • Entstehen von Brutstätten für Keime, wenn Masken feucht werden und/oder verschmutzen

  • Abhängig von der Maskenvariante Kopfschmerzen und/oder Atemprobleme

  • "Nachteile" für Menschen mit Atemwegsproblemen (Der Autor dieses Beitrages fügt hinzu: Daneben auch für Personen mit Herzinsuffizienzen, insbesondere bei unerkannten Atemwegs- bzw. Herzinsuffizienzen, da dann eine Befreiung von der Maskenpflicht aus medizinischen Gründen unterbleiben würde.)

"Wissenschaftlicher Diskurs"?

Aus Randziffer 31 des Gerichtsbeschlusses:

"Entgegen dem Beschwerdevorbringen wird diese Beurteilung nicht durch den Umstand in Frage gestellt, dass das Robert Koch-Institut zu Beginn der Pandemie noch keine allgemeine Empfehlung zum Tragen einer Maske abgegeben und mitgeteilt hatte, es gebe keine hinreichende Evidenz dafür, dass ein Mund-Nasen-Schutz das Risiko einer Ansteckung für eine gesunde Person, die ihn trage, signifikant verringere. Diese Einschätzung über die Schutzwirkung sogenannter Behelfsmasken steht zu der jetzigen Empfehlung nicht im Widerspruch, die anders als zunächst den Fokus nicht in erster Linie auf den Aspekt des Eigenschutzes richtet, sondern vorrangig den Gesichtspunkt des Fremdschutzes in den Blick nimmt. Die Neubewertung von Schutzmaßnahmen, auch unter Berücksichtigung neuer Erkenntnisse über das Virus, ist notwendiger Bestandteil eines wissenschaftlichen Diskurses (OVG NRW, Beschluss vom 19. Mai 2020 – 13 B 557/20.NE –, juris, Rn. 92)."

Hier wird es geradezu absurd: Bei SARS-CoV-2 handelt es sich um ein Coronavirus, einen Virustyp, der sich bei Menschen in den oberen Atemwegen festsetzt ("Rachen"). SARS (mit dem verwandten Virus SARS-CoV-1) ist seit Ende 2002 bekannt; das älteste bekannte humanpathogene Coronavirus (H-CoV-229E) wurde 1965 entdeckt. Dass sich "neue Erkenntnisse" zur Übertragung eines Coronavirus innerhalb des ersten Halbjahres 2020 herausgestellt haben sollen und dass dies "notwendiger Bestandteil eines wissenschaftlichen Diskurses" sei, ist auch bei größtem Wohlwollen gegenüber der deutschen Gerichtsbarkeit nicht mehr nachvollziehbar.

Und da Gewaltenteilung bedeutet, dass sich die Gewalten wechselseitig begrenzen und kontrollieren, täte hier der Judikative ein kritisches Hinterfragen der Exekutive – in diesem Fall des RKI – sehr gut: Akkommodierendes (also anpassendes) Verhalten der Gerichte ist ganz klar ein Schritt in die falsche Richtung, nämlich faktisch zur partiellen Aufhebung der Gewaltenteilung, wie sie sich leider bereits zwischen Legislative und Exekutive in den sehr weitgehenden Ermächtigungen des novellierten Infektionsschutzgesetzes zugunsten des Bundesgesundheitsministeriums widerspiegelt.

Heranziehung eines "Discussion Paper"

Aus Randziffer 32:

"So kommt etwa eine vom Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA), Bonn, im Juni 2020 veröffentlichte Modellierungsstudie auf der Grundlage eines statistischen Vergleichs der Entwicklung der Infektionszahlen in deutschen Kommunen zu dem Ergebnis, dass die Einführung der Maskenpflicht zu einer Verlangsamung der Ausbreitung von Covid-19 beigetragen habe (vgl. Pressemitteilung der Universität Mainz vom 8. Juni 2020, abrufbar unter: www.uni-mainz.de/presse). Damit wird die Eignung der Maßnahme wissenschaftlich bestätigt (vgl. auch Thüringer OVG, Beschluss vom 13. Juni 2020 – 3 EN 374/20 –, juris, Rn. 68)."

