Gedanken zum 1. August 2020 in Berlin
PAUL SCHREYER, 3. August 2020, 9 KommentareWieviele Menschen haben demonstriert?
Zunächst einige Fakten zum strittigen Punkt der Teilnehmerzahl: Die Polizei spricht von 20.000 Personen, Sympathisanten der Versammlung hingegen von einer Million. Die ARD veröffentlichte am 2. August einen „Faktenfinder“-Beitrag, der feststellt, dass man „selbst bei großzügigen Berechnungen nicht auf deutlich über 20.000 Menschen“ käme, die Angaben der Polizei also richtig wären. Stimmt das? Multipolar hat nach Daten und Vergleichszahlen gesucht und nachgerechnet.
Die Demonstranten versammelten sich nach ihrem Zug durch die Stadt am Nachmittag auf der Straße des 17. Juni zwischen dem Brandenburger Tor und der Siegessäule. Dieser 1,9 Kilometer lange Abschnitt ist als „Partymeile“ bekannt, unter anderem durch die über viele Jahre dort stattfindende Loveparade. Die sechsspurige Straße ist, zusammen mit dem Mittelstreifen, den Parkspuren, Rad- und Gehwegen sowie eingeschlossenen Grünstreifen ungefähr 35 Meter breit. Vorsichtig geschätzt ergibt sich daraus eine Gesamtfläche von 35 mal 1.900 gleich 66.500 Quadratmetern. Da die Fläche zu den Außenseiten nicht begrenzt ist, sondern nahtlos in den Tiergarten übergeht, ist dies ein Minimalwert. Die Veranstalter der offiziellen Silvesterfeierlichkeiten in Berlin sprechen von einer Fläche der Partymeile von 80.000 Quadratmetern.
Wieviele Menschen befanden sich durchschnittlich auf einem Quadratmeter? Auf einer schematischen Darstellung eines internationalen Experten für die Sicherheit und Planung großer Menschenmengen ist zu sehen, wie es von oben betrachtet aussieht, wenn in einer Menge ein, zwei, drei oder mehr Menschen pro Quadratmeter stehen. Für die Demonstration vom 1. August erscheint angesichts der vorliegenden Filmaufnahmen und dieses Schemas eine Zahl zwischen zwei und vier realistisch. Daraus ergibt sich bei 80.000 Quadratmetern eine Teilnehmerzahl zwischen 160.000 und 320.000. Dass eine solche Menge tatsächlich auf diesem Staßenabschnitt Platz findet, wird bestätigt durch Aussagen des Leiters des Straßen- und Grünflächenamtes Berlin Mitte, Harald Büttner, von 2013, demzufolge 300.000 Besucher auf der Partymeile möglich wären.
Zu den Polizeiangaben: Selbst wenn man eine angesichts der vorliegenden Bilder eher niedrig erscheinende Zahl von zwei Personen pro Quadratmeter annimmt, würde das bei 20.000 Demonstranten bedeuten, dass der Platz zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule nur zu einem Achtel gefüllt und somit zu fast 90 Prozent leer gewesen wäre – was offenkundig nicht stimmt. (Zur Teilnehmerzahl siehe auch die nachträgliche Ergänzung am Ende des Artikels.)
Fazit: Die angebliche „eine Million“ ist den vorliegenden Daten zufolge ebenso stark übertrieben (da faktisch auf dieser Fläche unmöglich), wie die Polizeiangaben von 20.000 extrem untertrieben sind. Realistisch erscheint eine Besucherzahl im unteren bis mittleren sechsstelligen Bereich. Das heißt:
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Es handelt sich wohl tatsächlich um die größte regierungskritische Demonstration in Deutschland seit dem 4. November 1989.
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Polizei und Medien täuschen die Öffentlichkeit massiv.
Die Polizei „beendet“ die Demonstration
Das Schlüsselereignis des Tages war die Besetzung der Bühne durch die Polizei kurz vor 17 Uhr und die anschließende Durchsage: „Ihre Versammlung ist hiermit aufgelöst“ – was vom Publikum mit den Sprechchören „Wir bleiben hier“ und „Wir sind das Volk“ quittiert wurde.
An dieser Aktion fallen zwei Aspekte ins Auge. Der eine ist der formale: Bürgern das Demonstrieren verbieten zu wollen, weil sie amtliche Vorgaben (Abstand, Maske) nicht befolgen, deren Strittigkeit ja überhaupt erst das Anliegen (!) ihres Protestes ist, grenzt ans Absurde. Es gehört zur Wahrheit, dass aktuell fast 20 Prozent der Deutschen die Corona-Maßnahmen der Regierung für übertrieben halten. Man darf annehmen, dass sich diese 15 Millionen Bundesbürger durch die Demonstranten in Berlin zum großen Teil vertreten fühlen – das Anliegen also eine erhebliche Legitimation in der Bevölkerung besitzt.
