Entfeindung statt Spaltung
HELGE BUTTKEREIT, 1. Juli 2024, 26 Kommentare, PDFWer über die aktuelle gesellschaftliche Situation spricht, der kommt am Wort „Spaltung“ nicht vorbei. Ob es um die Maßnahmen gegen Corona geht oder die Kriege in der Ukraine und Palästina. Es werden Lager ausgemacht, die sich vermeintlich unversöhnlich gegenüber stehen. Die Welt ist in schwarz und weiß aufgeteilt, Grautöne sind Mangelware. Die sogenannten sozialen Medien sorgen dafür, dass sich zum einen die einfachen Aussagen, die klaren Worte, die konfrontativen Meinungen, eben das Schwarz und Weiß gegenüber stehen. Diese Polarisierungen werden dann noch durch die Algorithmen der Netzwerke verstärkt. Es entstehen Echokammern, in denen jeder nur oder zumindest vornehmlich das hört, was seiner Meinung entspricht.
Gerade im Bezug auf die Kriege zwischen Russland und der Ukraine sowie im Nahen Osten militarisiert sich die öffentliche Diskussion so sehr, wie es vor wenigen Jahren noch undenkbar schien. Die militärische Logik ist in Schwarz-Weiß-Mustern verfangen, sie denkt in Freund und Feind. Dazwischen ist nichts, geopolitisch mittlerweile kaum einmal mehr die neutrale Schweiz. In Deutschland ist das militärische Denken spätestens mit der im Februar 2022 vom Bundeskanzler ausgerufenen „Zeitenwende“ salonfähig geworden, der Verteidigungsminister will das Land nun auch noch kriegsfähig machen, bis 2029 soll Deutschland reif sein für einen Krieg mit Russland.
Die Front gegen den erneuten Feind im Osten und alle vermeintlichen (und wirklichen) Freunde Putins im In- und Ausland wird mit massiver Propaganda aufgebaut. Wer ausschert, bekommt es mit der geballten Meinungsmacht derer zu tun, die auf der Seite der Regierung, der öffentlich akzeptierten Haltung stehen. Wer Verständnis für die Kritik Russlands an der Osterweiterung der NATO, an dem Wunsch nach Sicherheit äußert, der wird in Talkshows oder auf Social Media fertig gemacht – zumindest von den Vertretern des Mainstreams.
Im öffentlichen Diskurs herrscht eine feindliche Stimmung gegenüber denjenigen, die für Frieden und Verhandlungen einstehen. Sie schließt nahtlos an die Verfemung der Kritiker an den Corona-Maßnahmen an. Wer die Gesellschaft befrieden, in friedlicher Umgebung gemeinsam mit seinen Mitmenschen leben will, der muss sich dieser Spaltung stellen und an einer „Entfeindung“ arbeiten. Er muss verstehen, woher diese gesellschaftlichen Prozesse kommen, wer Interesse daran haben könnte, dass die Kriegslogik Teil des allgemeinen Bewusstseins wird.
Stefan Seidel und Michael Andrick haben in ihren Büchern auf je eigene Weise versucht, sich der Spaltung und ihrer Überwindung zu nähern. Der Theologe und Journalist Stefan Seidel zeichnet dabei Wege der „Entfeindung“ auf, gibt Beispiele von Menschen und Organisationen, die Brücken zwischen vermeintlich unversöhnlichen Fronten gebaut haben und dies auch heute noch tun. Dabei beruft er sich vor allem auf den Urheber der – in seinen Augen – eigentlichen Zeitenwende in der Geschichte der Menschheit: auf Jesus Christus und insbesondere dessen Bergpredigt. Der andere Autor, Michael Andrick, ist Philosoph und hat sich spätestens in der Zeit der Corona-Krise deutlich gegen die Einschränkung des Meinungskorridors und der weiteren Grundrechte positioniert. In seinen Augen befinden sich die Menschen hierzulande als Gefangene in einem „Moralgefängnis“. Dieses werde von der Angst aufrecht erhalten, ausgestoßen zu werden.
Die gesellschaftliche Spaltung hat viele Ebenen, und sie hat viele Mitwirkende. Die Ansätze von Andrick und Seidel zur Überwndung sind unterschiedlich. Gemeinsam ist ihnen, dass sie aber vor allem den einzelnen Menschen und seine Möglichkeiten betrachten, der Spaltung, der Verfeindung der Gesellschaft entgegen zu treten. Bei beiden Autoren kommen diejenigen recht kurz, die von der Spaltung profitieren. Denn es sind die Herrschenden, die von ihrem eigenen Versagen ablenken und die Bürger gegeneinander ausspielen.
