Der diskrete Charme des Kapitals
PAUL SCHREYER, 12. Oktober 2021, 4 Kommentare, PDFHinweis: Dieser Beitrag ist auch als Podcast verfügbar.
Dass Olaf Scholz sich in seiner Jugend antikapitalistisch äußerte ist bekannt und wird gelegentlich in den Medien erwähnt. Meist bleibt es bei einzelnen kurzen Zitaten, auf deren Kontext nicht weiter eingegangen wird und die Scholz als „Irrtümer, die ich hinter mir habe“, kommentierte. Gegenüber der FAZ erklärte er einmal: „Damals war das meine Überzeugung. Die war falsch. Heute habe ich durchdachtere Positionen.“ Was aber führte zu Scholz´ Gesinnungswandel?
Der 1958 geborene SPD-Politiker hatte schon vier Jahre Jura studiert, als er 1982 zum stellvertretenden Vorsitzenden der Jusos, der Jugendorganisation der SPD, gewählt wurde: ein Linker, der das System, das er kritisierte, ernst nahm und verstehen wollte. Während seiner Zeit im Juso-Vorstand, die bis 1988 dauerte, verfasste er zahlreiche Texte in der Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft, einer Publikation, die erklärte, dass sie „die Zersplitterung der Linkskräfte überwinden“ wollte und „Strategien innerhalb und außerhalb der SPD“ diskutierte um „mitzuhelfen, die linkssozialistische gesellschaftliche Analysekraft und Politikfähigkeit auf der Höhe der Zeit zu halten.“
In einem seiner ersten Texte, verfasst gemeinsam mit den Co-Autoren Jürgen Wasem und Klaus-Peter Wolf erläuterte Scholz im September 1982, unmittelbar vor dem Sturz der Regierung von Helmut Schmidt:
„Die politische Lage in der Bundesrepublik ist zur Zeit geprägt von einer ungeheuren Labilität. In diesem innenpolitischen wie außenpolitischen 'Schwebezustand' stehen auf mittlere Sicht zwei grundsätzliche Lösungsmodelle alternativ gegenüber: Zum einen eine Wende nach rechts, mit einer CDU/CSU-Regierung, die mit einschneidenden Auswirkungen auf politischer, ökonomischer und ideologischer Ebene verbunden wäre. Dies würde in letzter Konsequenz eine völlige Unterordnung unter die offensive Globalstrategie des US-Imperialismus bedeuten. Zum anderen kann ein Weg eingeschlagen werden, der eine Wende nach links beinhaltet – und sei diese Wende auch noch so klein. (…) Jungsozialisten müssen in der Diskussion mit anderen Teilen der Friedensbewegung deutlich machen, daß Aufrüstung und Kriegsgefahr notwendige Begleiterscheinungen des Imperialismus sind und daß deshalb eine dauerhafte Friedenssicherung nur möglich ist, wenn das kapitalistische Gesellschaftssystem vom Sozialismus abgelöst wird.“
In einem weiteren Text aus dem gleichen Monat, verfasst gemeinsam mit Günter Beling und Hannes Schulze, geht Scholz auf die Rolle der Grünen ein:
„Marxistische Sozialdemokraten erkennen, daß Umweltzerstörung, Kriegsgefahr, Abbau demokratischer Rechte, Arbeitslosigkeit und alle anderen Krisenerscheinungen untrennbar mit der Existenz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung verbunden sind. Eine wirksame Beseitigung aller dieser Gefahren setzt daher die Beseitigung des Kapitalismus voraus. Dies kann nur gelingen durch eine Vergesellschaftung der entscheidenden Produktionsmittel und die Beseitigung der darauf gegründeten Macht der Monopolbourgeoisie. (…)
