Das Zelt der Wandergruppe, wie die Suchmannschaften es am 26. Februar 1959 vorfanden. | Bild: dyatlovpass.com

Opfer des Kalten Krieges

Anfang Februar 1959 kamen alle neun Mitglieder einer Ski-Wandergruppe im Ural zu Tode. Was der Gruppe unter Leitung des Studenten Igor Djatlow zustieß, ist bis heute nicht aufgeklärt. Der Fall sticht durch mehrere Auffälligkeiten hervor: Die Teilnehmer starben spärlich bekleidet im Schneetreiben, teilweise barfuß und weit entfernt von ihrem großflächig aufgeschnittenen Zelt, einige Kleidungsstücke waren radioaktiv verstrahlt. Damalige sowjetische Ermittlungen wurden schnell beendet. Viele Hinweise legen nahe: Die Wanderer wurden Opfer des Kalten Kriegs. Unklar bleibt, von welcher Seite die Täter stammten.

STEFAN KORINTH, 16. März 2021, 1 Kommentar

In Russland hat der Fall inzwischen legendären Status. Die vielen offenen Fragen der Katastrophe laden seit Jahrzehnten zu Spekulationen ein und haben zahlreiche Erklärungsversuche hervorgebracht. Im Jahr 2019 nahmen sogar die zuständigen Behörden in Jekaterinburg die Ermittlungen wieder auf. Auch in anderen Ländern fasziniert das Rätsel um die Djatlow-Gruppe viele Menschen. Reihenweise Bücher wurden zum Thema geschrieben, Filme und TV-Serien gedreht. Regelmäßig machen sich Fernsehteams und Privatforscher in die abgelegene Unglücksregion auf, um die damaligen Geschehnisse zu rekonstruieren.

Rückblende: Am 23. Januar 1959 startete eine zehnköpfige Gruppe um den 23-jährigen Funktechnikstudenten Igor Djatlow aus der Großstadt Swerdlowsk – so hieß Jekaterinburg in Sowjetzeiten – zu einer Skiwandertour im nördlichen Ural. Per Zug, Bus und anschließend per Anhalter auf der Ladefläche eines LKW fuhr die Gruppe zu einer Waldarbeitersiedlung. Von dort begann am 27. Januar ihre Skiwanderung. Beim Zwischenstopp in einer verlassenen Bergwerkssiedlung verschlechterte sich der Gesundheitszustand des 21-jährigen Studenten Juri Judin, der an Rheuma litt. Er musste die Tour am 28. Januar abbrechen und machte sich auf den Rückweg. Judin wurde so zum einzigen Überlebenden des Ausflugs.

Als Ziel hatte sich die Gruppe gesetzt, zwischen dem 12. und 14. Februar die Siedlung Wischai zu erreichen. Bis dahin wollten die Teilnehmer per Ski rund 350 Kilometer zurücklegen und dabei zwei rund 1000 Meter hohe Berggipfel bezwingen. Es handelte sich um eine Skitour des dritten und höchsten Schwierigkeitsgrades in der Sowjetunion. Von Wischai aus wollte sich Igor Djatlow schließlich per Telegramm bei der Wanderabteilung des Sportklubs seiner Universität melden – dem Polytechnischen Institut des Ural (UPI) in Swerdlowsk. Doch dieses Telegramm kam nie.

Suchmannschaften entdecken die Leichen

Ab dem 17. Februar machten Eltern der vermissten Studenten Druck bei der Universität und beim örtlichen Komitee der Kommunistischen Partei. Da die konkrete Route der Djatlow-Gruppe unbekannt war, konnte nicht sofort eine Suchaktion eingeleitet werden. Erst ab dem 21. Februar begaben sich freiwillige studentische Skiwanderer, die zum großen Teil selbst gerade von solchen Touren zurückgekehrt waren, auf den Weg in die Unglücksregion. Die Gebietsverwaltung schickte per Hubschrauber Soldaten mit Hunden und Funkgeräten sowie Bergführer zur Rettung aus, auch Einheimische vom Volk der Mansen wurden angeworben. Die einzelnen Suchmannschaften steuerten verschiedene Punkte auf der rekonstruierten Route an.

Am 26. Februar entdeckten zwei Studenten am Hang eines windumtosten Berges namens Cholat Sjachl das teilweise eingefallene und verschneite Zelt der Gruppe, in dem sich viele Kleidungsstücke sowie große Teile der Ausrüstung befanden. Darunter auch Fotoapparate und das Wandertagebuch der Gruppe – dessen letzter Eintrag vom 31. Januar stammte.

Bereits am 27. Februar wurden die Leichen von vier Vermissten gefunden. Zwei Männer lagen spärlich bekleidet neben den Überresten eines Lagerfeuers unter einer Zeder 1,5 Kilometer vom Zelt entfernt im Wald am Fuße des Berges. Am selben Tag entdeckte man auch die Leichen des Gruppenleiters Igor Djatlow und der Studentin Sina Kolmogorowa mehrere hundert Meter voneinander entfernt auf direkter Linie zwischen Zeder und Zelt. Am 5. März fanden die Rettungskräfte ebenfalls auf dieser gedachten Linie die Leiche von Rustem Slobodin unterm Schnee.

Das im Wandertagebuch erwähnte Vorratslager der Gruppe entdeckten die Suchmannschaften Ende März im Wald – es war völlig unberührt. Die fehlenden vier Personen wurden erst Anfang Mai tot in einem kleinen Schmelzwasserbach in einer Bodensenke etwa 60 Meter von der Zeder entfernt unter einer meterdicken Schneeschicht gefunden. Sie hatten teils abnormale Verletzungen: Zweien fehlten die Augen, einer Leiche die Zunge – ohne dass Tiere oder Schmelzwasser dafür verantwortlich sein konnten. Alle neun Gruppenmitglieder waren in der Nacht vom 1. auf den 2. Februar 1959 gestorben. Bis heute ist unklar, was konkret geschehen ist.

Erfahren, diszipliniert, belastbar

Der Tod der Skiwanderer kam völlig unerwartet. Selbst als das leere Zelt entdeckt war, seien die Suchtrupps guter Dinge gewesen, die Teilnehmer lebend zu finden, schreibt Aleksej Rakitin. Der russische Autor, der auf die kriminalistische Lösung historischer Mordfälle spezialisiert ist und unter Pseudonym arbeitet, hat ein detailliertes Buch über die Vorfälle am „Djatlow-Pass“ geschrieben, das ins Deutsche übersetzt wurde. (1) Die Skiwanderer der Djatlow-Gruppe seien hochmotiviert, gesund und vielseitig begabt gewesen.

Trotz ihres jungen Alters waren die Studenten erfahrene Skiwanderer, die bei vorangegangenen Wanderungen in der Taiga auch bereits auf wilde Tiere gestoßen waren, erläutert Rakitin. Sie waren diszipliniert, belastbar und psychisch stabil. Sina Kolmogorowa beispielsweise wurde auf einer früheren Tour von einer Giftschlange gebissen und doch zog sie diese Wanderung unter Schmerzen bis zum Ende durch. Die zweite Frau der Djatlow-Gruppe, die 20-jährige Ludmilla Dubinina, war auf einer Wanderung 1957 bei einem Jagdunfall angeschossen worden, auch sie ertrug die Schmerzen tapfer und beklagte lediglich, dass sie eine Last für ihre Mitwanderer sei.

Der älteste Teilnehmer, der 37-jährige Semjon Solotarjow, hatte vier Jahre lang als Soldat der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg gekämpft und den Krieg ohne Verletzungen überlebt. Dass der Tod der neun Wanderer aus amateurhaftem, unvernünftigem Verhalten resultierte, sei auszuschließen, unterstreicht Rakitin.

