Der Journalist als Staatsfeind
PAUL SCHREYER, 22. Januar 2020, 6 Kommentare, PDFHinweis: Dieser Beitrag ist auch als Podcast verfügbar.
Dass Assange Journalismus betreibt, wird zugleich von vielen bestritten, zuallererst vom US-Justizministerium, das im Mai 2019 klarstellte: „Assange ist kein Journalist“. Diese Beurteilung ist aus Sicht der Regierung zwingend, da man schlecht die eigene Pressefreiheit feiern und zugleich die Inhaftierung eines Reporters gutheißen kann.
Der Einschätzung haben sich inzwischen aber auch viele Medienschaffende angeschlossen. Ein prominentes Beispiel ist das angesehene „Committee to Protect Journalists“ (CPJ), eine Organisation, die sich seit vielen Jahrzehnten für Pressefreiheit und inhaftierte Journalisten einsetzt. Im Dezember 2019 veröffentlichte sie einen ausführlichen Report, der 250 Journalisten namentlich aufführt, die überall auf der Welt aus politischen Gründen inhaftiert werden. Assanges Name fehlt.
Robert Mahoney, ein erfahrener amerikanischer Reporter und CPJ-Vizechef, hatte sich zwar in einem Kommentar für Assanges Freiheit eingesetzt, erklärte aber zugleich:
„Nach umfassenden Recherchen und Überlegungen hat sich das CPJ entschlossen, Assange nicht als Journalisten einzuordnen, zum Teil, da seine Rolle oft die einer Quelle war, und weil WikiLeaks allgemein nicht wie ein Nachrichtenportal mit einem redaktionellen Ablauf arbeitet.“
CPJ-Chef Joel Simon äußerte sich ähnlich. Es gebe eine „legitime Debatte, ob Assange als Journalist bezeichnet werden kann“. Niemand aber bezweifle, dass er „eine Quelle“ sei und daher zu schützen. Diese Behauptung erscheint unsinnig. Assange ist kein Whistleblower, niemand, der wie Edward Snowden persönlich in einer Firma oder einer Behörde geheimes Wissen über Missstände erlangt hat und dieses öffentlich machen will. Assange ist selbst keine Quelle, sondern, wie ein Journalist, jemand, der Informationen von Whistleblowern veröffentlicht.
Ähnlich fragwürdig ist das Argument, WikiLeaks betreibe keinen Journalismus, da die Organisation keinen „redaktionellen Ablauf“ („editorial process“) habe, und „nicht wie ein Nachrichtenportal“ arbeite. Das Wesen von Nachrichtenportalen besteht offenkundig nicht in bestimmten redaktionellen Gepflogenheiten sondern in der Veröffentlichung relevanter Neuigkeiten – was niemand WikiLeaks absprechen kann.
Die Einteilung in Journalisten auf der einen und Assange auf der anderen Seite wirkt wie ein rhetorischer Kniff, der es ermöglicht, sich von WikiLeaks zu distanzieren und zugleich als Verteidiger der Pressefreiheit aufzutreten – eine Position, die vielen Journalisten offenbar zweckmäßig erscheint. In ihrer Logik ist Assange „keiner von uns“, wird zwar zu Unrecht verfolgt, aber eben nur insoweit, wie auch Snowden, Manning und andere Whistleblower verfolgt werden. Diese Perspektive verträgt sich eher mit der Sichtweise von Regierungen, als der weitaus härtere und konfliktträchtigere Vorwurf, mit Assange werde ein unbequemer Vertreter der Presse vor Gericht gestellt.
Das CPJ ist Teil des Medienmainstreams und unterhält enge Verbindungen zu den großen Medienhäusern, die die Organisation auch finanziell unterstützen. Schon als die CPJ-Führung 2010 in einem Brief an Präsident Obama die Regierung vor einer Anklage des WikiLeaks-Chefs warnte, distanzierte man sich im selben Atemzug von der Person Assange, dessen „Motive und Ziele“ man sich „nicht zu eigen“ mache.