Verblüffenderweise wird in der gesamten Studie - einem "Discussion Paper" kein einziges Mal auf den Testumfang und seine Veränderung in den deutschen Kommunen eingegangen. Dies, obwohl seit Ende März belegt ist, dass der bundesweite Anstieg von testpositiven Ergebnissen zwischen der KW 11 und der KW 12 ganz überwiegend auf eine Verdreifachung des Testumfanges zurückzuführen war - ein Effekt, den man auch umkehren könnte, indem man nach Einführung einer Maskenpflicht die Testzahlen wieder zurückfährt. Vom Corresponding Author der Studie erhielt der Autor dieses Artikels auf Nachfrage die Information, dass

"(...) wir gerade dabei (sind), die Studie zu überarbeiten. In dieser Überarbeitung werden wir auch die Anzahl der Tests berücksichtigen. Erste Ergebnisse zeigen jedoch, dass die Anzahl der Tests keinen erheblichen Einfluss auf die Ergebnisse hat."

Es ist zu bezweifeln, dass das Gericht den gleichen Weg ging, wie der Autor dieses Beitrages, und die Studienverfasser nach der Auswirkung des Testumfanges befragte. Und selbst wenn dies der Fall gewesen wäre – die um das Testgeschehen erweiterte Studie wurde bisher weder veröffentlicht noch durch Peer Review qualitätsgesichert, so dass es sich bis dato verbietet, von einer "wissenschaftlichen Bestätigung" der Maskenwirksamkeit durch dieses Discussion Paper zu sprechen.

"Wissenschaftliche Bestätigung"?

Und weiter aus Randziffer 33 des Gerichtsbeschlusses:

"Hiergegen spricht vielmehr die jüngste Erkenntnislage, welche die Eignung der Maskenpflicht als Schutzmaßnahme im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG wissenschaftlich bestätigt."

Wiederum lässt sich eine "wissenschaftliche Bestätigung" weder am noch nicht überarbeiteten und (noch?) nicht per peer-review überprüften Discussion Paper der Universität Mainz, noch an den oben zitierten Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation festmachen.

Hinzu kommt, wie ebenfalls bereits oben angesprochen, die Fragwürdigkeit angeordneter Maßnahmen gegenüber Personen, die weder infektiös, noch krank, noch infiziert, in den meisten Fällen noch nicht einmal positiv getestet sind (und wenn, dann mit einem Test, der in der Bundesrepublik weder eine offizielle Zulassung besitzt, noch gegen einen sogenannten Goldstandard kalibriert und validiert wurde und dessen falschpositive Fehlalarme sogar vom Bundesgesundheitsminister vor laufender Kamera eingeräumt wurden), sondern gegenüber der weit überwiegenden Mehrheit von Menschen, die schlicht als gesund gelten müssen.

Dazu noch einmal aus dem bereits angeführten Dokument der WHO (Hervorhebungen durch den Autor):

"At present, there is no direct evidence (from studies on COVID-19 and in healthy people in the community) on the effectiveness of universal masking of healthy people in the community to prevent infection with respiratory viruses, including COVID-19."

Auf deutsch: "Gegenwärtig gibt es keinen direkten Beweis (aus Studien zu COVID-19 und an gesunden Menschen in der Gemeinschaft) für die Wirksamkeit des allgemeinen Maskentragens gesunder Menschen in der Gemeinschaft zur Verhinderung einer Infektion mit Atemwegsviren, einschließlich COVID-19."

Eine "wissenschaftliche Bestätigung" dürfte grundlegend anders aussehen als die vom Gericht angeführten Quellen.

