Geografischer Drehpunkt der Geschichte?
ULRIKE GUÉROT, 3. Dezember 2024, 2 Kommentare, PDFGeostrategie ist ganz sicher eine männliche Leidenschaft. Als Frau, die jahrelang auf transatlantischen, internationalen Konferenzen gesessen und diskutiert hat und Mitglied im Verein „Women in International Security“ gewesen ist, erlaube ich mir, das zu sagen. (…) Wenn man einmal Atem holt und sich die Kernelemente der Mackindertheorie plastisch vorstellt, diese Rede in diesem Raum imaginiert, Halford Mackinder, ernst blickend und mit kleinem Schnauzbart, der in seinem Manuskript blättert, sich vielleicht räuspert und gewichtig tut, angesichts einer aberwitzigen Theorie, die vorzutragen er sich anschickt, dann kann man sich eigentlich nur an den Kopf fassen. Jedenfalls als Frau. Auf den ganzen rund dreißig Seiten ist von Menschen, Städten, Dörfern, Leben, Karawanen, Mentalitäten, Identität, Kultur, Wirtschaften oder Agrikultur nicht die Rede. Es geht nur um Gebirgsketten, Flüsse, geografische Grenzen, Steppengebiete, Besiedelungsdichte, Mobilität und darum, welches Volk („der Magyar“ oder „der Bulgare“) gerade welche Landstriche durchreitet und besetzt. Die Geografie wird zum absoluten Prinzip erhoben. (...)
Mackinders britischer Alptraum, nämlich dass das Ingenieur-Land Deutschland mit den rohstoffreichen Ländern Eurasiens eine fruchtbare Kooperation beginnen könnte, Europa sich also das Herzland erschließt, London bzw. sein verlängerter politischer Arm, Washington, dauerhaft von den Früchten dieser Kooperation ausgeschlossen bliebe und sich das globale Kräfteverhältnis dauerhaft zu Lasten der USA in Richtung Eurasien verschöbe, lag zu Beginn der letzten Dekade in der Luft. War das vielleicht der Grund, eine verstaubte britische Theorie, in den USA modernisiert und aufgefrischt von Brzeziński, endlich zur politischen Anwendung zu bringen, bevor es – von Washington aus gesehen – zu spät sein würde? (...)
Landkarten als Einfallstore für Ideologien
Die Geografie als etwas Schicksalhaftes zu begreifen, ist der große, ja katastrophale Denkfehler von Mackinder, und es ist tragikomisch, dass dies in den einhundert Jahren der vorwiegend anglo-amerikanischen Rezeption des Textes niemandem aufgefallen ist. Es existiert ein unauflösbarer Widerspruch zwischen dem Freiheitsanspruch der Politik – und überhaupt dem Menschenrecht, zumindest der utopischen Idee einer freien Gestaltung der diversen Zukünfte – und einer schicksalshaften Festgelegtheit durch die Geografie. Menschen und ihre Kulturen bemalen und befüllen die Topografie, denn Topografie ist kein Naturgefängnis. Die geografische Starre der Mackinder-Theorie – die wir mit diesem anti-Text, den Sie gerade lesen, hoffentlich endgültig in die Tiefe der Archive und den Orkus der Geschichte entsorgen – entlarvt eigentlich, dass bei Mackinder und seinen angloamerikanischen Anhängern und Schülern wie vor allem Zbigniew Brzeziński Landkarten letztlich als Einfallstore für Ideologien dienen. Es geht nur scheinbar um Küsten und Meeresengen, sondern eigentlich um das Gefühl der Überlegenheit, das mit der Geografie nur rationalisiert wird. Gerade in dieser Hinsicht überbietet das Buch von Brzeziński noch die ursprüngliche Mackinder-Theorie von 1904. (...)