Der vorzeitig abgereiste Wanderer Juri Judin erklärte später immer wieder, dass es keine zwischenmenschlichen Probleme in der Gruppe gegeben habe, keine Konflikte, keine verdächtigen Momente. Alle hätten sich vertraut. Solotarjow sei ihnen zwar größtenteils unbekannt, aber trotzdem gut integriert gewesen. Das Schicksal und das Verhalten der neun Skiwanderer vor ihrem Tod blieb ein Rätsel.

Warum hatten sie das Zelt an diesem ungeschützten Ort aufgestellt? Warum war es von innen zerschnitten worden? Warum verließen die neun Teilnehmer das Zelt bei zweistelligen Minusgraden größtenteils ohne Schuhe, ohne Mützen, ohne Jacken? Warum ließen sie Messer, Äxte und Nahrung zurück? Warum gingen sie nicht zu dem Vorratslager, das sie tags zuvor im Wald angelegt hatten? Warum trennten sich die Gruppenmitglieder später? Wer fügte ihnen die zahlreichen, sehr unterschiedlichen Verletzungen zu?

Viele Fehler bei der Spurensicherung

Die Angehörigen und viele weitere Menschen in Swerdlowsk waren tief bestürzt über den Tod der jungen Menschen. Es gab eine große Begräbnisprozession mit hunderten Teilnehmern zum Michailowskoje-Friedhof in Swerdlowsk. Aufschluss erhofften sich alle durch die Ermittlungen. Immerhin war Staatsanwalt Wassili Tempalow aus der nächstgelegenen Stadt Iwdel bereits am 27. Februar per Hubschrauber am Cholat Sjachl eingetroffen, am 1. März war der Staatsanwalt für Strafsachen Lew Iwanow aus Swerdlowsk dazugekommen. Er übernahm die Leitung der Ermittlungen.

Die Fußspuren der Gruppe waren vom kräftigen eisigen Wind auf dem Hang konserviert worden. Alle Leichen wurden kurz nach ihrem Auffinden zur Obduktion ausgeflogen. Zudem waren sechs Filme in den Fotoapparaten der Wanderer gefunden worden, die in Swerdlowsk entwickelt wurden. Alles in allem also keine schlechten Bedingungen für eine Rekonstruktion und Aufklärung der Geschehnisse.

Jedoch unterliefen sowohl den Ermittlern als auch den Suchmannschaften viele Fehler, kritisiert Aleksej Rakitin. Die Staatsanwälte hätten keine forensisch brauchbaren Fotos am Tatort gemacht. In ihren Protokollen hätten sie viele wichtige Details nicht notiert. Die erhalten gebliebenen Fußabdrücke seien „völlig ungenügend“ dokumentiert worden, schreibt Rakitin. Von einem Stiefelabdruck, der nicht zur Djatlow-Gruppe gehören kann, gebe es beispielsweise nur ein Bild. Lage und Anzahl der Beweisstücke im Zelt wurden genauso wenig vom Staatsanwalt festgehalten wie etwa die Herkunft einer Harnspur im Schnee neben dem Zelt. So bleibt unklar, ob diese von einem der Retter stammte oder ob sie vorher schon da war.

Viele Fragen zu diesem Tatort konnten höchstens noch anhand der Aussagen und Erinnerungen der Rettungsmannschaft rekonstruiert werden, die sich teilweise widersprachen. Andere Beweise sind durch die unprofessionelle Spurensicherung für immer verloren. Entscheidend ist dies, da alles, was in der Todesnacht geschah, am Zelt seinen Anfang nahm. Rakitin bezweifelt, dass die Staatsanwälte hier etwas vertuschen wollten. Sie hätten es einfach nicht besser gekonnt.

Vorsichtige Autopsiebefunde

Mindestens zwiespältig ist jedoch das Urteil über die gerichtsmedizinischen Untersuchungen. Trotz der teilweise extremen Verletzungen kamen die beteiligten Fachleute zu auffällig zurückhaltenden Einschätzungen. Die ersten vier Leichen wurden zeitnah von zwei Pathologen untersucht. Bei allen vier diagnostizierten die Mediziner Unterkühlung (Hypothermie) als Todesursache, obwohl keiner in der Position eines frierenden Menschen aufgefunden worden war. Einer der Toten wies ein Lungenödem und ein anderer eine große Brandwunde am Bein auf. Einzig bei der Leiche von Sina Kolmogorowa fügten die Mediziner hinzu, dass der Kältetod als Folge eines „gewaltsamen Unfalls“ eingetreten sei.

Beim fünften Toten (Rustem Slobodin), der ein paar Tage nach den anderen gefunden und nur noch von einem Pathologen obduziert worden war, entdeckte der Gerichtsmediziner neben vielen Schürfwunden und Schwellungen im Gesicht ein Schädeltrauma, das von einer „stumpfen Waffe verursacht“ worden sei. Letztendliche Todesursache sei auch hier Erfrieren gewesen, notierte er.

Die vier zuletzt gefundenen Körper wiesen noch heftigere Verletzungen auf. Ludmilla Dubinina hatte zehn gebrochene Rippen, einen Bluterguss im Herzen und ein Lungenödem, ihre Augäpfel fehlten, genauso wie Zunge und Mundboden. Viele Verletzungen erklärte der Pathologe gar nicht erst. Den Tod der Studentin führte er auf die „Einwirkung einer großen Kraft mit anschließendem Sturz, Niederwurf oder Schlag“ gegen den Brustkorb zurück.

Sehr ähnliche Verletzungen wies Semjon Solotarjow auf: gebrochene Rippen, Lungenödem, fehlende Augäpfel. Bei dem Kriegsveteranen diagnostizierte der Experte einen gewaltsamen Tod. Ebenso wie beim jungen französisch-stämmigen Bauingenieur Nikolai Thibeaux-Brignolle, dessen Leiche schwere Schädelverletzungen und eine Hirnblutung aufwies. Der vierte in der kleinen Schlucht gefundene Tote, Alexander Kolewatow, hatte eine offene Wunde hinter dem Ohr, eine gebrochene Nase und einen „deformierten Hals“. Trotzdem meinte der Gerichtsmediziner, der junge Mann sei an Unterkühlung gestorben.

„Jemand muss über sie hergefallen sein“

Der Moskauer Gerichtsmediziner Eduard Tumanow, der sich in heutiger Zeit mit den Autopsiebefunden beschäftigt hat, kann die insgesamt sechs Kältetod-Diagnosen nicht bestätigen. In dieser Dokumentation des russischen Senders NTV aus dem Jahr 2020 sagt Tumanow, sein Swerdlowsker Kollege hätte diese Diagnose damals gar nicht aufstellen können, da sich die Leichen wochen- beziehungsweise monatelang nach ihrem Tode bereits in einem zu weit fortgeschrittenen Transformationsprozess befunden hätten.

Tumanow, der an der Nationalen Medizinischen Pirogow-Universität in Moskau lehrt, schließt aus den Befunden vielmehr, dass alle Skiwanderer durch körperliche Gewalt getötet wurden. Zum einen gebe es an mehreren Körpern eindeutige Kampfspuren. Djatlow und Slobodin beispielsweise hätten beide Blutergüsse und Abschürfungen an den Fäusten gehabt, die charakteristisch für Schlägereien seien und nicht etwa durch Stürze auf gefrorenen Boden erklärt werden könnten, sagt der Forensik-Professor. Bei Djatlow wurde außerdem eine 0,1 Zentimeter tiefe längliche Wunde auf der Innenfläche seiner linken Hand festgestellt, die laut dem Gerichtsmediziner darauf hindeutet, dass der Gruppenleiter versucht hatte, ein Messer an der Klinge festzuhalten.