Schlussfolgerungen

Was lässt sich aus dem Gerichtsbeschluss, seiner Begründung und den hier vorgenommenen umfangreichen ergänzenden Betrachtungen ableiten:

  • Das Robert Koch-Institut fragmentiert seine Informationen sogar zwischen den täglichen Lageberichten derselben Berichtswoche sowie zwischen seinen expliziten COVID-19- und (vorwiegend) Influenza-Berichten. (Beispiele: Entwicklung der Testpositivenraten, SARS-CoV-2-Nachweis im Influenza-Sentinel, Intensivbettenbelegung, SARI-Zahlen, GrippeWeb)

  • Es ist fraglich, ob und wie viele Gerichte diese Fragmentierung ohne intensive Unterstützung von beantragenden beziehungsweise klagenden Parteien erkennen.

  • Selbst der einzelne RKI-Lagebericht wird von den Gerichten nicht immer vollständig zur Kenntnis genommen, so dass Widersprüche zwischen der berichteten Evidenz und den Schlussfolgerungen des RKI im gleichen Dokument unentdeckt bleiben können. (Beispiel: stark rückläufige Fallzahlenentwicklung gegenüber unverändert hoher offizieller Risikoeinschätzung)

  • Auch Gerichte können – wie Politiker, Medien und weite Teile der Bevölkerung – infektiöse mit nichtinfektiösen Personen verwechseln und vermischen. (Beispiel: Maskenpflicht für Gesunde)

  • Ebenfalls können Gerichte Empfehlungen mit Verpflichtungen sowie Gebiete mit und ohne auffälliges Infektionsgeschehen verwechseln und vermischen. Ebenso können starke, schwache und fehlende Evidenz in der Wahrnehmung der Gerichte durcheinander geraten und explizit geäußerte gesundheitliche Bedenken nicht ausreichend aufgefasst und berücksichtigt werden. Dies ist um so bedenklicher, je weitergehender die zu beurteilenden staatlichen Maßnahmen sind. (Beispiel: WHO-Empfehlungen zur Maskenpflicht, differenziert nach Erregerprävalenz und betrachteten Bevölkerungsgruppen)

  • Widersprüche und abrupte nicht begründete Kurswechsel innerhalb der Fachbehörden der Exekutive können selbst bei langjährig bekanntem und fundiert untersuchtem Infektionsgeschehen von Gerichten akkommodierend als "neue Erkenntnisse im Rahmen wissenschaftlicher Diskurse" eingeordnet werden, und dies sogar auf Kosten der wechselseitigen Kontrolle im Rahmen der Gewaltenteilung. (Beispiel: Kursumkehr in der RKI-Argumentation zur Maskennutzung)

  • Zahlentricks und statistische Manipulationen (beziehungsweise das Risiko solcher) werden von Gerichten nicht zwangsläufig erkannt. (Beispiel: Fallzahlenveränderungen infolge von Variationen des Testumfanges)

  • Die begrenzte Aussagekraft selektiver wissenschaftlicher Beratung und die auf Beraterseite erfolgenden Freizeichungen (das Erklären einer nur situativen oder bedingten Gültigkeit) werden von Gerichten nicht immer wahrgenommen und unter Umständen stattdessen die Empfehlungen ausgerechnet dieser Personen und Institutionen verabsolutiert. Da diese Fachleute und -gremien jedoch häufig bereits die Exekutive beraten (Beispiel: die WHO über das RKI), wird die Kontrollfunktion der Judikative innerhalb der Gewaltenteilung erneut geschwächt, wenn sie dieselben Berater für ihre Beschlussfindung heranzieht. Auch steht diese Verengung des Beraterkreises im Widerspruch zum von der Judikative selbst befürworteten "wissenschaftlichen Diskurs". (Beispiel: WHO-Empfehlungen zur Maskenpflicht)

Eine dringende Anforderung an die künftige Rechtsprechung

Ist damit alles verloren? Muss die Judikative als Element der Gewaltenteilung abgeschrieben werden? Nein: Der beschriebene Beschluss fällt in den Bereich der Eilverfahren mit summarischer Prüfung von Sachverhalten. Hauptsacheverfahren mit umfangreicherem Sachvortrag, dessen Erörterung und gutachterlichen Stellungnahmen stehen noch aus.