Was Mackinder bewerkstelligt hat und was nach ihm viele versuchten zu kopieren, war die Geografie zu lesen und politische Positionen und Interessengegensätze aus der Geografie scheinbar logisch abzuleiten. Dies hatte deshalb eine so große Wirkung, weil das 18. und 19. Jahrhundert von der Logik, Präzision und Einfachheit der Physik Newton fasziniert war. Dem englischen Wissenschaftler war es gelungen, aus einfachen Prinzipien eine umfassende Deutung der Wirklichkeit abzuleiten. Bald schon tauchte die Vorstellung auf, ähnlich wissenschaftliche Durchbrüche wie jene, die Newton in der Physik erreicht hatte, ließen sich auch in anderen Disziplinen bewerkstelligen. So versuchte Adam Smith nach newtonschem Vorbild, das Wirtschaftsleben im Wesentlichen auf einfache Prinzipien wie Angebot und Nachfrage zurückzuführen. Auch Darwins Evolutionstheorie entspricht diesem Muster.
Mackinder war eben auch noch ein Kind des 19. Jahrhunderts. Insofern versuchte er, anhand eines einfachen in der Geografie auffindbaren Gegensatzpaares – nämlich dem Gegensatz von Land- und Seemacht – die Weltgeschichte erklären zu können. Was für Adam Smith die Gesetze von Angebot und Nachfrage waren, war für Mackinder die Anordnung der Kontinente, die Formen der Küste, die Gebirgsketten und Meeresengen. Aus ihnen ließe sich, so das Versprechen, ein objektives Verständnis der weltpolitischen Entwicklung gewinnen. Kriege, so die Konsequenz von Mackinders Theorie, sind nicht von der Leidenschaft der Könige und Herrscher abhängig, sie folgen auch keiner Erbfeindschaft zwischen den Völkern, sondern sind durch die kalte Objektivität der Geografie diktiert und leiten sich aus ihr ab. Wie sagte Karl Popper? Eine Theorie gilt immer solange, bis sie falsifiziert wird...Welcome to the 21st Century!
Geschichte entzieht sich der amerikanischen Steuerung
Wir hier in Europa können Mackinders Theorie darum getrost weglegen. Die Zäsur in Richtung Multipolarität, in der sich nicht nur Europa oder Eurasien, sondern die ganze Welt befindet, ist für alle greifbar, und in dieser Welt ist kein Platz mehr für US-amerikanische Hegemonie. Der US-amerikanische „unipolar moment“ von 1989 ist verspielt. Es gibt auch kein Ende der Geschichte, wie Francis Fukuyama prophezeite, sondern die Geschichte des 21. Jahrhunderts beginnt unter neuem Vorzeichen und entzieht sich zunehmend der amerikanischen Steuerung.
Mackinder konnte das wirklich nicht wissen, und selbst Brzeziński konnte es nicht ahnen. Der BRICS-Gipfel in Kasan vom Oktober 2024 hat es in alle Winkel der Welt gehaucht: die BRICS-Staaten sind jetzt schon – mit den Schwergewichten China und Indien – knapp die Hälfte der Weltbevölkerung, die Liste derjenigen Staaten, die Aufnahme begehren, ist lang. BRICS hat cheap labor [billige Arbeitskräfte] und fast alle Ressourcen der Welt. (…) Diverse BRICS-Clearing-Systeme werden eingerichtet, die zum Beispiel für afrikanische Staaten sehr interessant sind, dazu eine eigene Entwicklungsbank. Die globale De-Dollarisierung wird noch gebremst, ist aber mittelfristig nicht aufzuhalten. Es geht also um die Gestaltung einer post-atlantischen Welt, und die eigentliche Frage ist, wie die Supermacht, die gerade sukzessive abgewickelt wird, darauf reagiert. Fair oder wie ein Spielverderber?