Doch ob man Assange nun mag oder nicht – seine komplizierte und widersprüchliche Persönlichkeit bietet durchaus Anlass zu letzterem –, er ist es, der stellvertretend für eine kritische Presse angegriffen wird. Man kann ihn für einen guten oder schlechten Journalisten halten, man kann seine politischen Vorstellungen teilen oder bekämpfen – aber er bleibt in dem, was er und WikiLeaks tun, ein Teil der Presse.
Ähnlichen Sinnes betont auch der Reporter Glenn Greenwald, dass die Einteilung in Journalisten und Nicht-Journalisten der Regierung und deren Angriff auf die Verfassung in die Hände spiele:
„Die Pressefreiheit betrifft alle, nicht bloß eine ausgewählte, privilegierte Gruppe von Bürgern, die ,Journalisten‘ genannt werden. Wenn Ankläger selbst entscheiden können, wer unter den Schutz der Presse fällt und wer nicht, dann schrumpft die Pressefreiheit zur Freiheit einer kleinen, abgeschlossenen Priesterklasse privilegierter Bürger, die von der Regierung zu Journalisten ernannt werden.“
Greenwald erinnert an eine höchstrichterliche Einschätzung zum Ersten Verfassungszusatz, der in den USA die Pressefreiheit festschreibt. So hatte 1978 der damalige Oberste Richter der USA, Warren Burger, in einem Essay betont:
„Kurz gesagt, der Erste Verfassungszusatz ,gehört‘ zu keiner definierbaren Kategorie von Personen oder Einrichtungen: Er betrifft alle, die seine Freiheiten nutzen.“
Historisch gesehen steht das Wort „Pressefreiheit“ dafür, dass Regierungen nicht die Verbreitung von Informationen behindern dürfen, egal ob die Nachrichten mittels einer Druckerpresse oder über das Internet publiziert werden. Es geht dabei nicht um eine Personengruppe („die Presse“), sondern um die Möglichkeit der unbeschränkten Verbreitung von Informationen. Wenn erst eine staatliche Autorität entscheiden darf, wer durch die Pressefreiheit geschützt ist, dann ist keine unabhängige Kontrolle der Regierung möglich, und damit auch keine funktionierende Demokratie.
Hat Assange Trump unterstützt?
Dennoch verspüren viele Beobachter, die diese Gefahr durchaus sehen, zugleich großes Unbehagen in Zusammenhang mit WikiLeaks. Hat Assange mit der Veröffentlichung der E-Mails von Hillary Clintons Stab im Wahlkampf 2016 nicht eindeutig Partei für Donald Trump ergriffen und damit deutlich gemacht, selbst eine dubiose politische Agenda zu verfolgen? Sind seine Enthüllungen über Clinton nicht bloß ein persönlicher Rachefeldzug gegen die Obama-Regierung gewesen, nachdem diese seine juristische Verfolgung gestartet hatte?
Diese Einwände mögen auf den ersten Blick einleuchten, werfen aber tiefergehende Fragen auf. Denn hätte Assange die Informationen über Clintons offenkundig korruptes Politnetzwerk nicht veröffentlicht (unter anderem zeigen die Leaks, wie unter Obama Ministerposten nach Wünschen von Wall-Street-Bankern verteilt wurden), dann hätte er damit natürlich ebenfalls die Wahl beeinflusst, nur eben in anderer Richtung, zugunsten Clintons.
Nach welchem moralischem Standard aber soll es richtig sein, Korruption und unmoralisches Verhalten einzelner Politiker zu decken? Relevant für eine Veröffentlichung sind aus journalistischer Sicht allein die Wahrheit und die öffentliche Bedeutung des Berichteten. Die von WikiLeaks enthüllten E-Mails waren zweifellos bedeutsam und offenkundig auch authentisch. Mit welchem Recht – und welchem Ziel – sollte dieses Wissen den Wählern vorenthalten werden? Welches Bild von Demokratie und der Möglichkeit einer fairen Meinungsbildung drückt sich in einem solchen Wunsch aus?