Weil die Grünen und Alternativen Listen und Parteien nicht die Beseitigung der kapitalistischen Produktionsweise in den Mittelpunkt ihrer strategischen Überlegungen stellen, ist ihnen auch verborgen geblieben, daß die arbeitende Bevölkerung in einer kapitalistischen Gesellschaft dasjenige Subjekt darstellt, ohne das der Kapitalismus nicht beseitigt und auch Reformen nicht erkämpft werden können. (…)
Nachdem die Grün-Alternativen auf die Arbeiterklasse nicht mehr setzen wollen, fehlt natürlich den Grün-Alternativen ein gesellschaftliches Subjekt der Veränderung. Viele hoffnungsvolle junge und alte Gurus haben sich nun auf die Suche nach diesem Subjekt gemacht. Drei seien hier stellvertretend für viele genannt: Hirsch, Offe und Gorz. Einer, Gorz, hat seine Schrift programmatisch betitelt: 'Abschied vom Proletariat'. Gefunden haben sie allerlei. Gorz ist für die Nicht-Klasse der Nicht-Arbeiter. Die meisten anderen setzen auf die neuen Mittelklassen, die für die Lebensfragen, Umwelt, Frieden, neue Lebensformen sensibler seien. (…)
Wer den gesellschaftlichen Fortschritt fördern will, muß wissen, gegen wen er antritt und wer seine politischen Gegner sind. Die Grün-Alternativen setzen sich für eine Politik von unten ein. Sie haben als Gegner die 'etablierten Parteien', die 'herrschenden Parteien' ausgemacht. Unterschiede zwischen SPD, CDU und FDP sehen sie kaum. Nun sind die Parteien aber nicht schlechthin 'die da oben', gegen die eine Politik von unten sich zu richten hat. Oben sind in einer kapitalistischen Gesellschaft die Besitzer von Produktionsmitteln, die Kapitalisten. Sie sind die Herrschenden. Unten sind diejenigen, die kein Eigentum an Produktionsmitteln besitzen, die Lohnabhängigen. Es ist sicher nicht zu leugnen, daß CDU und FDP eine ganz besondere Verbindung nach 'oben' haben. (…)
Die fehlende Einsicht der Grün-Alternativen in den Charakter von Klassenkämpfen darf nicht durch die Fixierung auf parlamentarische Prozesse noch gesteigert werden. Der oben aufgezeigte Weg der Grün-Alternativen hin zu einer nur liberal-bürgerlichen Partei wäre unter einer solchen Konstellation unvermeidlich.“
Wurzeln der Sozialdemokratie
Scholz´ Denken speiste sich erkennbar aus dem marxistisch geprägten Heidelberger Programm der SPD, das mehr als 30 Jahre lang, von 1925 bis 1959, Grundsatzprogramm der Partei war und in dem es hieß:
„Das kapitalistische Monopolstreben führt zur Zusammenfassung von Industriezweigen (...) und zur Organisierung der Wirtschaft in Kartelle (...). Einzelne Kapitalistengruppen werden so zu übermächtigen Beherrschern der Wirtschaft, die nicht nur die Lohnarbeiter, sondern die ganze Gesellschaft in ihre ökonomische Abhängigkeit bringen. Mit der Zunahme seines Einflusses benutzt das Finanzkapital die Staatsmacht zur Beherrschung auswärtiger Gebiete als Absatzmärkte, Rohstoffquellen und Stätten für Kapitalanlagen. Dieses imperialistische Machtbestreben bedroht die Gesellschaft ständig mit Konflikten und mit Kriegsgefahr. (...) Das Ziel der Arbeiterklasse kann nur erreicht werden durch die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an den Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum. (…) Dank [des Finanzkapitals] wird das ganze ökonomische und politische Getriebe im Staate der Botmäßigkeit einiger weniger Finanzmagnaten unterworfen. (...) Ihre Herrschaft ist weniger beschränkt als die der noch übrigbleibenden Monarchen in Europa. (...) Diesen Monopolen gegenüber gibt es nur eine Alternative: Entweder die Gesellschaft fügt sich ihnen und lässt sich von ihnen unterjochen, oder sie bemächtigt sich ihrer. Das letztere wird eine dringende Forderung nicht bloß der von ihnen beschäftigten Arbeiter, sondern der ganzen Gesellschaft.“