Der andere, ebenso entscheidende Aspekt der Demo-„Auflösung“ ist der politische: Die Auflösung ließ sich nicht durchsetzen. Die Bürger ignorierten die Anweisung einfach und blieben friedlich stehen – mit Erfolg. Wie sollte es auch anders sein: Der Protest einer sechsstelligen Menge lässt sich grundsätzlich nicht „von oben“ beenden, ohne dabei massive (und schlimme Bilder erzeugende) Gewalt anzuwenden. Hätte die Polizei solche Gewalt angewandt, wäre die Regierung in der Folge unter massiven Druck geraten – ein PR-Supergau.
Dies ist das Wesen und der Sinn großer Demonstrationen: Eine Regierung, und zwar egal ob nun in Paris, Peking oder Berlin, kann hunderttausende protestierende Menschen nicht ignorieren. Menschen in so großer Zahl sind eine Kraft, die allein durch ihren friedlichen Protest Tatsachen schafft. Die Bundesregierung, der diese Erfahrung neu ist, steckt zur Zeit mitten in einem Lernprozess. Das Verhalten der Polizei zeugte von großer Rat- und Hilflosigkeit. Man ist, so scheint es, mit seinem Latein am Ende.
Der 1. August 2020 hat eine Tür für politische Möglichkeiten aufgestoßen.
Livestreams der Demonstration:
Stefan Bauer (9 Stunden)
Samuel Eckert (6 Stunden)
RT Deutsch (8 Stunden)
Anmerkung: Der öffentlich-rechtliche Nachrichtensender Phoenix (Slogan: „Das ganze Bild“) berichtete nicht live. Dort wurde am Nachmittag der Demonstration folgendes Programm ausgestrahlt: 15:00 Uhr: Königliche Dynastien – Die Grimaldis, 15:45 Uhr: Königliche Dynastien – Die Bernadottes, 16:30 Uhr: Königliche Dynastien – Die Welfen, 17:15 Uhr: Die Adria der Habsburger, 18:00 Uhr: Habsburg und die Alpen.
Die Tagesschau litt unter ähnlichem Realitätsverlust: Sie meldete am Abend des 1. August in einem Bericht zur Demonstration, „dass die Polizei eingriff und die Veranstaltung beendete. Die meisten der etwa 20.000 Teilnehmenden verließen dann unter Protest langsam den Ort. Wer sich weigerte, wurde von der Polizei entfernt.“ Das Gegenteil war der Fall, wie die vorliegenden Livestreams dokumentieren.
Ergänzung 4.8.: Es fehlen weiterhin Luftbilder von der Demonstration, die die Polizei aber offenkundig besitzt, da sie mit einem Hubschrauber über dem Geschehen kreiste. Rubikon-Herausgeber Jens Wernicke wird Ende der Woche auf Herausgabe dieser Bilder klagen, sollten sie bis dahin nicht vorgelegt werden. (Zusatzinformationen der Polizei dazu in der 2. Ergänzung unten.)
Beim Foto, mit dem der ARD Faktenfinder argumentiert, ist der Aufnahmezeitpunkt unklar, womit die Beweiskraft in sich zusammenfällt. Selbstverständlich schwankte die Besucherzahl zwischen 11, 13 und 15 Uhr erheblich. (Der Aufnahmezeitpunkt ist inzwischen geklärt, siehe die 2. Ergänzung unten.)
Eine Sichtung von Videomaterial macht außerdem deutlich, dass viele tausend Demonstranten nicht direkt auf der Straße des 17. Juni standen, sondern sich im unmittelbar angrenzenden Tiergarten aufhielten, um an diesem knapp 30 Grad heißen Tag Schatten zu suchen.
Mit Blick auf die Gesamtteilnehmerzahl existieren außerdem belastbare Filmaufnahmen. Bevor die Menge sich auf der Straße des 17. Juni versammelte, zog sie, wie erwähnt, als Umzug durch die Stadt. Ein Beobachter filmte die vorbeiziehende Menge von einem festen Punkt aus (Standort Friedrichstraße, Brücke über die Spree, Blickrichtung Süden). Im Video ist ab Minute 27 zu sehen, wie die dichtgedrängte Menge in normaler Schrittgeschwindigkeit (ca. 4 km/h) vorbeizieht. Nach etwas über einer Stunde ist der Zug noch immer nicht vorbei. Seine Länge beträgt somit mehr als vier Kilometer. Die Friedrichstraße ist etwa 20 Meter breit und circa 20 Personen laufen nebeneinander. Geht man, zurückhaltend geschätzt, von einer Person pro Quadratmeter aus, so enthält der Zug mehr als 80.000 Menschen. Die Polizeiangabe von 20.000 Menschen ist auch durch diese Videoaufnahme als grobe Fälschung entlarvt.