Der Guardian schrieb 2016, dass die E-Mails „ein Fenster in die Seele“ der Demokratischen Partei Clintons seien, „in die Träume und Gedanken derjenigen Klasse, der die Partei sich verpflichtet hat“ – und das sei gerade nicht die abgehängte und wütende Unter- oder Mittelschicht, sondern eine ganz andere Gruppe:
„Für diese Klasse sind die Optionen immer recht angenehm. Sie sind die komfortable und gebildete Hauptstütze unserer modernen Demokratischen Partei. Sie sind auch die Fürsten unserer Medien, die Architekten unserer Software, die Planer unserer Straßen, die hohen Beamten unseres Banksystems, die Autoren von so ziemlich jedem Plan zur Reform der Rentenversicherung oder zur Feinsteuerung des Nahen Ostens mit Präzisionsdrohnen. Sie sind, so glauben sie, gar keine Klasse, sondern die Erleuchteten, diejenigen, auf die man zu hören hat, die sich aber nie selbst zu rechtfertigen brauchen.“
Wie diese abgehobene Klasse das politische Geschehen lenkt, vor allem das haben die Leaks schwarz auf weiß der Öffentlichkeit gezeigt.
WikiLeaks als Entwicklungsschritt zur Demokratie
Assange hat, bei all seinen Fehlern und Alleingängen, etwas geschaffen, das es so in der Geschichte noch nie gab: WikiLeaks ist eine globale Sammelstelle für Informationen, die mächtige Interessengruppen, Regierungen oder Konzerne gern geheim halten möchten – zum Schaden der Öffentlichkeit. Bevor es diese Instanz gab, mussten Whistleblower einen vertrauenswürdigen Journalisten finden und darauf hoffen, dass es diesem nicht nur gelingt, die brisanten Informationen schnell bekannt zu machen, sondern auch, die Identität des Whistleblowers dauerhaft zu schützen.
Die etablierten Medien scheitern immer wieder an diesen beiden Aufgaben. Whistleblower werden enttarnt oder, wie Bradley Manning Anfang 2010, von den großen Redaktionen erst gar nicht ernst genommen und abgewiesen. Daher ist die Weitergabe von politisch brisanten Geheimnissen an diese Medien stets mit einem erheblichen persönlichen Risiko verbunden.
WikiLeaks hat dieses Risiko verringert. Das 2006 gestartete Internetportal funktioniert als Mittler und Anonymisierungsdienst zwischen Hinweisgebern und Öffentlichkeit. Dieses Verfahren hat mehrere große Vorteile für die Allgemeinheit. Durch das verringerte Risiko für den Whistleblower wird die Wahrscheinlichkeit der Veröffentlichung von Misständen, illegalem oder unmoralischem Verhalten erhöht. Auch können Medien nach der Veröffentlichung nicht zur Preisgabe der Quelle erpresst werden, da sie diese selbst nicht kennen. Weiterhin finden brisante Informationen von vornherein ein größeres, internationales Publikum – und können außerdem nicht durch etwaige Kontakte der Chefredaktion zur Regierung in letzter Sekunde doch noch unter den Teppich gekehrt werden.
So gelang es etwa der US-Regierung 2004, durch vertrauliche Verhandlungen mit der New York Times die Enthüllung der NSA-Überwachung amerikanischer Bürger über viele Monate, bis nach der Präsidentschaftswahl, hinauszuzögern. Der Reporter James Risen konnte sich gegenüber seinen Vorgesetzten nicht damit durchsetzen, den Bericht vor der Wahl zu veröffentlichen. Der damalige NSA-Chef Michael Hayden lobte später ausdrücklich den vertrauensvollen Austausch mit Philip Taubman, dem Washingtoner Büroleiter der New York Times, der „die Ernsthaftigkeit der Frage verstanden“ hätte. Solche Mauscheleien der Medien durchkreuzt WikiLeaks.