Autor dieser Zeilen war der Philosoph Karl Kautsky gewesen, einer der führenden Intellektuellen seiner Zeit. Später im Kalten Krieg, geprägt von der scharfen Konfrontation zwischen der Sowjetunion und dem Westen, milderte die SPD diese Positionen ab. Zwar war im nachfolgenden Godesberger Programm, das von 1959 bis 1989 galt, unter der Überschrift „Eigentum und Macht“ immer noch davon die Rede, dass Konzernbesitzer „Herrschaftsmacht über Menschen“ ausübten und über einen politischen Einfluss verfügten, „der mit demokratischen Grundsätzen nicht vereinbar ist“. Doch stand dort auch, versöhnlicher: „Das private Eigentum an Produktionsmitteln hat Anspruch auf Schutz und Förderung, soweit es nicht den Aufbau einer gerechten Sozialordnung hindert.“
An dieser Stelle war der junge Scholz in den 1980er Jahren radikaler und näher an den marxistischen Wurzeln der SPD, als die damalige Parteiführung um Helmut Schmidt, Hans-Jochen Vogel und Hans Matthöfer. Seine Überzeugungen bekräftigte er in einem Strategiepapier, verfasst gemeinsam mit Günter Beling, das wohl als seine umfassendste und tiefgreifendste politische Analyse gelten kann. Das 15-Punkte-Papier mit dem Titel Nach dem Scheitern des „Godesberger Weges“ – Thesen zur Perspektive von marxistischen Sozialdemokraten aus der Opposition, wurde im Juni 1983 veröffentlicht, wenige Monate, nachdem die SPD mit Kanzler Schmidt durch den Bruch der sozialliberalen Koalition in die Opposition wechselte und Helmut Kohls CDU an die Regierung kam. Scholz schrieb damals:
1. Die Bundesrepublik ist die europäische Hochburg des Kapitals
Marxisten beurteilen die politischen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik nüchtern und ohne Illusionen. Die ökonomische Stellung und historische Entwicklung unseres Landes weisen es eindeutig als europäische Hochburg des Kapitals aus. So wegweisend theoretische Beiträge deutscher Sozialisten in der Vergangenheit für die Entwicklung der sozialistischen Internationale waren, so unterentwickelt ist das Klassenbewußtsein der Arbeiter im eigenen Land, so schwach sind die realen Gegenmachtpositionen der Arbeiterbewegung und so selten ihre Mobilisierungserfolge. Die verheerende Niederlage der Arbeiterparteien durch den Faschismus hat bis heute ihre Folge in der Schwäche der Arbeiterorganisationen. Ohne die Erfolge deutscher Emanzipationskämpfe schmälern zu wollen; die deutsche Geschichte weist eine weitgehend ungefährdete Herrschaft der politischen Rechten aus. Die Chance grundlegender ökonomischer und gesellschaftlicher Veränderungen nach dem Faschismus konnte nicht wahrgenommen werden. Die 13jährige Phase sozialliberaler Regierungspolitik tastete nie die gesellschaftlichen Machtverhältnisse an. Der Bürgerblock verfügt gegenwärtig über stabile Mehrheiten in der Bundesrepublik.