Zum anderen stammten mehrere schwere Verletzungen mit Sicherheit von Schlägen mit verschiedenen stumpfen Gegenständen. Auch ließen sich Folterspuren an einigen Toten finden, ergänzt Tumanow. Die Art der Brandverletzung an einem Bein von Georgi Kriwonischtschenko zeigt, dass sie ihm stehend über Minuten hinweg zugefügt worden sein muss. Wahrscheinlich in dem Lagerfeuer, neben dem seine Leiche gefunden wurde. Selbst in stark unterkühltem Zustand zögen Menschen ihre Gliedmaßen reflexartig aus dem Feuer, erläutert der Mediziner. Der junge Mann müsse demnach durch andere Personen in diese extrem schmerzhafte Position gezwungen worden sein.

„Zusammenfassend kann man sagen, dass jemand über sie hergefallen sein muss“, resümiert Tumanow. Auch der Autor Aleksej Rakitin ist dieser Ansicht. Er schreibt, die Wanderer wurden höchstwahrscheinlich heftig verprügelt – und das bereits am Zelt. Jeder Einzelne habe entsprechende nicht lebensgefährliche Verletzungen wie gebrochene Nasen, starke Striemen auf der Haut oder Abwehrverletzungen gehabt. Die tödlichen Verletzungen können aber (mit der Ausnahme Rustems Slobodins) erst im Wald unten am Hang zugefügt worden sein, denn die Wanderer hätten mit Rippenbrüchen und Schädelfrakturen nicht die 1,5 Kilometer lange Strecke bis ins Tal zurücklegen können.

Eine der vielen Fragen zum Fall lautet also: Warum war der verantwortliche Gerichtsmediziner namens Boris Wosroschdjonny 1959 nicht in der Lage, diese belegten, klaren Schlussfolgerungen zu ziehen? Es wirke, als habe der Experte zumindest bei den ersten Leichen unbedingt die Todesursache Hypothermie angeben wollen, egal welche Verletzungen er dort fand und noch hätte finden können, sagt der Moskauer Forensikprofessor Tumanow. Möglicherweise habe jemand dem Pathologen dies damals so vorgegeben.

Selbst Jahrzehnte später sei der Swerdlowsker Gerichtsmediziner nicht bereit gewesen, über den Fall zu sprechen, wird in dieser Dokumentation erklärt. Sogar als seine Frau und bei einer anderen Gelegenheit seine Kollegen ihn in den 1980er Jahren fragten, habe Wosroschdjonny abwehrend die Arme gehoben und gesagt, er werde diese Frage nicht beantworten und wolle davon nichts mehr hören.

Verstrahlte Kleidungsstücke

Auch das kriminalistische Ermittlungsverfahren verlief 1959 immer dubioser. Staatsanwalt Lew Iwanow gab nach dem Auffinden der letzten Leichen im Mai plötzlich eine radiologische Untersuchung von deren Kleidung in Auftrag – eine Analyse, die man bei Wanderern, die in einem menschenleeren Gebiet erfroren oder zu Tode gestürzt sein sollen, eher nicht erwarten würde. Aus den öffentlich bekannten Fakten vom Tatort lässt sich jedenfalls keine objektive Notwendigkeit für eine Untersuchung auf Radioaktivität ableiten. Buchautor Rakitin schlussfolgert, entweder habe es solche Indikatoren doch gegeben oder die radiologische Untersuchung sei von einem Vorgesetzten (mit Vorwissen) angeordnet worden.

Die Untersuchung in einem Labor in Swerdlowsk ergab, dass drei Kleidungsstücke punktuell radioaktiv kontaminiert waren – zwei Pullover und eine Hose, die an den Körpern von Dubinina und Kolewatow gefunden worden waren. Jeweils eine strahlende Fläche von 55 bis 75 Quadratzentimetern wurde an den drei Textilien lokalisiert. Keine der Leichen selbst wies erhöhte Strahlungswerte auf, auch nicht die Bodenproben vom Fundort. Das Labor fand zudem heraus, dass die entsprechenden Stellen auf der Kleidung durch Beta-Strahlung von hoher Reinheit kontaminiert wurden.

Die Kleidungsstücke mussten gezielt mit radioaktivem Staub markiert worden sein, meint Rakitin. Sowohl das alleinige Vorkommen von Betastrahlung als auch ihre Reinheit schlössen einen anderen Ursprung der Strahlung aus. Dass Sowjetbürger in den 1950er Jahren in bestimmten Regionen zufällig mit radioaktiver Strahlung in Berührung kamen, war zwar grundsätzlich möglich – etwa durch in Flüsse geleitete radioaktive Abwässer, den Fallout von Atomwaffentests oder durch Unfälle in geschlossenen Anlagen. (2) 1957 waren beispielsweise große Mengen Radioaktivität bei einer Explosion in der geheimen kerntechnischen Anlage „Majak“ ausgetreten und hatten eine Fläche von 10 mal 112 Kilometern östlich des Ural verseucht.

Doch wäre eine dieser Möglichkeiten die Ursache für die verstrahlten Textilien der toten Wanderer gewesen, wäre die Strahlung entweder diffus auf vielen Kleidungsstücken sowie in den Körpern und im Boden gefunden und/oder es wäre eine Mischung aus verschiedenen Strahlungsarten (Alpha-, Beta-, Gammastrahlung) nachgewiesen worden, argumentiert Rakitin. Die Kleidung sei nicht zufällig verseucht und nicht aus Versehen zur Wanderung mitgebracht worden.

Nach radiologischer Analyse wird die Akte geschlossen

Spätestens dieses Gutachten musste den sowjetischen Geheimdienst KGB auf den Plan rufen, denn Radioaktivität war damals in der Hochphase des Kalten Kriegs noch mehr als heute eine streng geheime Angelegenheit der nationalen Sicherheit in Russland. Die gezielte Kontamination der Kleidung mit reiner Betastrahlung (vermutlich Strontium-90-Isotope) konnte nur in einer militärischen oder rüstungstechnischen Einrichtung geschehen sein.

Die Mitführung radioaktiv strahlender Objekte aus solchen geschlossenen Anlagen war streng verboten und wurde von KGB und Militär mit aller Macht unterbunden. Denn die Strahlung ließ Rückschlüsse auf militärische Entwicklungen der Sowjetunion zu, an denen westliche Geheimdienste großes Interesse hatten.

Dem leitenden Staatsanwalt Lew Iwanow lag die brisante radiologische Analyse am 27. Mai 1959 vor. Tags darauf schloss er den Fall. Als finales Ermittlungsergebnis teilte er mit, dass es keine Zeichen eines Kampfes an den Leichen gegeben habe und dass „eine überwältigende Kraft, der die Wanderer nicht standhalten konnten“, für den Tod der jungen Leute verantwortlich sei.

In seiner Verfügung erwähnte der Staatsanwalt das radiologische Gutachten zwar zuerst, doch wurde diese Passage durch seinen Vorgesetzten, den Gebietsstaatsanwalt Nikolai Klinow komplett gestrichen und für geheim erklärt. Das Dokument wurde als „nicht sachdienlich“ aus der Ermittlungsakte entfernt und im Auftrag Klinows als streng geheime Verschlusssache im Spezialreferat der Gebietsstaatsanwaltschaft weggeschlossen. Erst mit dem Ende der Sowjetunion rund 30 Jahre später wurde die Existenz des radiologischen Gutachtens bekannt.

Ende der Sowjetunion bringt neue Informationen ans Licht

In dieser Phase der neuen Offenheit, die man in der Sowjetunion Glasnost nannte, schrieb der inzwischen pensionierte Staatsanwalt Iwanow 1990 einen Zeitungsartikel, in welchem er den Djatlow-Fall aus seiner Sicht schilderte. 1959 habe ihm der Erste Sekretär des Swerdlowsker Parteikomitees (Andrej Kirilenko) den Befehl gegeben, alle Ermittlungen geheim zu halten und die Todesursache Hypothermie festgelegt, erklärte Iwanow in dem Text (englische Übersetzung Seite 3, links unten). Beachtlicherweise sei sogar der sowjetische Regierungschef Nikita Chruschtschow über den Fall der Djatlow-Gruppe informiert worden.