Der direkte und anonyme Weg an die Öffentlichkeit ist wesentlich, um Korruption und Unmoral in Staaten und Konzernen zu begrenzen. Das durch WikiLeaks verkörperte Organisationsprinzip ist damit ein logischer Schritt in der Entwicklung von Gesellschaften, in denen Entscheidungsträger der Öffentlichkeit rechenschaftspflichtig sein sollen – also in der Entwicklung hin zu Demokratien. Wer das WikiLeaks-Prinzip bekämpft oder sich weigert, seine Unterstützer zu verteidigen, der hat offenkundig kein Interesse an einer solchen Entwicklung. Das ist die eigentliche Botschaft der politischen und juristischen Verfolgung von Julian Assange, die im April 2019 in seiner Inhaftierung in einem britischen Hochsicherheitsgefängnis mündete.
Grenzenloses Recht im amerikanischen Imperium
Die Anklage der US-Regierung beruft sich auf das Spionagegesetz, das den Verrat militärischer Geheimnisse unter Strafe stellt. Dieses Gesetz wurde 1917, kurz nach dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg, beschlossen. Es richtete sich ursprünglich gegen deutsche Saboteure in Amerika und Bürger, die, so der damalige Präsident Woodrow Wilson, „das Gift der Untreue“ verbreiteten und „die Autorität und das Ansehen der Regierung in Verruf“ brächten.
Die Regierung wandte es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts häufig gegen Sozialisten, Kriegsgegner und politische Dissidenten an. In jüngerer Zeit, unter den Präsidenten Obama und Trump, zielten die Ermittlungen meist auf Whistleblower, die illegale Aktivitäten der Regierung aufgedeckt hatten. Zur aktuellen Anklage erläutert das US-Justizministerium: „Assanges Handlungen riskierten ernsthaften Schaden für die nationale Sicherheit der USA, zum Nutzen unserer Gegner“.
Dabei ist Assange australischer Staatsbürger und außerhalb der USA selbstverständlich nicht an amerikanische Gesetze gebunden. Die gesamte Anklage beruht daher auf der stillschweigenden, juristisch absurden Annahme, amerikanisches Recht gelte auch außerhalb der USA. Mit der gleichen Logik könnten amerikanische Staatsanwälte einen chinesischen Journalisten anklagen, der in einer Pekinger Zeitung amerikanische Staatsgeheimnisse aufgedeckt hat und dessen Auslieferung nach Washington verlangen. Eine seltsame Vorstellung, die selbst in den USA niemand in die Realität umsetzen würde.
Das Beispiel zeigt daher gut die eigentliche Logik hinter der Strafverfolgung Assanges: Die USA beanspruchen einen informellen Rechtsrahmen, der die Landesgrenzen überschreitet und praktisch den Geltungsbereich des amerikanischen Imperiums umfasst. Anders gesagt: Australier, Europäer und überhaupt Bürger von Staaten, die den USA tributpflichtig oder anderweitig von ihnen abhängig sind, sollen sich politisch an Amerikas roten Linien ausrichten, oder laufen Gefahr, bestraft zu werden. Das ist die Logik des Imperiums, der sich viele bereitwillig unterwerfen.
So hatte die damalige australische Premierministerin Julia Gillard 2010, auf dem Höhepunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit für WikiLeaks, erklärt, Assange handele „illegal“, eine Behauptung, die sie zurückziehen musste, nachdem man ihr erklärt hatte, dass Assange mit seinen Enthüllungen kein australisches Gesetz gebrochen hatte. Doch Gillard, selbst Anwältin, hatte mit ihrer Formulierung bloß intuitiv erfasst, dass Australien als informeller Teil des amerikanischen Imperiums genau das als illegal zu begreifen hat, was Washington so benennt.