2. Die kapitalistische Krise forderte den Regierungswechsel
Die dauerhafte Machtübernahme der Rechtsparteien am 6. März 1983 war kein Zufall, kein Erfolg geschickter Werbestrategie, kein unerklärlicher „faux-pas“ der Wähler. In einer Situation sich erheblich verschärfender Krisentendenzen bestand im Rahmen kapitalistischer „Logik“ der ökonomische Zwang zur „Wende“. Die SPD/FDP-Regierung hatte die Aufgabe, unter Bedingungen gesicherten wirtschaftlichen Wachstums die allgemeinen politischen Rahmenbedingungen für die kapitalistische Produktion sicherzustellen und dabei gleichzeitig befriedigend auf die Lohnabhängigen einzuwirken. Im Zuge sinkender Wachstumsziffern, neuer struktureller Krisensymptome, wachsender Verteilungskämpfe und verstärkter „Überlebenskämpfe“ der Konzerne untereinander mußte eine – letztlich von Programm und sozialer Basis her den Lohnabhängigen verpflichtete – Partei wie die SPD die Regierungsbank verlassen, um rigidere Krisenlösungen zu ermöglichen. Dieser Prozeß war so reibungslos nur möglich, weil die SPD es versäumt hatte, in der Krise Bewußtsein über deren Ursachen und grundlegende Bekämpfung zu entwickeln. So war der Demagogie reaktionärer Krisenlösungskonzepte Tür und Tor geöffnet. Geschichte wiederholt sich: die Verschärfung der kapitalistischen Krise ohne entwickeltes Bewußtsein ihrer Opfer führt zur Stärkung der politischen Rechtskräfte.
3. Die SPD zahlt den Tribut für eine Politik der Sozialpartnerschaft
In keiner Phase der sozialdemokratischen Regierungsverantwortung der letzten zehn Jahre wurde von der SPD an der Entwicklung von Klassenbewußtsein gearbeitet. Vielmehr förderte die Mehrheitssozialdemokratie Illusionen in der Bevölkerung über Krisenbewältigung und Reformpolitik im Kapitalismus. – Die Partei stellte den nackten Machterhalt über jede inhaltlich bestimmte Auseinandersetzung mit Kapitalinteressen und deren schärfste politische Verfechter CDU/CSU/FDP. Außerparlamentarische Mobilisierungsarbeit wurde zum Tabu für die „staatstragende“ SPD. Die Distanz zu Forderungen der Gewerkschaften vergrößerte sich zusehends; die wichtige Friedensbewegung wurde von den Regierungsgenossen diffamiert und bekämpft, von der Parteiführung argwöhnisch beobachtet und lediglich an der Parteibasis unterstützt. Die Regierungspolitik von Helmut Schmidt bot lediglich abgemilderte Varianten der CDU-Konzepte. Sie zerstörte die Identität der SPD als Partei der Arbeitnehmer. Diese Politik war die Hauptursache des Verlustes von Regierungs- und Oppositionsfähigkeit der Sozialdemokratischen Partei.
4. Der „Godesberger Weg“ ist gescheitert
Das Ende der sozialliberalen Koalition signalisiert zugleich das Ende des Weges von Godesberg. Es hat sich für die Perspektive der Sozialdemokratie nicht ausgezahlt, als Volkspartei auf die Formulierung von Klasseninteressen zu verzichten. Die Formulierung dieser Klasseninteressen hätte ein gewaltiges gesellschaftliches Potential aktivieren können. Der Verzicht auf jede Konfrontation mit dem Kapital hat sich für die SPD verheerend ausgewirkt. Er hat das Bewußtsein der sozialen Basis der Partei, den Lohnabhängigen, schwer deformiert, er hat die eigene Parteibasis kampfunfähig gemacht und entmutigt. Die Parteirechte hat den Nachweis über die Auswirkungen ihrer Politik erbracht. Neue Antworten sind gefragt. Die Parteilinke muß grundsätzliche Alternativen entwickeln und propagieren. (…)
10. Die Linke muß offensiv werden