Das Betreten der Unglücksregion wurde 1959 für drei Jahre behördlich verboten. Es ist naheliegend, dass die Ermittlungen und weitere Maßnahmen auf Weisung Moskaus im Geheimen durch den KGB weitergeführt wurden. Dies alles lässt darauf schließen, dass den jungen Wanderern in der Nacht vom 1. auf den 2. Februar etwas mehr als nur ein tragisches Natur-Unglück zugestoßen war.

Weitere Dokumente, die erst spät bekannt wurden, deuten zudem darauf hin, dass die sowjetischen Sicherheitsbehörden schon viel früher in die Sache involviert gewesen waren. Sogar schon zu einem Zeitpunkt, als sonst noch niemand etwas von einem Unglück ahnte. Inzwischen sind fünf Dokumente im Zusammenhang mit den Ermittlungen im Djatlow-Fall bekannt, die in die erste Februarhälfte 1959 datiert sind. Also in eine Phase, als die jungen Skiwanderer bereits tot waren, aber noch nicht vermisst wurden.

Daten, die nicht passen

Erstaunlicherweise gehört dazu auch die staatsanwaltliche Akte des Falles. Sie trägt das Anfangsdatum 6. Februar 1959. Dieses Datum taucht dort mehrfach klar und deutlich sichtbar auf. 2019 hielt der Staatsanwalt diese Akten in die Kamera. Zur Erinnerung: Die Djatlow-Gruppe war frühestens am 12. Februar zurückerwartet worden. Am 17. Februar fragten besorgte Eltern in der Universität nach und erst am 27. Februar wurden die ersten Leichen gefunden. Trotzdem ist auf dem Aktendeckel und in der Akte selbst bereits am 6. Februar vom Tod der Wandergruppe die Rede.

Der Autor Aleksej Rakitin thematisiert in seinem Buch das Vernehmungsprotokoll eines Forstarbeiters aus der Akte – auch hier das Datum 6. Februar 1959. Die Zeitung Komsomolskaja Prawda entdeckte im Zentralarchiv des russischen Verteidigungsministeriums zwei Marschbefehle für eine Pionier-Einheit der Armee, die zur Suche nach den Leichen auf den Bergpass geschickt wird – Datum der Befehle jeweils 14. Februar 1959. Viele weitere Akten des Militärbezirks Ural aus dieser Zeit liegen dort, aber seien weiterhin geheim, schreiben die Autoren.

Ein Privatforscher entdeckte zudem ein Memo, das der beteiligte Staatsanwalt Tempalow aus der Kleinstadt Iwdel am 15. Februar 1959 an seinen Stellvertreter schrieb. Darin informierte er ihn, dass er für zwei bis drei Tage nach Swerdlowsk fahre, um dem stellvertretenden Staatsanwalt der Russischen Föderativen Sowjetrepublik (Leonid Urakow) über den Tod der Wanderer zu berichten. Auch hier kann es sich nicht um einen Flüchtigkeitsfehler beim Datum handeln. Es taucht mehrmals im Schreiben auf (Schreibweise russisch: 15.II.59 г.).

Vielfalt von Erklärungsansätzen

Die Umbruchszeit ab 1990 ließ auch die gesellschaftliche Aufmerksamkeit in Russland für den Fall massiv anwachsen. Viele Beteiligte wie Iwanow trauten sich nun öffentlich Einschätzungen zu dem Thema abzugeben. Auch Angehörige der Todesopfer intensivierten ihre Aufklärungsbestrebungen und teilten persönliche Vermutungen zu den Geschehnissen mit.

Geradezu folgerichtig entwickelten zahlreiche Privatforscher verschiedene Hypothesen darüber, was zum Tod der Djatlow-Gruppe geführt haben könnte – während sich die russischen Behörden mit neuen Ermittlungen bis 2019 zurückhielten. Die existierenden Erklärungsansätze lassen sich grob in drei Kategorien unterteilen: natürliche Ursachen, paranormale Phänomene und kriminelle Täter. Manche Ansätze mischen auch zwei solcher Ursachen zusammen.

In diesem Artikel soll die Vielfalt der Erklärungsansätze nicht beleuchtet werden – dies ist etwa auf der englischsprachigen Website von Teodora Hadjiyska dargestellt. Die bulgarische Webdesignerin und Bergsteigerin, die in Österreich lebt, befasst sich mit dem Fall der Djatlow-Gruppe seit 2012 und hat alle bekannten Dokumente des Falles ins Englische übersetzt. Sie hat auch an einer TV-Dokumentation des Discovery Channel zu diesem Fall mitgewirkt. Zudem veröffentlichte Hadjiyska gemeinsam mit dem Nuklearphysiker Igor Pawlow Ende Januar 2021 ein eigenes Buch, in dem sie ihre Theorie vorstellt, die einen Unfall und behördliche Vertuschung kombiniert. (3)

Neue Ermittlungen der Staatsanwaltschaft

2019 hatte schließlich auch die Generalstaatsanwaltschaft im zuständigen Föderationskreis Ural den Fall wiedereröffnet. Doch der stellvertretende Leiter, Andrei Kurjakow, schloss kriminelle Hintergründe trotz dringender Appelle der Stiftung „Gedenkstätte der Djatlow-Gruppe“ von Beginn an aus. Auch jegliche Verschleierung durch sowjetische Behörden sei ausgeschlossen, sagte er.

Ermittler begaben sich im März 2019 zum Tatort und untersuchten die Möglichkeit dreier natürlicher Ursachen: Lawine, Schneebrett und Wirbelsturm. Im Juli 2020 erklärte Kurjakow in Jekaterinburg, der Fall sei nun abgeschlossen, die jungen Wanderer seien 1959 durch zwei Lawinen tödlich verletzt beziehungsweise in den Kältetod getrieben worden.

Demnach habe sie eine erste Lawine erschreckt und aus dem Zelt getrieben. Woraufhin sie sich richtigerweise rund 50 Meter seitlich in Richtung eines schützenden Felsens bewegt hätten. Von dort aus hätten sie aufgrund der schlechten Sicht das Zelt nicht mehr wiedergefunden. Daraufhin hätten sie sich 1,5 Kilometer hangabwärts begeben, um ein Feuer anzuzünden.

Im Wald habe sich die Gruppe geteilt. Drei Personen, darunter Djatlow, hätten versucht, wieder zum Zelt zurückzugehen, seien aber auf dem Weg erfroren. Vier andere hätten sich in die kleine Schlucht aufgemacht, um eine Auflage aus Holz zu bauen, hätten dabei aber eine weitere Lawine ausgelöst, die alle vier begraben habe. Zwei weitere seien beim Feuer erfroren. So die Version der heutigen Staatsanwaltschaft.

Opferangehörige und Aktivisten der Stiftung „Gedenkstätte der Djatlow-Gruppe“ widersprechen den behördlichen Schlussfolgerungen. Die Rettungsmannschaften fanden 1959 keine Lawinenspuren auf dem Hang, zudem sei dieser zu flach für Lawinen. Das Zelt und die Skistöcke der Wanderer standen bei ihrer Entdeckung und waren eben nicht vom Schnee umgerissen und begraben. Auch die einheimischen Mansen sagten, dieser Berg sei kein Lawinengebiet. Zudem gebe es viele logische Probleme in der Darstellung des Staatsanwalts.

Dasselbe gilt für die Schneebrett-Theorie die zuletzt von Forschern Schweizer Universitäten wieder ins Spiel gebracht wurde. Diese Theorie ist allerdings nichts Neues und wird in Russland seit dem Buch von Jewgeni Bujanow und Boris Slobzow (2012) diskutiert.