Ist die augenblickliche Situation deshalb zufriedenstellend? Ebenfalls nein: Traumatisierungen weiter Teile der Bevölkerung, insbesondere der Schwächeren wie Kinder, Pflegebedürftige, Demenzkranke usw. haben längst begonnen und setzen sich fort.

Bereits erzeugte Kollateralschäden wie weiter wachsende Tumore während aufgeschobener Behandlungen und Operationen, verschleppte Herzinfarkte und Selbstmorde werden nicht einfach so morgen aufhören oder aus der Welt geschafft werden.

Auch der wirtschaftliche Zusammenbruch hat erst begonnen und die Multiplikatoreffekte der den einzelnen Volkswirtschaften wie auch der Weltwirtschaft insgesamt durch Shutdowns versetzten "externen Schocks" lassen sich schon heute nicht mehr rückgängig machen, werden sich aber erst in der Zukunft mit einem Vielfachen des heute Beobachtbaren auswirken.

Es lastet also bereits seit Beginn des Shutdown eine nie dagewesene Verantwortung auf den Gerichten. Eine Verantwortung, die zu groß ist, um als Richter oder Richterin Fragmentierung, Widersprüchen oder einer verengten Sicht selektiver wissenschaftlicher Beratung auf den Leim zu gehen.

Über den Autor: Oliver Märtens, Jahrgang 1967, ist nach einer Banklehre und einem wirtschaftswissenschaftlichen Studium in verschiedenen Kreditinstituten der Bundesrepublik in Marketing und Vertriebsunterstützung tätig gewesen. Seit Ende 2018 arbeitet er in der Korruptionsprävention einer Bank.

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BERNHARD MÜNSTERMANN, 14. Juli 2020, 11:50 UHR

Zum heutigen défilé du 14 Juillet sind in Paris Militärformationen angetreten, die den Sicherheitsabstand vor den Augen des Präsidenten der Republik und seiner Entourage wie vor den Kameras der TV Stationen nicht einhalten und sämtlich ohne Maske angetreten sind. Darunter auch eine Abordnung der deutschen Bundeswehr. Eine Maske, wie sie auch Emmanuel Macron und seiner Entourage völlig entbehrlich ist. Es erscheint mir absurd anzunehmen, dass die deutsche Justiz, dass Richter in Rheinland-Pfalz Widersprüchlichkeiten dieser Art beim Thema Maskenpflicht nicht zur Kenntnis nehmen. Der Wertung im Vorspann Ihrer Analyse, es werde so deutlich "wie leicht sich nicht nur große Teile von Politik und Medien, sondern auch Richter im Nebel aus widersprüchlichen, unvollständigen und suggestiven Informationen verirren können" kann ich nicht unrelativiert zustimmen.

Seit 20 Jahren wissen ÖRR-Fernsehintendanten und Verwaltungsgerichte scheinbar nicht, dass das offizielle Narrativ zu 9/11 aus Funk und Fernsehen mit Lügen nur so gespickt ist, dass es durch erhebliche Anstrengungen der Zivilgesellschaft schlüssig widerlegt wurde. Am wenigsten weiß es anscheinend die im Fach Physik promovierte Kanzlerin in Berlin. Der Deutschen Bank scheint es an Finanzmitteln dafür zu fehlen, den Mord an ihrem Vorstandsprecher Alfred Herrhausen im Jahre 1989 aufzuklären und erforderlichenfalls mit von der Bank beauftragten Ermittlern dem hier offenkundig lahmenden BKA einmal auf die Sprünge zu helfen. Die für Juristen zu beachtende herrschende Meinung ist in solchen Fällen typischerweise die Meinung der Herrschenden. Gegen diesen Tenor, gegen höherinstanzliche Entscheidungen urteilend die Rechtsprechung weiter zu entwickeln erfordert eine Courage, die für die weitere Karriere in der Richterlaufbahn nicht förderlich sein muss. Die Unabhängigkeit der Richter ist in der Praxis nicht so unbegrenzt, wie es in einem Rechtsstaat der Fall sein sollte. Es muss also nicht immer am Nebel durch Informationswirrwarr liegen.

