Maybrit Illner, 1988 Journalistik-Absolventin in Leipzig, am 1. Oktober 2020 in ihrer Sendung | Bild: Screenshot ZDF

Journalistenausbildung: Warum das Fass noch einmal aufgemacht werden muss

Dieser Text erzählt eine deutsche Geschichte, die zwar in der DDR spielt und schon vorher angefangen hat, aber noch lange nicht vorbei ist. Auf den ersten Blick hat diese Geschichte nichts zu tun mit den Dingen, die uns gerade auf den Nägeln brennen. Es geht nicht um Klima, Natur oder Pandemien und auch nicht um die großen Fragen von Krieg und Frieden oder von Arm und Reich. Warum, so ließe sich das zuspitzen, beschäftige ich mich mit der Ausbildung von Journalisten, wenn die Zukunft der Menschheit auf dem Spiel steht? Und warum steige ich dafür gewissermaßen in die Gruft und schreibe nicht über die Medienrealität der Gegenwart?

MICHAEL MEYEN, 15. November 2020, 0 Kommentare

Anmerkung: Dieser Text ist ein Auszug aus dem im Oktober erschienenen Buch „Das Erbe sind wir. Warum die DDR-Journalistik zu früh beerdigt wurde. Meine Geschichte“.

Ich bin »Exil-Ostdeutscher«. So hat Yana Milev, 1969 in Leipzig geboren, Menschen genannt, die in der DDR aufgewachsen und dann in ein »fremdes Land« gekommen sind, ohne ihre »Heimat« zu verlassen. (1) Mein Gepäck habe ich bei der Ankunft versteckt. Ich musste dieses Gepäck verstecken, weil all das, was mich vorher ausgemacht hat, im größeren Deutschland verpönt war. Ich konnte nichts vom Widerstand berichten oder vom Überleben in einer Nische. Am 9. Oktober 1989 war ich in Leipzig, aber nicht in der Nikolaikirche, sondern in einer Parteiversammlung an der Sektion Journalistik. Und als ich mit Hammer und Zirkel im Ährenkranz demonstriert habe, riefen die meisten schon »Wir sind ein Volk«.

Die Mehrheit hat nicht immer Recht und der Sieger schon gar nicht. Im Dezember 1990 hat die sächsische Regierung beschlossen, meinen Studiengang zu schließen – angetrieben vom Trommelfeuer der Leitmedien und später bestätigt durch Publikationen, die alles in Bausch und Bogen verworfen haben, was an der Sektion Journalistik in Leipzig gemacht worden war. Die Folgen konnte ich an mir selbst beobachten. »Exil-Ostdeutsche« wie ich haben versucht, die besseren Westdeutschen zu werden, und dabei auch all das tief in uns vergraben, was den hegemonialen Diskurs hätte aufbrechen können. Dieser Mechanismus scheint mir universell zu sein und wäre schon für sich genommen Grund genug gewesen, dieses Buch zu schreiben. Wer Erfahrungen oder Ideen hat, die der dominanten Deutung widersprechen, muss entweder schweigen, um die eigene Reputation nicht zu gefährden, oder in Arenen ausweichen, die der Stimme von vornherein jede Wucht nehmen.

In diesem Buch geht es um mehr. Die kleine Sektion Journalistik steht hier pars pro toto für einen Vorgang, den Yana Milev »Kulturkatastrophe« nennt. Was diese Soziologin aus der Vogelperspektive und mit einem Vokabular macht, das keinen Raum für Zweifel lässt (Regime Change, Schockstrategien, Landnahme, struktureller Kolonialismus, neoliberale Annexion), (2) schaue ich mir aus der Nähe und mit dem Blick des Insiders an, der die DDR nicht nur mit der Bundesrepublik oder mit den USA vergleichen kann, sondern auch weiß, wie es ab 1991 weitergegangen ist in seinem Feld. Was ich dabei sehe, erlaubt zu verstehen, warum der deutsche Osten auch 30 Jahre später anders ist als der Rest des Landes.

Punkt 1: Es gibt keine Sektion Journalistik mehr. Nichts, nada, niente. Inhalte weg, Personen weg, alles weg. Entsorgt auf dem Müllhaufen der Geschichte. Etwas weniger prosaisch: Die westdeutsche Fachgemeinschaft hat 1991 einen neuen Standort bekommen und in Leipzig etwas ausprobiert, was woanders nicht so leicht gegangen wäre. Mit der Tradition des Standorts oder gar mit den Menschen dort hatte das alles nichts zu tun. Motto: ein bisschen Fußvolk übernehmen (in der Verwaltung, im akademischen Mittelbau), das Sagen aber haben wir. Mehr noch: Wir schreiben künftig auch eure Geschichte und die gemeinsame Geschichte sowieso. Karl Friedrich Reimers, der als Gründungsdekan aus München nach Leipzig kam, hat sich noch Ende 2019 bitter beklagt, als er einmal nicht auf einem einschlägigen Podium sitzen und sein Wunderwerk beweihräuchern durfte.