(…) Im Zentrum dieses linken Programms müssen Forderungen zur Beikämpfung der Arbeitslosigkeit wie staatliche Beschäftigungsprogramme in gesellschaftlich sinnvollen Bereichen (Umweltschutz, Wohnungsbau, Fernwärme, öffentlicher Personennahverkehr) und Maßnahmen der Arbeitszeitverkürzung stehen. Grundsätzlich muß aber auf die Notwendigkeit der Überwindung des Privateigentums an Produktionsmitteln als Schlüssel zu gesellschaftlich geplanter Investition, Produktion und Beschäftigung deutlich hingewiesen werden. Gleichzeitig muß das Verhältnis von Ökonomie und Ökologie sozialistisch bestimmt werden. In der Friedensfrage muß sich die Parteilinke klar an die Seite der Friedensbewegung gegen die NATO-Aufrüstung stellen. Für die anderen gesellschaftlichen Problemfelder müssen ebenso deutliche kurz- und langfristige Positionsbestimmungen vorgenommen werden. (…)
12. Die SPD muß ihre Parlamentsfixierung aufgeben
(…) In ihrer Geschichte identifizierte sich die Sozialdemokratie in ihrer Mehrheit zunehmend mit dem Staat. Sie verkannte seinen Klassencharakter, seine Funktion als im wesentlichen „kapitalistische Maschine“ (Engels), als Instrument des Kapitals zur Durchsetzung seiner Interessen. Die SPD betrachtete den Staat als neutrales, gestaltungsfähiges Gebilde, mit dem sie ohne Bruch mit dem kapitalistischen System die Gesellschaft Stück für Stück im Interesse der arbeitenden Menschen reformieren könne. (…)
15. Marxisten führen die Grundsatzdiskussion um den Kurs der SPD
Noch nie war es so zwingend für die Gesamtpartei, eine Debatte um die Orientierung, die langfristige Kursbestimmung der Sozialdemokratie zu führen. (...) Die Rechte in der SPD ist gescheitert. (…) 100 Jahre nach dem Tod von Karl Marx muß sich die gesamte Sozialdemokratie seiner Lehre erinnern. Marx ist für die SPD unentbehrlich geworden.
Mit diesen markanten Sätzen schließt das Scholz-Papier. Die komplexen theoretischen Überlegungen, die direkt auf die Wurzeln der Sozialdemokratie zurückführen, einige Jahre später als simplen „Irrtum“ abzutun, wie Scholz es tat, wirkt in diesem Zusammenhang wenig überzeugend. Der marxistische Kern seiner Analyse stand, wie geschildert, in der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg im Zentrum der Sozialdemokratie. Die sozialen Konflikte, wie sie sich im Kapitalismus der 1920er und 1930er Jahre international zeigten, sind strukturell mit den heutigen vergleichbar. Die Analysen dazu, wie sie sich im Heidelberger Programm der SPD von 1925 finden, bleiben gültig und sind auch heute noch diskussionswürdig.
Woher der Sinneswandel?
Dass Scholz sich von diesen Gedanken löste, dürfte vor allem mit dem Zusammenbruch des Kommunistischen Blocks nach 1989 zusammenhängen, der den Marxismus in der Öffentlichkeit weitgehend diskreditierte. Was auch immer ihn in dieser Zeit bewegte, Scholz´ politische Karriere nahm jedenfalls bald Fahrt auf. 2001 wurde er zum Innensenator von Hamburg ernannt, wenig später zum Generalsekretär der SPD. Damit wurde er Teil des inneren Machtzirkels um den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Auf diesem Weg gelangte er 2004 auf einen Direktoriumsposten in der Londoner Denkfabrik Policy Network, die 1999 unter anderem von Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder gegründet worden war und wo marktkonforme Sozialdemokraten zusammenkamen und sich vernetzten. Die Denkfabrik existiert noch heute und wird finanziert vom britischen Milliardär David Sainsbury. Scholz knüpfte damals Kontakte in die Welt jenseits von Hamburg und Berlin.
Nachdem er im Herbst 2009 im Ergebnis der verlorenen Bundestagswahl seinen Regierungsposten als Arbeitsminister verlor, schien seine Karriere jedoch vorerst gestoppt. Nach der Wahlniederlage hatte Scholz, abseits des Vizevorsitzes der SPD, kein Amt mehr inne und blieb einfacher Abgeordneter im Bundestag.