In der massiven gesellschaftlichen und ökonomischen Krise, in der sich Deutschland und der Westen insgesamt befinden, ist das Erzeugen von Angst und Hass dabei ein wirksames Instrument der Kontrolle der öffentlichen Meinung, stellt Rainer Mausfeld in seinem Bestseller „Warum schweigen die Lämmer?“ fest: „Durch die Erzeugung von Hass lässt sich Ängsten ein geeignetes Zielobjekt geben, auf das sich Affekte des Volkes richten können. Dadurch ist sichergestellt, dass sich Empörungsenergie und Veränderungsbedürfnisse nicht gegen die Zentren der Macht richten.“ (1)
Der italienische Philosoph Fabio Vighi fasst den „Überbau“ des „Meta-Notstands-Szenario“, der Basis für die gesellschaftlichen Verwerfungen ist, wie folgt zusammen:
„Erstens lenkt die serienmäßige Erzeugung globaler Notlagen und Ausnahmezustände die Massen von der laufenden sozioökonomischen Implosion ab und schafft gleichzeitig falsche binäre Konflikte (divide et impera). Zweitens wird die Zufuhr von inflationärer Liquidität legitimiert und das Krisenmanagement auf das autoritäre Endspiel hin ausgerichtet. Drittens geben globale Notlagen dem senilen Kapitalismus die Möglichkeit, eine Art moralische Regeneration vorzutäuschen, indem er ethische Defizite produziert und dann darauf reagiert. Aus all diesen miteinander verwobenen Gründen muss jede Form des Widerstands, die ihren Namen verdient, das Bemühen beinhalten, die systemischen Ursachen der Krise zu benennen.“ (2)
Die Frage, wie es dazu kommt, wie die feindliche (Seidel) oder moralindurchseuchte (Andrick) Stimmung in der Gesellschaft Platz greifen konnte, wird in beiden Büchern nur am Rande behandelt, die systemischen Ursachen also kaum beachtet ohne deren Überwindung die Entfeindung nur partiell sein wird. Das ist ohne Zweifel ein Manko, aber die Lektüre beider Bücher lohnt sich gleichwohl, zumal beispielsweise das eben genannte Buch von Mausfeld eine gute Ergänzung sein kann.
Friedliches Miteinander einüben
Seidel und Andrick setzen auf einer Ebene an, die gerade bei politischen Büchern zu selten in den Fokus gerät: dem Miteinander in der Gesellschaft. Und selbst wenn man einschränken muss, dass es eben Nutznießer der Kriegsrhetorik gibt, die die Stimmung immer wieder befeuern werden (und müssen), so schadet es keinesfalls, sich mit deren Überwindung „von unten“ zu befassen. Schließlich braucht eine bessere Gesellschaft ein friedliches Miteinander, das nicht einfach so entsteht, wenn die äußeren Bedingungen überwunden werden, sondern das wiederum eingeübt werden muss. Zudem stellt sich immer auch die Frage, wie denn und vor allem von wem diese äußeren Bedingungen überwunden werden können. Es braucht also beide Seiten.
Was sagt Michael Andricks These vom Moralgefängnis? Sein Ausgangspunkt in eigenen Worten: „Geistige Offenheit und Toleranz kommen unserer Gesellschaft zunehmend abhanden. Die Diskussionskultur ist vergiftet, moralische Verurteilungen treten an die Stelle der Verständigung über das Gemeinwohl.“ Für Andrick ist die Spaltung „ein Gemeinschaftsprodukt vieler Menschen, die bestimmte Umgangsformen pflegen“. Spaltung lebe vom Mitmachen, davon, das Andersdenkende abgekanzelt werden und mit verleumderischen Begriffen („Corona-Verharmloser“, „Lumpenpazifist“) belegt werden. Der Austausch über unterschiedliche Ansichten wird fast unmöglich, es dominiert eine Atmosphäre von Angst und Misstrauen, die Andrick das „Moralgefängnis“ nennt.
„Eine moralindurchseuchte Gesellschaft lebt in ihrem eigenen kulturellen Gefängnis, in dem ein Regime des Moralismus durch Angstschwängerung des sozialen Lebens ,reguliert‘, was noch wie ausgedrückt werden kann und was ganz verschwiegen werden muss, will man keinen Ärger der einen oder anderen Art bekommen.“
Wer eine andere Meinung vertritt, als die Mehrheit der Gesellschaft und vor allem der Mainstream der Medien, der hat das vermutlich bereits erlebt.