Weiterhin liegt inzwischen eine Zeugenaussage vor (Transkript hier), wonach ein Einsatzleiter der Polizei am frühen Nachmittag dem mit Bussen an der Demonstration beteiligten Busunternehmer Thomas Kaden mitteilte, dass die Polizei selbst von "800.000 Menschen in diesem Demonstrationszug" ausgehe. Es scheint, als ob später, irgendwann im Laufe des Nachmittages eine offizielle Sprachregelung ("20.000 Demonstranten") ausgegeben wurde, an die die Polizei sich fortan auch hielt. Wer dazu, eventuell mit Insiderwissen, nähere Angaben machen kann, der melde sich bitte bei Multipolar.
2. Ergänzung 4.8.: Correctiv hat inzwischen einen Faktencheck zur Frage der Teilnehmerzahl veröffentlicht. Darin wird die Polizei zu den von ihr gemachten Luftbildern so zitiert: "Der Polizeihubschrauber hat eine Kamera an Bord. Von dort findet eine Direktübertragung der Bilder an den Führungsstab statt. Dieser nimmt anhand der Bilder dann eine Schätzung vor. Gespeichert werden die Bilder jedoch nicht, da dies datenschutzrechtlich verboten ist."
Im Faktencheck-Artikel von Correctiv findet sich ein ähnliches Foto der Demonstration wie im Beitrag des ARD Faktenfinder. Correctiv gibt an, von der dpa erfahren zu haben, dass dieses Bild zwischen 16:03 Uhr und 16:10 Uhr entstanden ist, also etwa auf dem Höhepunkt der Veranstaltung.
Multipolar hat heute mit dem Fotografen des Bildes telefoniert und dabei erfahren, dass das Bild von ihm von der Spitze der Siegessäule aus gemacht wurde, also keine "Luftaufnahme" ist, wie Correctiv schreibt. Zur Uhrzeit des Bildes verwies der Fotograf auf die dpa. Wir haben die Zeitangabe unabhängig überprüft. Da durchgehendes Filmmaterial (Livestream Stefan Bauer) von der Demonstration existiert, auf dem auch eine Polizeidurchsage mit der Zeitangabe 16:52 Uhr festgehalten ist (bei 5:37:00) existiert ein Referenzpunkt, anhand dessen man eine Aufnahme der Bühne um 16:03 finden kann (bei 4:48:30). Anhand der Position der Personen auf der Bühne ist ersichtlich, dass die Zeitangabe der dpa zutrifft.
Was Correctiv und die meisten anderen Medien allerdings übersehen (und auch in der ersten Version dieses Beitrags nicht berücksichtigt wurde): Auf dem Foto (ein ähnliches Bild eines anderen Fotografen findet sich hier) ist nur ungefähr die halbe begehbare und befestigte Straßenbreite sichtbar, gut 18 von 35 Metern. Der Rest – Parkspuren, Rad- und Gehwege, sowie dazwischenliegende Grünstreifen, die ebenfalls mit Menschen gefüllt waren – sind im Foto durch Baumkronen verdeckt. Darüberhinaus hielten sich, wie oben schon erwähnt, viele Tausend Menschen abseits der Straße und Gehwege im unmittelbar angrenzenden schattigen Tiergarten auf – was durch zahlreiche Fotos und Videos belegt ist (danke an mehrere Leser, die uns Bilder zusandten). Daher ist es durchaus möglich, dass auf dem Foto, das ARD Faktenfinder und Correctiv zeigen, tatsächlich nur eine Menschenmenge im mittleren fünstelligen Bereich zu sehen ist – was aber wenig über die Gesamtzahl der Teilnehmer aussagt.
3. Ergänzung 5.8.: Der Journalist Robert Fleischer hat die bislang gründlichste Recherche zur Frage der Teilnehmerzahl veröffentlicht. Er präsentiert neben dem Busunternehmer Thomas Kaden einen weiteren Zeugen vor der Kamera – den Versammlungsleiter des Umzugs durch die Stadt, Nils Wehner –, der ebenfalls berichtet (Minute 9 des Videos), am frühen Nachmittag von dem für ihn zuständigen Verbindungsmann der Polizei erfahren zu haben, der Umzug hätte Luftbildern der Polizei zufolge geschätzt 800.000 Teilnehmer. Offenbar hatte der größte Teil der Demonstranten des Umzugs es gar nicht bis auf die Straße des 17. Juni geschafft.
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