Scholz bei den Bilderbergern
In dieser Situation meldeten sich die Organisatoren der berühmten Bilderberg-Konferenz und luden ihn ein zum jährlich stattfindenden Treffen dieses vertraulichen internationalen Clubs der Konzernbosse. Scholz wurde offiziell in seiner Funktion als Vize-Chef der SPD eingeladen. Doch Vizechefs gibt es in der SPD mehrere. Neben Scholz hatten zu dieser Zeit Hannelore Kraft, Klaus Wowereit und Manuela Schwesig den gleichen Titel. Die Bilderberger wollten aber nicht mit Schwesig, Kraft oder Wowereit sprechen und auch nicht mit dem Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel – sondern eben mit Scholz. Warum? Er bekleidete in dieser Zeit, wie gesagt, kein öffentliches Amt und verfügte über kaum nennenswerten politischen Gestaltungsspielraum. Was machte Scholz in den Augen einer Riege internationaler Konzernführer und Politstrategen so interessant, dass sie persönlich an einem abgelegenen Ort ohne Öffentlichkeit mit ihm sprechen wollten?
Scholz nahm die Einladung der Mächtigen an und reiste, auf Kosten der SPD, im Juni 2010 für einige Tage in ein Edelhotel an der spanischen Mittelmeerküste, wo er eine Top-Elite von mehr als 100 internationalen Führungskräften traf, vor allem Vorstandsvorsitzende großer multinationaler Unternehmen, ergänzt um wenige, handverlesene Politiker.
Anwesend waren unter anderem Deutsche Bank-Chef Josef Ackermann, Ex-US-Außenminister Henry Kissinger, der neokonservative Pentagon-Berater Richard Perle, Google-Chef Eric Schmidt, Milliardär Bill Gates, der ehemalige Goldman Sachs-Chef und Ex-US-Finanzminister Robert Rubin, der Vorsitzende von Goldman Sachs, Peter Sutherland sowie ein gutes Dutzend weitere Großbanker. Was Scholz mit den Herren (Frauen waren kaum anwesend) besprach, blieb vertraulich, wie stets bei den Bilderberg-Konferenzen.
Neuer Karriereschub
Im gleichen Jahr wurde Scholz politisch wieder aktiv und visierte das nächste politische Ziel an, den Bürgermeisterposten in seiner Heimatstadt Hamburg, laut Wirtschaftswoche „Deutschlands Reichenhauptstadt“. Zu der Zeit regierte dort eine schwarz-grüne Koalition, die Scholz ab 2010 hinter den Kulissen zu torpedieren begann. So schrieb die Süddeutsche Zeitung:
„Der SPD-Mann überlässt nichts dem Zufall. (…) Angefangen hatte er lange bevor die Grünen im Herbst [2010] die Koalition mit der CDU brachen und die Neuwahlen am 20. Februar erzwangen. Scholz hatte auf den Koalitionsbruch hingearbeitet, die Grünen getriezt und gelockt.“
Nach der gewonnenen Wahl 2011 half Scholz als Bürgermeister ansässigen Banken und deren Eigentümern, wo er konnte. Den Bürgermeisterposten nutzte er außerdem als Sprungbrett zurück in die Bundespolitik, wo er 2018 schließlich als Finanzminister und Vizekanzler zum zweitmächtigsten Politiker hinter Bundeskanzlerin Angela Merkel aufstieg. Im Finanzministerium installierte er den Deutschlandchef von Goldman Sachs, Jörg Kukies, als Staatssekretär, zuständig für Finanzmarktregulierung.
Scholz und Kukies engagierten sich 2019 gemeinsam für eine Fusion von Deutscher Bank und Commerzbank. Die Süddeutsche Zeitung kommentierte dazu:
„Es ist eine Schande, was Scholz da macht (…) Es wäre nicht nur gegen alle Versprechen nach der Finanzkrise, sich nie wieder abhängig zu machen von Bankern, es wäre vor allem selbst verschuldet: Niemand, wirklich niemand hat diese Handvoll Männer in Regierung und Finanzszene auf diesen Weg gezwungen, wenn nicht sie selbst in Gestaltungswahn, Großmannssucht und Selbstüberschätzung.“
Auf dem Weg ins Kanzleramt
Ein Jahr später, im Sommer 2020, wurde Scholz zum Kanzlerkandidaten der SPD, wirkte zunächst jedoch chancenlos. Die Partei dümpelte in Umfragen bei 15 Prozent, weit abgeschlagen als dritte Kraft hinter CDU und Grünen. Dass Scholz Kanzler werden würde, schien ausgeschlossen. Auch ein Jahr später, Mitte Juli 2021, lag die SPD noch immer bei 15 Prozent, die CDU hingegen bei fast 30 Prozent.