„Wer das feststehende Gute nicht zumindest anspricht und seine Finger an den Hut legt, um zu zeigen, dass er es kennt, der ist schon nicht mehr Teil der offiziellen, regierungsamtlichen Glaubensgemeinschaft, die sich fälschlich ,Gesellschaft‘ nennt, da ihr immer nur die offiziellen Kreise notgedrungen und nur manche, die Karrieristen etwa, noch freiwillig angehören.“
Andrick nennt die Mechanismen des „Diktats des Guten Menschen“, die ganz praktisch in Formen der Zensur oder auch der vermeintlichen Demokratieförderung bestehen, wobei die andere, die abweichende Meinung verfemt und ausgeschlossen wird. Vom Einzelnen aus betrachtet sieht das dann wie folgt aus:
„Im Regime des Moralismus versagen wir einander den Respekt – die gegenseitige Berücksichtigung, die Rücksicht. Wir sprechen durch Moralisierung und Demagogie dem Andersmeinenden das Daseinsrecht im öffentlichen Raum ab, in dem wir uns zurechtlegen, warum wir ‚mit solchen Leute, die sowas sagen und tun‘, nichts zu tun haben.“
Auf Andricks Lösungsvorschläge wird am Ende dieses Textes zurückzukommen sein. Denn spätestens an dieser Stelle setzt Stefan Seidels Konzept der „Entfeindung“ an. Während Andrick sich vor allem von den Erfahrungen der Corona-Zeit lenken lässt und die Notwendigkeit des Ausbruchs aus dem „Moralgefängnis“ vornehmlich mit Beispielen aus dieser Zeit begründet, nimmt Seidel sich die Kriegsrhetorik vor, die immer stärker um sich greift und die die Menschen „in den einen oder anderen Pol der Konfrontation hineinzwingt“. Seidel will Freund-Feind-Unterscheidung überwinden und hebt das „geteilte gleiche Menschsein, die geteilte gleiche Verletzlichkeit und das Bewusstsein wechselseitigen aufeinander Angewiesenseins“ hervor.
Als Theologe ist seine Basis Jesus Christus als Begründer der „eigentlichen Zeitenwende“. Seidel erinnert daran, dass dieser als „König der Juden“ nicht etwa das Reich Davids wieder groß machte, sondern er kam auf einem Esel geritten nach Jerusalem. „Die christliche Lektion heißt: Frieden kommt nicht durch Macht, Könige und Soldaten sondern durch Herrschafts- und Gewaltverzicht. Frieden kommt durch Entfeindung.“ Für Seidel ist die Bergpredigt von Jesus aus dem Matthäusevangelium das Programm aktiver Gewaltlosigkeit („Selig sind die Friedfertigen…“). Diese Lehre eröffnet den Raum für Vergebung, ohne die Kriege und Konflikte nicht überwunden werden können. Jesus begegnet der Gewalt gewaltfrei und vergibt vorauslaufend und maßlos. Er verweigert die Feindschaft. Mit anderen Worten geht es darum,
„dem Bösen nicht auf seinem eigenen Boden und mit seinen eigenen Mitteln und Logiken entgegenzutreten und sich auf diese Weise mit seiner Logik zu infizieren. Vielmehr gilt es, den Boden des Bösen nicht zu betreten, dem Bösen gegenüber abstinent zu bleiben, sich zu „desidentifizieren“, sich nicht seine Logik aufzwingen zu lassen oder seine Mittel zu übernehmen.“
Seidel bietet einige Beispiele, zitiert Wolfgang Borcherts berühmten Text „Da gibt es nur eins: Sag NEIN!“ und kommt immer wieder darauf zurück, dass Krieg keinen Frieden schaffe, seine Logik dem Frieden fundamental entgegen stehe. „Es ist die Botschaft fast jeder Kriegsgeneration und die der Bergpredigt zumal, dass der Krieg an sich, der Krieg als Option prinzipiell ausgeschlossen und mit einem absoluten Bann belegt werden muss.“ Ein aktuelles Beispiel ist dabei in seinen Augen ermutigend. Das Beispiel „Parents Circle – Trauernde Israelis und Palästinenser für Versöhnung“. Eltern, die ein Kind im Konflikt verloren haben arbeiten an der Entfeindung und träumen vom dauerhaften Frieden. Seidel schreibt:
„Sie tragen in ihre von der Feindschaftslogik beherrschten Kollektive die Botschaft, dass der Preis dieses Konflikts viel zu hoch ist und dass es auf beiden Seiten Menschen sind, die in ihrer Verletzlichkeit und Sehnsucht nach einem Leben in Frieden und Sicherheit gleich sind.“