OLIVER MÄRTENS, 14. Juli 2020, 18:35 UHR

Auch wenn der Informationsnebel nicht zwingend die alleinige und/oder maßgebliche Ursache für die Beschlussfindung des Gerichtes sein muss, wäre der Vorwurf des vorsätzlichen "Nichtsehenwollens" in jedem Fall beweispflichtig, wofür man als Autor, selbst wenn der Vorwurf zutreffen sollte, nicht immer über die nötigen Belege verfügt. Die Fahrlässigkeit dagegen, als Gericht mit den verfügbaren Quellen nicht sorgfältig genug umgegangen zu sein, ergibt sich direkt aus einer Analyse der Quellen und kann ggf. einen Berufungsgrund darstellen.

Ähnlich verhält es sich mit einer Zuwendung über 2,3 Mio. Euro an ein Nachrichtenmagazin oder einer früheren Lobbytätigkeit eines Bundesministers: Hier lassen sich eindeutig potenzielle Interessenkonflikte ableiten, jedoch (noch) keine Korruption hinreichend beweisen.

Zur Ermordung von Alfred Herrhausen ist anzumerken, dass sein Tod nach mindestens einer öffentlich zugänglichen Analyse das simultane Versagen des von der Deutschen Bank beauftragten privaten Sicherheitsdienstes wie auch des LKA Hessen voraussetzte. Hätte nur ein "Sicherheitsring" versagt, hätte Herr Herrhausen demnach überlebt. Eine etwaige Untersuchung des Attentates müsste folglich das Versagen beider "Sicherheitsringe" – des privaten wie auch des staatlichen – im Detail samt seiner Ursachen und Hintergründe versuchen aufzuhellen.

Ferner könnte für etwaige Untersuchungen eine Rolle spielen, dass Herr Herrhausen aufgrund einiger Auffassungen, die er kurz vor seiner Ermordung vertreten hat, sowohl innerhalb des Deutsche Bank-Vorstandes wie auch innerhalb der internationalen Bankenwelt isoliert gewesen sein soll. Gerade diese Einstellungen wurden nach seiner Ermordung von der Deutschen Bank nicht weitergelebt oder umgesetzt. (Eine davon betraf einen sehr weitgehenden Schuldenerlass für hoch verschuldete Staaten in der südlichen Hemisphäre.)

Zu 9/11 fällt mir spontan der sicherlich interpretationsbedürftige Satz "Pandemics are the new terrorism" ein. Parallelen des Politik- und Medienverhalten zwischen beiden Themen lassen sich aber bereits ohne tiefergehende Interpretation leicht und zahlreich finden.

Vieles ist eben auch eine Beweisfrage ...

BERNHARD MÜNSTERMANN, 14. Juli 2020, 20:55 UHR

Danke für Ihre Antwort, Herr Märtens. Ich lese zwischen den Zeilen heraus, dass es keine nennenswerten Differenzen in der Einschätzung gibt. Ihre luzide Formulierung, den Fall Herrhausen 30 Jahre nach dessen Ermordung bei „etwaigen Untersuchungen“ mit Blick auf bestimmte ungeklärte Zusammenhänge unter die Lupe zu nehmen, habe ich verstanden. Ich möchte dazu ergänzen, dass nach den seinerzeitigen Meldungen die Fahrzeuge des Personenschutzes just rechtzeitig vor dem Passieren des Tatorts den Abstand zum Dienstwagen von Herrhausen so vergrößerten, dass sie den Mindestabstand ganz erheblich überschritten, den wir heute virushalber einhalten sollen. Auf diese Weise retteten sich die Personenschützer wenigstens selbst. Sich als Autor faktenbasiert auf sicherem Terrain zu bewegen ist zweifellos richtig, zwischen den Zeilen etwas durchschimmern zu lassen muss davon getrennt bleiben, was als Fakt solide nachzuweisen ist.

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