Ohne menschliche Täter ist vieles nicht erklärbar

Die Inkonsistenzen solcher natürlicher Erklärungen belegen einmal mehr, dass letztlich kein fortgeschrittener Erklärungsansatz ohne kriminelle menschliche Einflussnahme auskommt. Die vielen Besonderheiten des Falles lassen sich sonst nicht zusammenhängend erklären. Allein die verschleiernde Einflussnahme auf die Ermittlungen durch höhere sowjetische Stellen legen menschliche Verantwortung für den Tod der neun Wanderer nahe.

Dass zwischen dem 1. Februar und dem Auffinden des Zeltes durch Suchgruppen am 26. Februar andere Menschen am Tatort gewesen waren, ist mehrfach belegt. Bereits erwähnt wurde der Stiefelabdruck auf dem Hang. Des Weiteren sind nur fünf Fotoapparate gefunden worden, obwohl jeder der Wanderer laut ihrem vorzeitig abgereisten Freund Juri Judin einen Fotoapparat dabeihatte. Viele der Tour-Fotos zeigen verschiedene Studenten mit den Kameras deutlich sichtbar um den Hals – etwa hier links Dubinina, deren Apparat nicht gefunden wurde. Autor Aleksej Rakitin stellt in seinem Buch die belegte These auf, dass mindestens zwei Fotoapparate einer bestimmten Marke nicht mehr auftauchten, da die Täter sie mitnahmen, um Beweismittel zu vernichten.

Ein weiteres Indiz für die Anwesenheit von Fremden im Zelt ist ein mit einem Messer angeschnittener Skistock. Da die Wanderer keine Ersatzstöcke dabei hatten, kam dieser Zerstörungsversuch einer schwerwiegenden Sabotage gleich. Das Zurückfallen eines Wanderers, weil er nur noch einen Stock nutzen kann, hätte die ganze Gruppe betroffen. Ebenso erklärungsbedürftig ist eine volle Feldflasche Alkohol, die die Suchtrupps im Zelt fanden. Laut Juri Judin, der als Sanitäter der Gruppe im Vorfeld der Wanderung vergeblich versucht hatte, medizinischen Alkohol in Swerdlowsk zu bekommen, hatte die Gruppe keinen Alkohol dabei.

Die Körperhaltung einiger Leichen, die vielen aufgeknöpften Hemdtaschen sowie die Leichenflecken, die nicht zur Lage mancher der Toten passten, legen nahe, dass sie kurz nach ihrem Tod umgedreht und durchsucht worden waren. Der stärkste Hinweis für menschliche Täter ist jedoch das Verhalten der Wanderer vor ihrem Tod. Sich bei tiefen Minustemperaturen derart zu entkleiden, sich anderthalb Kilometer von Zelt und Ausrüstung zu entfernen, dann aber nicht das nahe Vorratslager aufzusuchen und sich anschließend schwere Verletzungen durch stumpfe Gegenstände zuzuziehen, kann in seiner Gesamtheit nicht ohne die Einwirkung anderer Menschen erklärt werden.

Die Zahl der Verdächtigen schrumpft

Wer sich auf kriminelle Theorien zur Erklärung dieses Falls fokussiert, hat es immer noch mit verschiedenen potenziellen Tätergruppen zu tun: unter anderem einheimische Mansen, illegale Goldschürfer und entflohene Gulag-Sträflinge. Es ist jedoch schwierig, ein ausreichend starkes Motiv für diese Tätergruppen zu konstruieren, das zu neunfachem Mord und Totschlag führt.

Dazu kommt ein überzeugendes Gegenargument: Alle wertvollen Dinge der Djatlow-Gruppe blieben am Tatort zurück. Das gesamte Geld, die Nahrung, der Alkohol, die wärmende Kleidung, Messer, Äxte, Ski und weitere Ausrüstungsgegenstände – viele Dinge, die Menschen in der unwirtlichen Taiga sehr gut gebrauchen können. Tatsächlich fehlten aber nur einige Fotoapparate.

Die Ermittler des Jahres 1959 hatten bereits Jäger vom Volk der Mansen unter Verdacht und verhörten einige von ihnen intensiv. Doch fanden sie keinen Hinweis auf deren Beteiligung. Auch entflohene Häftlinge wurden als potenzielle Täter bald ausgeschlossen. Aus den regionalen Straflagern des Gulag-Systems habe es in der Zeit vor dem Tod der Wandergruppe keine Ausbrüche gegeben.

Die verschleiernden Aktivitäten von Justizbehörden, Militär und KGB in diesem Fall lenken das Licht letztlich auf andere Akteure. Denn die weiter oben beschriebenen Vertuschungen mit Vorwissen werfen zwei entscheidende Fragen auf: Welches Motiv hatten die Behörden für diese Eingriffe? Und: Wie und warum konnten sie bereits am 6. Februar 1959 vom Tod der Wandergruppe wissen? Berücksichtigt man zudem die künstliche radioaktive Kontamination einiger Kleidungsstücke, bleiben nur zwei Akteure als mögliche Täter übrig: sowjetische Sicherheitskräfte oder westliche Agenten.

Opfer eines sowjetischen Militärtests?

Zahlreiche russische Privatforscher und Opferangehörige haben Täter aus den Reihen des KGB oder der sowjetischen Truppen in Verdacht. Die häufigste Vermutung geht dahin, dass die Wanderer zufällige Opfer oder Zeugen eines militärischen Tests in dieser abgelegenen Region wurden. Juri Kunzewitsch, Leiter der Stiftung Gedenkstätte der Djatlow-Gruppe, spricht beispielsweise von einem „technogenen Unfall“. Der Überlebende Juri Judin äußerte sich ähnlich.

Die Wanderer seien demzufolge durch die nahe Explosion einer Rakete in Todespanik aus ihrem Zelt geflohen. Auch Giftgas könne eine Erklärung hierfür bieten. Einige Verletzungen ließen sich durch Druckwellen von Explosionen erklären. Die Wanderer könnten in Folge der Waffenwirkung erblindet sein und irrational gehandelt haben. Falls die jungen Wanderer nicht an der Wirkung der Waffe oder der Kälte gestorben seien, so habe sie ein schnell eingetroffenes sowjetisches Spezialkommando hingerichtet und die Behörden hätten diese Vorfälle anschließend vertuscht, so die Kernpunkte mehrerer Hypothesen.

Einzelne Verhaltensweisen der Opfer und mehrere Details am Tatort können mit derartigen Hypothesen zwar erklärt werden, doch wurden keine Spuren solcher Explosionen am Tatort gefunden. Radioaktive Strahlung wäre wie bereits erwähnt in ganz anderer Art und Verteilung festgestellt worden. Die sowjetischen Testgebiete und Raketenflugbahnen seien heute alle bekannt und lägen nicht in diesem Gebiet. Spezialeinheiten, wie heute, gab es damals in der Sowjetunion nicht. Kritiker erklären, es habe auch gar keine Notwendigkeit für Soldaten gegeben, per Hubschrauber den Raketen zu folgen und in der menschenleeren Taiga aufzuräumen.

Viele Gegner der Hypothese betonen zudem, eine Hinrichtung der harmlosen Studenten wäre völlig übertrieben und irrational gewesen. Durch Schweigeverpflichtungen und Drohungen hätten KGB oder Armee die Wanderer problemlos ruhiggestellt. Eine tatsächliche Hinrichtung hätte in der Sowjetunion der 1950er Jahre auch keiner nachträglichen Inszenierung bedurft.

Grell leuchtende Kugeln

Nahrung erhalten die Militär-Hypothesen jedoch durch die gut belegte Tatsache, dass Menschen in dutzenden Kilometern Entfernung in der Nacht vom 1. auf den 2. Februar „Feuerbälle“ oder „grell leuchtende Kugeln“ minutenlang am Himmel und teilweise donnerartige Geräusche aus Richtung der Region um den Tatort wahrnahmen. Eine weitere Merkwürdigkeit des Falles.