Liebe oder Respekt
Heute brauche es eine wirkliche Wendung der Zeit, in der innerlich wie äußerlich die Friedenslogik gelebt wird. Es gilt, so schreibt Seidel, sich den Feindbildern zu verweigern und die umfassende Empathie zu erhalten, an unteilbaren Menschenrechten festzuhalten und an die „verwandelbare Kraft der Gewaltlosigkeit und Liebe“ zu glauben. Der Philosoph Andrick argumentiert mit rationalen Begriffen, die „Liebe“ des Theologen ist bei ihm der „Respekt“ als Gegengift gegen die Moralisierung. Es geht ihm um Respekt für den Mitbürger auf Basis der Staatsordnung. Er sieht sie als moralische Aufgabe und als Sache der demokratischen Grundüberzeugung, die von der Gleichheit der Bürger ausgeht. Und er geht noch weiter:
„Gleichen Respekt zu gewähren, ist die moralische Pflicht eines jeden, der mit dem Grundgesetz an die gleiche Würde aller Menschen glaubt und danach handeln will. Diese Pflicht ist unabhängig davon, ob in der Gesellschaft insgesamt Gerechtigkeit herrscht. Deshalb sollten wir die unparteiische Aufarbeitung der extremen Politik der letzten Jahre und etwaiger Korruption politischer Institutionen durch Wirtschaftsakteure zwar einfordern und auf sie hinarbeiten – wir wollten aber nicht auf sie warten, als könnten wir vor ihrem Eintreffen nichts tun, oder gar ihr Ausbleiben als Entschuldigung unserer Untätigkeit gebrauchen.“
Michael Andrick möchte, dass dem Regime des Moralismus die Gefolgsleute abhanden kommen, dass sozialzerstörerische Moralisierung nicht mehr geduldet wird. Hier setzt er bei jedem Einzelnen an, der auch beispielhaft für andere sein könne. Seidel eröffnet ähnliche Perspektiven wenn er schreibt:
„Es wird deutlich: Um die im Feld der Gewalt herrschenden Zerstörungskräfte zu bannen und Perspektiven ihrer Überschreitung zu eröffnen, bedarf es einer ‚Gegen-Realität‘, die ins Spiel gebracht und persönlich gelebt wird.“
Die persönliche Ebene hat einen großen Vorteil: Hier kann jeder Einzelne tätig werden. Während die große Politik von unten oftmals unveränderlich erscheint, kann jeder versuchen, die Logik der Spaltung im eigenen Umfeld zu durchbrechen. Das ersetzt nicht die mit Vighis Zitat oben angedeutete Analyse der gesellschaftlichen Umstände und den (organisierten) Versuch ihrer Veränderung. Für beides braucht es aber Menschen, die aus Liebe zu den anderen Menschen das Leben für möglichst viele verbessern wollen – weder der Krieg noch das Moralgefängnis machen irgend etwas besser. Die Bücher von Michael Andrick und Stefan Seidel bieten jedes für sich und auch gemeinsam eine Basis, über diese Verhaltensänderung nachzudenken und Wege der Entfeindung zu beschreiten. Wer den anderen nicht hassen kann, wer die Menschen als aufeinander angewiesen erkennt, der wird friedensfähig. Und genau das braucht die Gesellschaft heute.
Stefan Seidel, Entfeindet Euch. Auswege aus Spaltung und Gewalt, Claudius Verlag, 125 Seiten, 20 Euro
Michael Andrick, Im Moralgefängnis. Spaltung verstehen und überwinden, Westend Verlag, 173 Seiten, 18 Euro
Über den Autor: Helge Buttkereit, Jahrgang 1976, hat sein Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Journalistik mit einer Arbeit zu „Zensur und Öffentlichkeit in Leipzig 1806-1813“ abgeschlossen. Nach journalistischen Tätigkeiten bei verschiedenen Medien und Buchveröffentlichungen über die Neue Linke in Lateinamerika arbeitet er aktuell in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.
Anmerkungen
(1) Rainer Mausfeld, Warum schweigen die Lämmer? Wie Elitendemokratie und Neoliberalismus unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstören, Frankfurt am Main, Westend Verlag 2018, S. 72
(2) Fabio Vighi, Die Untergangsschleife: COVID-19 und das Zeitalter der kapitalistischen Dauerkrise, in: Andreas Urban (Hrsg.), Schwerer Verlauf. Corona als Krisensymptom, Wien 2023, S. 21-46, hier: S. 33
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