Ob die USA sich, wie Emmanuel Todd es formuliert, gefangen in ihrem gegenwärtigen Nihilismus, immer weiter in den Krieg um des Krieges willen stürzen – darunter den in der Ukraine – oder ob sie auch zu einem Akteur, einem Baumeister der multipolaren Welt werden können? Vieles von dem, was derzeit auf der internationalen Bühne passiert, lässt sich in dem bekannten Satz zusammenfassen: Hochmut kommt vor dem Fall. Für Europa geht es um die Frage, zu welcher Welt es gehören will, welche es mitgestalten will? (…)
Vernichtung des heutigen Europa
Es ist der Moment, in dem Europa begreifen sollte, begreifen müsste, dass die USA dabei sind, die einst kooperative und für beide Seiten des Atlantiks durchaus fruchtbare transatlantische Ordnung, die sie nach 1949 selber mitaufgebaut haben – inklusive der europäischen Integration – gleichsam zu pulverisieren, und dass das, was einst transatlantische Kooperation war, jetzt zum Missbrauch, ja, zur Vernichtung des heutigen Europas mutiert. Kurz: der Moment in dem Europa begreifen sollte, dass die USA nicht mehr das Land sind, das sie im 20. Jahrhundert vielleicht einmal waren. Es ist eins der Charakteristiken von Missbrauchsopfern, dass sie im Glauben an den ‚guten“ Vater oder Freund nicht erkennen oder zu denken zulassen können, dass Vertrauen und Freundschaft missbraucht werden. Man verdrängt. In diesem tiefenpsychologischen Konflikt steckt der gesamte europäische Kontinent derzeit!
Die Frage ist selbst für diejenigen, denen die EU egal ist: Kann Europa das wollen? Diese Frage liegt auf dem Tisch, jetzt, wo die EU, wo Brüssel, wo Frau von der Leyen sich sichtlich für verdrängen entschieden haben. Die EU aber ist nicht Europa und Europa ist pivotal. (…) Im Ukraine-Konflikt zeigt sich wie im Brennglas, welcher Weltgeist sich künftig durchsetzen wird: der atlantische, auf harte NATO-Grenzen und US-Abhängigkeiten gebaute oder der transkontinentale, der die europäische Kooperation und Öffnung nach Osten sucht. (…)
Europa ist nicht der Westen
Streifen wir nur mit einem Schlenker – für mehr ist in einem Vorwort kein Platz –, dass im 17., 18. oder 19. Jahrhundert die kulturelle und geistesgeschichtliche Kongruenz von fernöstlichen, russischen und westlichen Staats- und Wirtschaftsphilosophien, zum Beispiel von Konzepten der Sozietät, der Communitas oder der Republik, größer ist als alles, was Europa ideengeschichtlich seit dem 20. Jahrhundert mit den USA verbindet. Die europäischen Bibliotheken sind voll davon, und diese Texte werden hoffentlich perzipiert, bevor unsere Bibliotheken – der Kernbestand des eu- ropäischen Geistes, die République des Lettres – analog verramscht werden und sich der moderne Wissenschaftsbetrieb vollends in die „Open Source Cloud“ verabschiedet, die genau das ist: die luftige Wolke eines Leerbetriebs, der kein Lehrbetrieb mehr ist.
Denn Europa hat im Kern keine liberale, geschweige denn eine wirtschaftsliberale oder gar neoliberale Tradition. Europas Juwel der Ideengeschichte ist der Begriff der Republik, der res publica, des öffentlichen Guten und des gemeinen Wohls. Europa ist nicht der Westen, wie Hauke Ritz in seinem neuen Buch Vom Niedergang des Westens zur Neuerfindung Europas betont. Vielmehr ist die Herauslösung und Wiederentdeckung der spezifischen europäischen Kultur aus der hybriden Erzählung eines Westens die geistige Aufgabe für die nächsten Jahrzehnte! Erst dann kann Europa in Resonanz mit den anderen Kulturen des eurasischen Kontinentes treten. Die Verbindung mit dem eigenen, mit den kulturellen Wurzeln ist die Vorbedingung für eine multipolare Welt: Ich kann, wie Emmanuel Levinas schreibt, l’autrui, den anderen, nur erkennen, wenn ich selbst weiß, wer ich bin. Europa weiß das zurzeit nicht mehr, da es atlantisiert und verwestlicht wurde und sich selbst derzeit nur noch durch diese Brille lesen kann. (…)
Arroganz und Selbstillusion
Europa muss in seiner Geschichte den Baustein für seine Zukunft wiederfinden und „Friedensmacht Europa“ werden – dafür hat es jetzt, wenn die USA sich mit Trump vom europäischen Kontinent zurückziehen sollten, eine einzigartige Gelegenheit. Die dümmste aller Entscheidungen für Europa wäre es, auch ohne die USA gleichsam weiterhin „den Mackinder zu machen“ und die selbstzerstörerische, ja geradezu nihilistische europäische Politik mit Blick auf die Ukraine weiterzutreiben.