Das Blatt wendete sich überraschend im August 2021, nur wenige Wochen vor der Wahl, als die SPD innerhalb kürzester Zeit die CDU in den Umfragen überflügelte. Für den rasanten Beliebtheitsschub ließen sich kaum rationale Gründe finden, einzig ein seltsamer Medienhype über einen angeblich „würdelos lachenden Laschet“ im Flutgebiet Ahrtal Mitte Juli. Dieser vermeintliche „Skandal“ trug offenbar entscheidend zu Laschets Absturz auf den letzten Metern bei. Dieser Absturz wiederum wurde dann von Leitmedien wie dem Hamburger Spiegel Anfang September massenwirksam in Szene gesetzt: Laschet, der Verlierer.
Der Spiegel war es auch, der schon am Tag nach der Wahl – mit ihrem unklaren und viele Optionen ermöglichenden Ergebnis – nach einer selbst beauftragten Umfrage titelte: „Zwei Drittel der Deutschen wollen Scholz als Bundeskanzler“. Auf dem Cover der Ausgabe vom 2. Oktober wurden die Hamburger Meinungsmacher noch deutlicher: Unter einem Portraitfoto des Politikers und der Frage „Werden Sie Kanzler, Herr Scholz?“ prangte auf dem Umschlag ein fettgedrucktes „Ja“. Die Überschrift des begleitenden Interviews war ein Scholz-Zitat: „Ich will die Welt ein Stück besser machen“.
Lob von oben
Es scheint, als ob der Spiegel mit diesem Einsatz für Scholz aber lediglich einen Trend aufgriff, der anderswo gestartet worden war. Schon vor der Bundestagswahl hatten Scholz´ Sympathisanten und Unterstützer aus dem internationalen Finanzsektor in dessen Zentralorgan, dem britischen Economist, klargestellt, dass man für Deutschland eine Ampelkoalition unter Scholz „bevorzugen“ würde:
„Herr Scholz ist ein effektiver Finanzminister gewesen. Die deutsche Bevölkerung vertraut ihm. Er ist besser als ein CDU-Kanzler in der Lage, mit den Grünen beim Klimawandel zusammenzuarbeiten. Das Problem ist, dass er zwar dem wirtschaftsfreundlichen Flügel seiner Partei angehört, die SPD aber voll von Linken ist. Sie könnten versuchen, ihn weiter in ihre Richtung zu ziehen, als es die Freien Demokraten tragen und die Unternehmen verkraften können.“
Die Furcht des internationalen Finanzsektors vor den Linken in der SPD scheint etwas übertrieben. Sie sind heute nur noch der Schatten einer Vergangenheit, die längst als überholt entsorgt wurde. Niemand verkörpert diese Wende so eindrücklich wie Olaf Scholz. Und so liegt Ironie darin, dass ausgerechnet diejenigen seiner Gedanken, von denen er sich heute vollständig distanziert, die gegenwärtige Situation vielleicht am klarsten beschreiben: „Der Verzicht auf jede Konfrontation mit dem Kapital hat sich für die SPD verheerend ausgewirkt.“
Die Partei ist derweil schon einen Schritt weiter und inzwischen sogar stolz darauf, vom Finanzsektor gelobt zu werden. Die ersten drei Sätze der oben genannten Einschätzung des Economist verbreiteten der SPD-Parteivorstand und Olaf Scholz persönlich kurz vor der Wahl auf Twitter. Man fühlt sich akzeptiert von den Mächtigen und nimmt ihre Anerkennung als Ausweis der eigenen Kompetenz. Der Irrtum könnte nicht größer sein.
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