Ein weiteres Beispiel für diese Logik sind die von den USA im Dezember 2019 verhängten Sanktionen gegen Firmen, die am Bau der deutsch-russischen Gaspipeline „Nord Stream 2“ beteiligt sind. Rechtlich geht es die USA nichts an, wenn zwei Länder beschließen, eine Pipeline zu bauen. Da das Projekt aber Deutschland betrifft und damit im informellen Geltungsbereich des amerikanischen Imperiums liegt, verstehen sich die USA als ermächtigt zu Strafmaßnahmen.
Der Fall Assange liegt grundsätzlich ähnlich. Neu ist, dass der Angriff des Imperiums sich nicht mehr nur gegen ungehorsame Untertanen, missliebige Regierungen oder Firmen richtet, sondern ganz offen gegen die internationale Presse. Selbst Barack Obama, der als US-Präsident mehrere Whistleblower, die Regierungsunrecht aufgedeckt hatten, mit Hilfe des Spionagegesetzes anklagen ließ, hatte davor zurückgescheut, die Medien dafür anzugreifen, dass sie unbequeme Geheimnisse veröffentlichten. Dieses Tabu ist nun gefallen. Kritische Journalisten, die staatliches Unrecht aufdecken, können ab jetzt zu Staatsfeinden erklärt und so behandelt werden, wie feindliche Spione im Krieg.
Schweigende Journalisten in der Bundespressekonferenz
Proteste gegen diesen Angriff auf die Pressefreiheit sind kaum zu vernehmen. Unmittelbar nach der Festnahme von Assange in der equadorianischen Botschaft im April 2019 erklärte die deutsche Bundesregierung auf Nachfrage, nicht zuständig zu sein („das betrifft nicht deutsches Regierungshandeln“). Die britische Justiz würde „selbstverständlich rechtsstaatlich entscheiden“.
Verhaltene Kritik kam von der russischen Regierung. Man „hoffe“, so ein Kreml-Sprecher nach der Festnahme, dass Assanges Rechte „respektiert werden“. Auf die Frage, ob Russland dem WikiLeaks-Chef Asyl gewähren würde, ging er nicht ein, ergänzte lediglich: „Aus unserer Sicht entspricht dies in keiner Weise den Idealen der Freiheit und Unverletzlichkeit der Medien.“
Die Medien in Deutschland reagieren zurückhaltend. Solidaritätsbekundungen bleiben selten und werden meist durch Distanzierungen eingeschränkt. Tenor: Assange sei zu weit gegangen. Dem ehemaligen SPIEGEL-Auslandschefs und heutigen PR-Berater Gerhard Spörl zufolge ist der inhaftierte WikiLeaks-Gründer ein verantwortungsloser Egomane, der leichtfertig alles veröffentlichte, was ihm in die Hände fiel und daher „Ansehen verspielt“ habe. Ähnlich staatstragend gibt sich die ZEIT, die bemängelt, dass Assange „Grenzen überschritten“ habe und bloß ein Journalist „sein will“. Den britischen und amerikanischen Gerichten hingegen solle man keine politische Agenda unterstellen, denn dies sei „Misstrauen in die Funktionsfähigkeit der Justiz, das keinem Journalisten gut steht“.
So ähnlich sehen es viele in der Presse. In einer funktionierenden Gesellschaft müsste ein Portal wie WikiLeaks eigentlich von allen Medien gemeinsam betrieben oder zumindest geschützt werden. Doch derzeit passiert eher das Gegenteil: Medien ducken sich weg oder greifen Assange sogar an. Vor allem aber schweigen sie.
Im Oktober hatte der UN-Sonderbeauftragte für Folter, Nils Melzer, von seinem Besuch bei Assange im Londoner Gefängnis berichtet, wo er im Beisein von Ärzten Symptome psychologischer Folter dokumentiert hatte. Dies wurde auch mehrfach in der Bundespressekonferenz thematisiert, allerdings ausschließlich von Florian Warweg, einem Journalisten des deutschen Ablegers des staatlichen russischen Senders RT. Dieser fragte über Wochen hinweg immer wieder nach, wie die Bundesregierung zu den Erkenntnissen des UN-Experten stehe und was sie zu unternehmen gedenke.