Leider scheinen Friedrich Merz, Marie-Agnes Strack-Zimmermann oder Roderich Kiesewetter das noch nicht verstanden zu haben; sie haben gedanklich und real schon verloren, doch sie wissen es noch nicht. Hierin mag tatsächlich die allergrößte Gefahr liegen, nämlich in der westlichen Arroganz und Selbstillusion über die eigenen Fähigkeiten. Emmanuel Todd äußert in seinem Buch den klugen Gedanken, dass die Gründe für den Nihilismus und das selbstzerstörerische Potential, das der Westen und Europa derzeit politisch mit Blick auf den Krieg in der Ukraine an den Tagen legen, in einer kompletten Realitätsverweigerung zu suchen sind, deren Ursprung einerseits eine verblendete Arroganz ist und die andererseits darin begründet liegt, dass das Ausmaß des eigenen Versagens so groß ist, dass man es sich nicht eingestehen kann und deswegen lieber den Weg der (Selbst-)Zerstörung geht, als ein Schuldeingeständnis machen zu müssen.
Der „Schuldige“ für die Zerstörung Europas, sollte der Krieg doch noch eskalieren, wäre dann „der böse Putin“. Die Irrationalität, so Todd, könnte, wie schon einmal im Europa des 20. Jahrhunderts, erneut zum Treiber der Geschichte werden... Möge es uns erspart bleiben!
Ulrike Guérot, Halford John Mackinder, „Über Halford J. Mackinders Heartland-Theorie“, Westend Verlag, 128 Seiten, 16 Euro
Über die Autorin: Ulrike Guérot, Jahrgang 1964, studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Philosophie und promovierte mit einer Arbeit zur „Europapolitischen Programmatik der französischen Sozialisten 1971-1995“. Von 1998 bis 2000 war sie Assistant Professor an der Paul H. Nitze School for Advanced International Studies der Johns Hopkins University in Washington. 2000 bis 2003 leitete sie die neugeschaffene „Arbeitsstelle Europa“ bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin. Anschließend arbeitete sie bis 2007 als Direktorin Foreign Policy & Senior Transatlantic Fellow beim German Marshall Fund, danach bis 2013 als Leiterin des Berliner Büros des neugegründeten European Council on Foreign Relations des Milliardärs George Soros. 2013 wechselte sie für Soros als Seniorpartner Deutschland zur neugegründeten Open Society Initiative for Europe. Von 2016 bis 2021 war sie Professorin an der Universität Krems, anschließend bis 2023 an der Universität Bonn. Im März 2021 publizierte sie als Mitautorin den Aufruf „Für die offene Gesellschaft“, der sich für das „konstruktive Hinterfragen der Corona-Maßnahmen“ aussprach. 2022 veröffentlichte sie den Spiegel-Bestseller „Wer schweigt, stimmt zu“, in dem sie die Corona-Politik und die fehlende Debatte dazu kritisierte. Im gleichen Jahr erschien: „Endspiel Europa“ (mit Hauke Ritz).
Weitere Artikel zum Thema:
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- Die Rückkehr des Mars (Malte Nelles, 15.3.2024)
- Westliche Identität und Weltpolitik (Jürgen Wendler, 28.10.2023)
- Wie die USA Deutschland eroberten (Werner Rügemer, 18.9.2023)
- Der Krieg gegen die multipolare Welt (Hauke Ritz, 28.4.2023)
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