So berichtete ein Swerdlowsker Staatsanwalt (Jewgeni Okischew), von der Zeugenaussage eines Soldaten und dessen Frau in Iwdel, die in dieser Nacht ein helles rotes Leuchten am Himmel über der entsprechenden Region beobachtet hatten. Das Aussageprotokoll habe bei der Wiederentdeckung der Akte Anfang der 1990er Jahre jedoch gefehlt. Auch Teilnehmer zweier studentischer Wandergruppen, die ebenfalls in der Region unterwegs gewesen waren, berichteten Angehörigen (siehe hier Seite 3) und Ermittlern 1959 von starkem Leuchten und entferntem Donner aus der entsprechenden Richtung am Abend des 1. Februar.

Diese Aussagen werden von den Vertretern der Militär-Hypothese als Hinweise für Waffentests gewertet. Da Leuchtobjekte in der Region auch an weiteren Tagen im Februar und März 1959 von zahlreichen Wanderern, Soldaten und Bergwerksarbeitern sowie von Teilnehmern der Suchmannschaften am Himmel beobachtet wurden (es berichtete sogar eine Lokalzeitung darüber), lässt auf den ersten Blick tatsächlich die Existenz eines militärischen Testgeländes (Polygon) vermuten.

Der Autor Aleksej Rakitin bietet jedoch eine andere Erklärung an. In seinem bereits erwähnten Buch schreibt er, die sowjetische Luftwaffe schickte in den 1950er Jahren bei nächtlichen Luftraumverletzungen neben Abfangjägern auch Militärflugzeuge mit Leuchtbomben los. Das Radar der Jagdflugzeuge sei damals für tieffliegende Ziele faktisch noch blind gewesen. Die Bomber erschufen durch den Abwurf von minutenlang am Himmel stehenden grellen Leuchtmitteln einen Lichtkorridor mit einer Länge von dutzenden Kilometern, der feindliche Flugzeuge enttarnen und für den Abschuss durch die Jagdflugzeuge sichtbar machen sollte. Eine andere technische Möglichkeit hatten die sowjetischen Luftstreitkräfte damals nicht, um tieffliegende Ziele zu orten.

Tödliches Treffen mit westlichen Transitagenten

Welche Flugzeuge sollen hier sowjetischen Luftraum verletzt haben? Rakitin stellt in seinem Buch die Hypothese auf, dass die Wanderer Opfer von Agenten wurden, die im Auftrag eines westlichen Nachrichtendienstes in der Uralregion per Fallschirm abgesprungen waren, um Atomspionage zu betreiben. Der Tod der jungen Leute sei das Resultat einer schief gelaufenen verdeckten Operation zur Übergabe radioaktiven Materials gewesen, schlussfolgert der Autor. Die Agenten hätten sich als normale Skiwanderer ausgegeben, denen eine Person der Djatlow-Gruppe unter einem zuvor vereinbarten Vorwand die – vorab gezielt kontaminierte – Kleidung überlassen sollte.

Zwei Geheimdienstoperationen seien hier aufeinandergetroffen, meint Rakitin. Die Übergabe sei letztlich eine geplante Desinformationsaktion des KGB gewesen – eine „kontrollierte Lieferung“, die den feindlichen Geheimdienst und westliche Atomwissenschaftler auf eine falsche Fährte über die sowjetische atomare Rüstung führen sollte. Die Methode der kontrollierten Lieferung falscher Informationen an westliche Dienste sei durch den KGB in den 50er Jahren häufig genutzt worden. 1954 etwa ließ man dem britischen MI-6 über lettische Nationalisten radioaktiv belastetes Wasser zukommen, dessen spezielle Kontaminierung zu falschen Rückschlüssen bei den Analysierenden des MI-6 führen musste.

Konkrete Ziele und Hintergründe der nachrichtendienstlichen Operation um die Wandergruppe sollen hier aber nicht von Belang sein. Wichtig für den Fall ist: Die Wanderung habe demnach von Beginn an unter Beobachtung des KGB gestanden. Deshalb wussten die Behörden vom Tod der Wanderer, noch bevor sie vermisst wurden, erläutert Rakitin. Deshalb gab es in den Ermittlungen aus dem Nichts ein radiologisches Gutachten und deshalb durften die tatsächlichen Todesursachen vom Gerichtsmediziner nicht genannt werden.

KGB-Leute in der Wandergruppe

Die Übergabe in der menschenleeren Region sei vor der Wanderung vermutlich durch einen Doppelagenten vereinbart worden, schreibt Rakitin. Drei der Wanderer standen ihm zufolge in Diensten des KGB. Semjon Solotarjow, der Kriegsveteran und älteste Teilnehmer, sei wahrscheinlich Resident gewesen – also Leiter des regionalen Netzes von Informanten des Staatssicherheitsdienstes. Dies schlussfolgert der russische Autor aus dem Lebenslauf des früheren Frontkämpfers, der im Krieg für den militärischen Abschirmdienst SMERSCH gearbeitet haben könnte und ab 1946 in Minsk offenbar zu einer sowjetischen Version eines „Stay behind“-Partisanen ausgebildet wurde.

Solotarjows volatile Nachkriegstätigkeiten führten ihn auffälligerweise immer wieder in die Nähe geschlossener sowjetischer Atomanlagen. Der Kriegsteilnehmer war erst einige Wochen zuvor nach Swerdlowsk gezogen und kurzfristig in die Wandergruppe der jungen Leute aufgenommen worden. Solotarjow sollte Rakitin zufolge die verdeckte Übergabeaktion im Ural leiten und die feindlichen Agenten heimlich fotografieren. Im Gegensatz zu den anderen Teilnehmern trug er seinen Fotoapparat auch zum Zeitpunkt seines Todes um den Hals.

Georgi Kriwonischtschenko, der in der geschlossenen Anlage Tscheljabinsk-40 arbeitete, wo Plutonium für sowjetische Atombomben produziert wurde, sollte die punktuell verstrahlte Kleidung übergeben und sich als möglicher Informant andienen. Alexander Kolewatow, dessen Wandertagebuch übrigens nicht gefunden wurde, sei Ersatzmann gewesen. Der Rest der Gruppe wusste von nichts. Sie seien lediglich „Schachfiguren“ dieser Operation gewesen, die in höchsten KGB-Kreisen in Moskau beschlossen worden sein soll.

Tödliches Scheitern

Doch etwas musste schiefgegangen sein, resümiert Rakitin. Die Tarnung flog auf. „Offenbar begann einer der Besitzer eines Fotoapparates der Marke FED während des ersten Kontakts, die Fremden offen zu fotografieren, was unwissentlich deren Verdacht erregte und den darauf folgenden Angriff provozierte“, erläutert Rakitin auf Multipolar-Anfrage.

Die Transitagenten, die Schusswaffen besaßen und im Nahkampf ausgebildet waren, sahen sich offenbar gezwungen, die Wanderer noch vor der Übergabe der radioaktiv markierten Kleidung zu töten. Der Einsatz der Waffen hätte jedoch eindeutige Spuren hinterlassen, sie konnten nur zur Drohung verwendet werden. Mit vorgehaltenen Waffen und körperlicher Gewalt zwangen die zwei bis drei Täter die jungen Leute, sich stark zu entkleiden und schickten sie hangabwärts in die Kälte, so die These des Buchautors.

Die Täter durchsuchten anschließend das Zelt nach Fotoapparaten der Marke FED, um diese Beweismittel zu zerstören – die Kameras der Marke Zorki wie der Rest der Ausrüstung war wertlos für sie. Die Agenten zerschnitten das Zelt, um es unbrauchbar zu machen. Als sie feststellten, dass die Wanderer noch lebten und im Wald ein Feuer angezündet hatten, entschieden sie sich, die jungen Leute per Hand zu töten.