Die Regierungssprecher versuchten das Thema so gut wie möglich zu umschiffen. Am 16.10. hieß es in einer Antwort, man habe dazu „keine eigenen Erkenntnisse“, am 21.10., man werde sich das „anschauen“, am 15.11., man „kenne den Bericht leider nicht“, am 25.11. man habe „vollstes Vertrauen in die britische Justiz“, am 2.12. schließlich, es gebe gar keinen Bericht, sondern bloß Pressemitteilungen des UN-Beauftragten, am 23.12. wiederum, man habe sich zum Fall bereits „ausführlich geäußert“.
Bei keiner dieser Gelegenheiten gab es laut der Protokolle der Bundespressekonferenz irgendeine Nachfrage von Vertretern des öffentlich-rechtlichen Rundfunks oder anderer Journalisten der Leitmedien. Sie waren zwar anwesend, aber niemand meldete sich, um die Phrasen der Regierung, abwechselnd vorgetragen von deren Sprechern Steffen Seibert, Maria Adebahr, Christofer Burger und Rainer Breul, kritisch zu hinterfragen. Die zuhörenden Journalisten blieben passiv – und gingen geräuschlos zur Tagesordnung über.
Ich wandte mich an mehrere Reporter von den Hauptstadtstudios der ARD und des ZDF, die an einigen der Pressekonferenzen teilgenommen hatten, und fragte, wie sie die Inhaftierung von Julian Assange mit Blick auf die Pressefreiheit bewerten würden. Die Korrespondenten der ARD reagierten mit Schweigen. Nick Leifert vom ZDF antwortete, zwar am 15. November dabei gewesen zu sein, als die UN-Foltervorwürfe im Fall Assange angesprochen worden waren, dazu aber keine Nachfragen gehabt zu haben. Das Thema wäre zu diesem Zeitpunkt auch schon vier Wochen alt gewesen.
Zur Frage, wie er die Inhaftierung von Assange insgesamt bewerte, meinte Leifert, er kenne sich mit dem Fall nicht aus, der gehöre auch nicht in sein Ressort. In gewisser Weise spiegelte der ZDF-Hauptstadtkorrespondent damit die Reaktion der Bundesregierung: Wir sind nicht zuständig. Leifert, selbst viele Jahre im Vorstand der Bundespressekonferenz tätig, betonte, man solle den realen Medienalltag nicht unterschätzen:
„Wenn die anwesenden Redakteure mit Kenntnis ihrer Redaktionssitzungen wissen, dass das an dem Tag kein Thema in ihren jeweiligen Sendungen/Printmedien sein wird, dann haben sie auch keinen zwingenden Grund, dazu Fragen zu stellen.“
Das trifft wohl zu. Allerdings verschiebt diese Beobachtung das Problem nur auf die nächsthöhere Ebene: Warum machen denn die Redaktionen und ihre Leitungen Assange nicht zum Thema?
„Lohnt es sich, diese Frage zu stellen?“
In der Bundespressekonferenz ist man nicht immer so zurückhaltend. Kritisches Nachhaken gehört dort durchaus zum Alltag. Allerdings verfügen die Kollegen allem Anschein nach über ein feines Sensorium für rote Linien, Opportunität und Pragmatismus. Anders gesagt: Sie wissen, was sich nicht lohnt. Befragt, wann eine Wortmeldung eines Journalisten dumm sei, hatte Maria Adebahr, Sprecherin des Auswärtigen Amtes, es einmal so formuliert:
„Es gibt Fragen, von denen Sie, glaube ich, wissen, wie die Antwort ausfallen wird. Das sind Fragen, bei denen man sich natürlich fragen kann und sollte: Lohnt es sich, diese Frage hier in diesem Moment zu stellen?“
Die Sprecherin machte damit klar, dass die Pressekonferenzen eigentlich Inszenierungen sind. Jeder, ob nun oben auf dem Podium oder unten im Publikum, hat seine Rolle zu spielen und weiß das auch. Wer negativ auffällt, läuft Gefahr, ersetzt zu werden. Einzelne „Paradiesvögel“ wie Tilo Jung toleriert man, doch im Grunde wissen alle Teilnehmer „was sich gehört“ und was nicht. Ein Journalist der staatlich finanzierten Deutschen Welle, und regelmäßiger Gast der Bundespressekonferenz, sagte einmal, man müsse die Regierung doch „nicht unbedingt vorführen“.