Einige – darunter Djatlow – seien tatsächlich zuvor erfroren, sagt Rakitin. Die meisten seien jedoch, sobald sie gefunden wurden, von den Tätern brutal verhört worden – Lungenödem, Brandwunden und die fehlenden Augen können Folgen von Foltermethoden im Feld sein, etwa um herauszufinden, wo sich die anderen Mitglieder der Gruppe versteckt hielten. Von Semjon Solotarjow wollten die Täter sicherlich noch mehr wissen, schreibt Rakitin auf Multipolar-Anfrage:

„Wenn die Vermutung stimmt, dass es sein Versuch war, Fotos von Fremden zu machen, der ihren Angriff provozierte, dann hatten diese Leute zweifellos Fragen an ihn. Vor allem hätten sie sich für den Film aus der Kamera interessiert, den er wahrscheinlich schon im Wald versteckt hatte.“

Die Agenten seien höchstwahrscheinlich mit leistungssteigernden, aber auch enthemmenden Militärdrogen wie Metamphetamin aufgeputscht gewesen, glaubt Rakitin. Ihre Opfer brachten sie schließlich durch Schläge auf den Kopf oder durch gezielte Kniestöße in den Oberkörper um.

Ist das möglich?

Schattenkrieg der 50er: Die CIA in der Sowjetunion

Tatsächlich setzten die CIA und der britische Secret Intelligence Service (SIS, besser bekannt als MI-6) in dieser Hochphase des Kalten Krieges zahlreiche geheime Kämpfer in Osteuropa ein. Von 1949 bis 1959 schickte der US-amerikanische Auslandsgeheimdienst meist von westdeutschen Flugplätzen aus viele hundert verdeckte Agenten in Flugzeugen ohne Hoheitskennzeichen in die Sowjetunion. Sie sprangen per Fallschirm ab und sollten einheimische Nationalisten – etwa in der Westukraine (Operation Aerodynamic) – mit Waffen, Munition und Geld versorgen, Sabotageakte ausführen oder Informationen über sowjetische Militär- und Atomanlagen sammeln.

In der Regel verwendete die CIA hierzu keine US-Bürger, sondern ethnische Ukrainer, Balten oder Russen, die sie in speziellen Lagern beispielsweise in Bad Homburg im Taunus, aber teilweise auch in den USA ausgebildet hatte. Das US-Militär besaß zudem Basen in Alaska, Colorado und in der Sierra Nevada, auf denen auch Geheimdienstleute für Einsätze unter subpolaren Bedingungen ausgebildet wurden. Viele in die Sowjetunion eingeschleuste Agenten waren Rechtsextreme und hatten im Zweiten Weltkrieg bereits für die Nazis gekämpft und teilweise Kriegsverbrechen begangen. (4)

Die meisten Transitagenten wurden nach ihrer Landung schnell verhaftet oder getötet, da viele Trainingslager für die Fallschirmagenten von sowjetischen Spionen infiltriert waren, welche den KGB vor den jeweiligen verdeckten Operationen warnten. Es gebe keine Unterlagen über das Schicksal der Transitagenten, wie der New York Times-Journalist Tim Weiner schreibt. Bekannt sind jedoch beispielsweise Operationen, bei denen russische CIA-Leute in Vierer-Teams sogar am Stadtrand Moskaus abgesetzt wurden. (5)

Trotz der Misserfolge wurde das Programm bis inklusive 1959 weiterverfolgt. US-Präsident Dwight D. Eisenhower führte gegen die Sowjetunion einen „ehrgeizigen Kreuzzug“ vor allem mit verdeckten Operationen der CIA unter ihrem Chef Allen Dulles – einem glühenden Anti-Kommunisten und Freund verdeckter Aktionen von Mord bis Staatsstreich. (6) Eisenhower autorisierte in seiner Amtszeit 170 geheime CIA-Operationen in 48 Ländern. (7) Der US-Autor David Talbot spricht von einem „Schattenkrieg“. Eisenhower sagte, nur Spione, nicht aber Hightech-Spielzeug könnten etwas über die Angriffsabsichten der Sowjetunion herausfinden. (8)

Atom- und Raketenspionage im Ural

Aus Mangel an höheren sowjetischen Quellen in den 1950er Jahren waren verdeckte Transitagenten das zentrale Mittel für Geheimdienste der Nato-Länder, um an nähere Informationen aus russischen Atomanlagen zu kommen, die sich im Ural und in Westsibirien konzentrierten. Die geschlossenen Anlagen waren abgeriegelt wie Festungen.

Die in den 1940er Jahren aus dem Boden gestampfte geheime Stadt Tscheljabinsk-40 (heute Osjorsk), in der der Wanderer Georgi Kriwonischtschenko arbeitete, wurde beispielsweise durch sieben Reihen Stacheldraht, elektrisch geladene Zäune, Hundestreifen, Horchposten und Wachstationen abgeschirmt. Die Stadt war auf keiner Landkarte verzeichnet. Die Auswahl der Angestellten ähnelte einer Überprüfung zur Aufnahme in den Staatssicherheitsdienst. Auch innerhalb der Stadt gab es massive Überwachung und permanente Überprüfungen beim Betreten und Verlassen jeder Produktionsanlage. Der Ort ist wegen der dortigen militärischen Plutonium-Produktion übrigens bis heute ein für Ausländer und viele Russen geschlossenes Objekt.

Umso wichtiger war die Spionagearbeit verdeckter Agenten rund um die abgeriegelten Zonen. Regelmäßig mussten solche Geheimdienstleute ein- und ausgeschleust werden, damit sie Proben aus der Umgebung der geschlossenen Anlagen nehmen und zur Analyse bringen konnten. Die Bedeutung dieser Art der Spionagearbeit war damals sehr groß. Das galt auch für das Ausfindigmachen geheim gehaltener Raketenabschussbasen in der Sowjetunion. Ende der 1950er Jahre wurde in den USA über einen angeblichen Rückstand in der Raketenrüstung („missile gap“) debattiert.

Im Dezember 1958 wurde die CIA durch zwei verdeckte Quellen im Bezirk Swerdlowsk über den Bau eines neuen Militärgeländes zur Stationierung von Interkontinentalraketen informiert. (Monatsreport Dezember 1958, Seite 2, Punkt 2) Anschließend beschloss der US-Geheimdienst mit höchster Priorität ab Januar 1959 die verstärkte Beobachtung des Schienennetzes im Ural, unter anderem durch Feldagenten, um getarnte sowjetische Militärtransporte ausfindig zu machen.

Dies war eine Vorbereitungsmission zur Flugzeug-Aufklärungsoperation mit dem Tarnnamen „Kelch“ (Project Chalice) im Frühjahr 1959. In diesem 2011 de-klassifizierten Memo zum Project Chalice vom 31. März 1959 ist beispielsweise vom Bericht eines verdeckten Agenten aus dem Ural die Rede. („covert agent report“, Seite 5)

Wie gut die Agenten für den Bodeneinsatz ausgerüstet sein mussten, zeigt ein Blick auf die Ausstattung des CIA-Spionage-Piloten Gary Powers, dessen U2 im Mai 1960 über der Region Swerdlowsk abgeschossen wurde. Der Pilot, der sich mit dem Fallschirm retten konnte, aber schnell festgenommen wurde, hatte unter anderem ein aufblasbares Boot, Leuchtraketen, Sprengmittel, eine Pistole mit Schalldämpfer, eine vergiftete Nadel und jede Menge sowjetische Rubel bei sich. Das war nur die Notfallausrüstung eines einzelnen Piloten, der die Sowjetunion lediglich überfliegen sollte.

Fallschirmagenten der Operation Aerodynamic hatten unter anderem Handgeneratoren, Äxte, Pistolen, Tränengas, sowjetische Uniformen und arktische Schlafsäcke im Gepäck.