Kritik an der Regierung ist dennoch möglich und wird auch praktiziert, allerdings meist dann, wenn dies den Interessen einer höherstehenden Macht – etwa den USA – dient. So wurde zum Beispiel in der Bundespressekonferenz vom 25. November 2019 energisch nachgehakt, warum die Bundesregierung sich nicht stärker für die Einhaltung der Menschenrechte in China einsetzen würde. Mehr als zehn Minuten wurde das Thema diskutiert, verschiedenste Journalisten kooperierten, stellten nacheinander kritische Fragen und brachten die Regierungssprecher damit in die Defensive. Kritischer Journalismus live. Aber alle Beteiligten wissen eben auch: Kritik an China ist Mainstream, dafür bekommt niemand Ärger oder läuft Gefahr, isoliert zu werden.
Als eine halbe Stunde später in derselben Pressekonferenz nach der Haltung zu Assange und dessen Folterung gefragt wurde, blieben die gleichen Kollegen stumm – und zwar alle. Niemand sprang dem Reporter von RT Deutsch zur Seite, als die Sprecherin des Auswärtigen Amtes ihm gelangweilt antwortete, man habe „vollstes Vertrauen in die britische Justiz, dass sie diesen Fall unabhängig und rechtsstaatlich mit allen Facetten, die sich dort ergeben, bearbeitet“.
Am folgenden Tag wurde der UN-Sonderbeaufragte Nils Melzer im Auswärtigen Amt empfangen. Man teilte ihm dort umstandslos mit, seine beunruhigenden Berichte zu Assange und dessen Foltersymptomen erst gar nicht gelesen zu haben. Bei einer öffentlichen Anhörung im Bundestag am 27. November schilderte Melzer dies und stellte klar, worum es seiner Ansicht nach bei diesem Fall geht:
„Es geht um den Rechtsstaat, es geht um die Demokratie, es geht darum, dass wir es uns nicht leisten können, dass Staatsmacht unüberwacht bleibt. Deshalb haben wir Gewaltenteilung. Wenn die Gewaltenteilung nicht mehr funktioniert, dann brauchen wir die Presse, und wenn die Presse nicht mehr funktioniert, dann kommt eben WikiLeaks mit diesen Enthüllungen. Es geht um staatspolitische Grundelemente – und die müssen geschützt werden.“
Allerdings ist weit und breit kaum jemand zu sehen, der die Absicht hat, diese Grundelemente zu schützen. Sie werden vor aller Augen zerlegt, und Journalisten mutieren dabei entweder zu geräuschlosen Mitläufern – oder zu Staatsfeinden. Die Gruppe dazwischen, für die einmal der Begriff „vierte Gewalt“ stand, radikale und eigenständige Kritiker, die von der Gesellschaft geschätzt und unterstützt, zumindest aber akzeptiert werden – jedenfalls nicht pauschal diffamiert oder ausgegrenzt –, diese Gruppe ist in Auflösung begriffen. Scharfe und grundsätzliche Kritik wird von den Etablierten nicht länger als lebensnotwendig angesehen, sondern als lebensgefährlich. Eine Gesellschaft aber, die sich in dieser Weise verschließt und nicht mehr zu reflektieren vermag, verliert ihre Entwicklungsfähigkeit. Sie verfällt.
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