Nach dem Fehlschlag rollen Köpfe beim KGB

Rakitin zufolge muss der KGB die Gefährlichkeit der Übergabe-Operation unterschätzt haben. Man habe den drei eigenen Mitgliedern der Wandergruppe keine Waffen mitgegeben, da sie diese nicht vor den ahnungslosen Mitwanderern hätten geheimhalten können, vermutet Rakitin. Auch ein bewaffnetes Begleitkommando hätte die verdeckte Operation gefährden können. Ein Funkgerät hätte die feindlichen Agenten misstrauisch gemacht. Deshalb sei das Gerät Igor Djatlow zu dessen Überraschung im Vorfeld administrativ verweigert worden – im Gegensatz zu vorangegangenen Wanderungen.

Aufgrund der Abgelegenheit der Region habe der KGB die Wandergruppe nur an bestimmten Punkten auf der Wanderroute beobachten können, schreibt Rakitin. Als sie den nächsten Punkt – wahrscheinlich am Berg Otorten – spätestens am 5. Februar nicht erreichten, sei der zuständige KGB-Verantwortliche nervös geworden und habe erste Untersuchungen eingeleitet.

Dem KGB sei spätestens nach der Autopsie der vier schwer verletzten Leichen im Mai klar gewesen, was geschehen war. Um festzustellen, ob zumindest die kontaminierte Kleidung übergeben wurde, entstand das radiologische Gutachten. Von höchster Stelle in Moskau wurde dann sofort ein nach außen hin völlig unlogischer, aber intern völlig berechtigter Befehl zur Einstellung der Ermittlungen erteilt, meint der Kriminalistik-Autor. Der sowjetische Geheimdienst habe sicherlich versucht, die Täter zu fassen, ob dies gelang, sei unbekannt.

Die Operation sei ein kompletter Fehlschlag mit dem Tod von beteiligten und unbeteiligten Personen gewesen, betont Rakitin. Stimmt dies, hätte der Misserfolg Konsequenzen nach sich ziehen müssen.

Tatsächlich wurden am 6. Juli 1959 in einem einzigartigen Vorgang in der Geschichte der Sowjetunion drei der fünf stellvertretenden KGB-Vorsitzenden auf einen Schlag in den Ruhestand geschickt beziehungsweise massiv degradiert: Generaloberst Sergej Beltschenko (57 Jahre alt), der unter anderem die Verantwortung für die Grenztruppen trug, Generalmajor Iwan Sawtschenko (51 Jahre), der die Desinformations-Operationen des KGB koordinierte, und Generalmajor Pjotr Grigorjew (49 Jahre), der für den internen Ermittlungsdienst zuständig war. Ersterer wurde „aus gesundheitlichen Gründen“ in den Ruhestand geschickt, wurde aber noch 99 Jahre alt. Die anderen beiden wurden auf deutlich niedrigere Posten in Moldawien und in der DDR versetzt.

Aufklärung nur durch offene Archive

Aufgrund der zahlreichen Besonderheiten des Djatlow-Falles gibt es keine einfachen Erklärungen zur Auflösung dieses Rätsels. Jedoch weisen das Vorwissen, die administrative Einflussnahme, die Beteiligung zweier Angestellter geschlossener Rüstungsbetriebe und die radioaktiv belastete Kleidung analytisch zwingend auf eine Beteiligung des sowjetischen Geheimdienstes hin.

Es gibt auch Hypothesen, die in diesem Rahmen agieren, aber die Täter beim KGB vermuten. Solotarjow sei Doppelagent oder Kriwonischtschenko tatsächlich Verräter gewesen. Womöglich waren sie verdeckt für die CIA tätig. Geklärt werden kann dies bis heute nicht, aber die Ermittlungsrichtung ist offenkundig. Aleksej Rakitins Theorie ist in dieser Richtung die am weitesten ausgearbeitete. Gelöst werden könnte der Fall mutmaßlich noch heute, aber erst, wenn die beteiligten Nachrichtendienste ihre Archive öffnen.

Anmerkungen

(1) Aleksej Rakitin: Die Toten vom Djatlow-Pass. Eines der letzten Geheimnisse des Kalten Krieges. München 2018. (Original russisch, Moskau/Jekaterinburg 2014)

(2) Fred Pearce: Fallout. Das Atomzeitalter – Katastrophen, Lügen und was bleibt. München 2019. (Original englisch, Boston 2018), Seite 63–106.

(3) Igor Pavlov, Teodora Hadjiyska: 1079. The Overwhelming Force of Dyatlov-Pass. St.Petersburg/Wien 2021. (Das Buch liegt auf Russisch und Englisch vor. Eine deutsche Übersetzung ist in Arbeit, teilte die Autorin auf Multipolar-Anfrage mit.) Die beiden Autoren stellen darin die Hypothese auf, dass die Wanderer nachts im Zelt schlafend von einem umstürzenden Baum getroffen wurden. Sie hätten das Zelt wie üblich am Ende jeder Tagestour an einem geschützten Platz im Wald in der Nähe eines Baches (Wasserquelle) aufgestellt. Einige der Wanderer starben innerhalb von Minuten an ihren schweren Verletzungen im Zelt, die anderen konnten sich befreien, zündeten ein Feuer an und versuchten vergeblich, ihre Kameraden zu retten – starben jedoch ebenfalls an der Kälte und an ihren Verletzungen. Die Leichen seien bald von Piloten entdeckt worden, die Versorgungsflüge für Sprengarbeiten in der Nähe durchführten. Dort sei durch Bohrungen und Sprengungen uranhaltiges Erz gewonnen worden, so die Autoren. Die regionalen Verantwortlichen dieser Sprengungen aus Militär, Geologie und Partei hätten vermutet, dass der Unfall Folge ihrer halblegalen Sprengungen sei und sie dafür ins Gefängnis gehen könnten. Deshalb hätten sie das Zelt vom Unfallort entfernt und auf dem Berghang wieder aufgebaut, um einen Unfalltod durch Schneesturm vorzutäuschen. Auch die Leichen platzierten sie neu.

(4) Armin Wertz: Die Weltbeherrscher. Militärische und geheimdienstliche Operationen der USA. Frankfurt/Main 2015. Seite 107f., 111f.

(5) Tim Weiner: CIA. Die ganze Geschichte. Frankfurt/Main 2008. (Original englisch, New York 2007) Seite 72–82.

(6) David Talbot: Das Schachbrett des Teufels. Die CIA, Allen Dulles und der Aufstieg Amerikas heimlicher Regierung. Frankfurt/Main 2017. (Original englisch, New York 2015) Seite 14/183.

(7) Alfred W. McCoy: Die CIA und das Heroin. Weltpolitik durch Drogenhandel. Frankfurt/Main 2016. (Original englisch, Chicago 2003), Seite 37.

(8) Tim Weiner: CIA. Siehe (5), Seite 221

THOMAS MATTHÄUS, 18. März 2021, 09:40 UHR

Vielen Dank an den Autor für die Recherche und Publizierung dieses hochinteressanten und (darf ich das sagen: spannenden) Artikels. Mit Bezug zur Gegenwart glaube ich, dass solche tief recherchierten Artikel, verbunden mit zurückhaltenden Bewertungen der beschriebenen Vorgänge die Chance erhöhen, selbst weit zurückliegende Verbrechen aufzuklären (und die Täter verantwortlich zu machen). Ich bezweifle zwar, dass den russischen Wanderern posthum Gerechtigkeit zuteil werden wird, doch hoffe ich auf eine vergleichsweise zügige Aufarbeitung der aktuellen Ungereimtheiten der Pandemiepolitik – sehen Sie mir nach, dass ich diesen Artikel nicht ohne Blick auf mein heutiges Leben lesen und kommentieren kann, auch wenn mich diese Perspektive zuweilen auch ermüdet.

Mit herzlichen Grüßen,
TM

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