Punkt 2: Wer von 1990 spricht, muss von den Menschen sprechen und davon, was politische Entscheidungen aus Wünschen und Träumen machen. Der Lebensweg der Älteren war von einem Tag auf den anderen zu Ende. Übergang in das bezahlte Nichtstun, mit Mitte 50, wenn sich langsam die Souveränität einstellt, die jede akademische Ausbildung braucht. Die etwas Jüngeren wie Jürgen Schlimper, Wolfgang Tiedke oder Wulf Skaun, drei meiner Helden aus Studententagen, gerade auf dem Sprung in Richtung Professur, sind ins Nichts gefallen. Ökonomisch ist dieser Satz falsch, weil das reiche Deutschland jedem irgendwo ein Auskommen bietet. Intellektuell aber, und darum geht es hier, hat dieses Land all das Potenzial verschenkt, das in der DDR gewachsen war und das heute schon deshalb wichtig wäre, weil es den Umgang mit gesellschaftlichen Krisen einschließt und das Wissen, dass sich die Verhältnisse selbst dann verändern lassen, wenn sie in Stein gemeißelt scheinen.

Das führt direkt zu Punkt 3: Mit der Sektion Journalistik ist ein Paradigma entsorgt worden, das Forschung und Berufspraxis verbunden hat. Anders formuliert: Wer heute fragt, wie man die Redaktionen aus der Umklammerung der Politik befreien kann oder von den Zwängen einer kommerziellen Medienlogik, für die Aufmerksamkeit alles ist und alles andere nichts, der findet hier eine mögliche Antwort. Das klingt zunächst befremdlich. Das ›rote Kloster‹ in Leipzig, der Prototyp einer Schule für Parteijournalisten, als Lösung für die Medienkrise der Gegenwart? Ich werde den Spieß umdrehen und zeigen, wie die Gängelung durch die Herrschenden ein Journalismusideal füttern konnte, bei dem »umfassende demokratische Öffentlichkeit« im Zentrum steht. Handwerk statt Haltung. Alle Perspektiven und Interessen zu Wort kommen lassen, ohne die (Ab-)Wertung gleich mitzuliefern.

So gesehen, schreibe ich doch über die Medienrealität der Gegenwart. Ich lasse Menschen sprechen, die marginalisiert worden sind oder sich freiwillig zurückgehalten haben, weil sie in der DDR zur Elite gehört haben oder in diesem Land etwas werden wollten. Wir brauchen die Geschichten dieser Menschen. Wir brauchen die vielen Ideen, die in den anderthalb Jahren des langen 89er Herbstes reifen konnten, als die alten Fesseln abgestreift waren und die neuen nur eine Ahnung am Horizont. Ohne diese Geschichten und ohne diese Ideen können wir nicht verstehen, warum es im Osten immer noch gärt und wie wir die Probleme angehen müssen, die das deutsch-deutsche Klein-Klein schon jetzt in den Hintergrund rücken lassen.

Was der Abriss der Leipziger Journalistik mit der Krise der Gegenwart zu tun hat

(…) Das »Ost-Fenster« ist wieder auf (geöffnet auch von der AfD), (3) und niemand, der guten Journalismus für eine Grundfeste jeder Demokratie hält, kann es sich heute leisten, eine Idee nur deshalb auszublenden, weil sie von den falschen Leuten kommt. Die Leipziger Idee in drei Sätzen: 1. Journalisten gehören an eine Universität. 2. Sie können dort ihr Handwerk lernen – wenn die Forschung darauf zielt, die Ausbildung zu optimieren, und wenn es der Personalbestand zulässt, in kleinen Gruppen zu üben. 3. Vor allem aber bietet die Universität die Chance, einen Kompass für den Beruf zu finden, der sich nicht permanent um sich selbst dreht und auch nicht nur auf das Geld zeigt oder auf die Mächtigen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft.

Dem Journalismus fehlt so ein Kompass. Vielleicht war das schon immer so, und wir haben es nur nicht gemerkt, weil es Deutschland gut ging und es wenig Gründe gab, an allem zu zweifeln. Für mich selbst kann ich sagen: Ich habe lange gebraucht, dieses Land zu verstehen und einen Platz in der neuen Heimat zu finden. Mein Damaskuserlebnis ist in der Einleitung angedeutet worden: eine Studie zur DDR im kollektiven Gedächtnis der Deutschen. (4) Danach wusste ich: Was uns Intendantinnen, Verleger und Chefredakteure am Sonntag versprechen, was die Lehrbücher predigen und was Gesetzestexte einfordern (etwa: Vielfalt, Neutralität oder Objektivität), hat mit der Medienrealität nicht viel zu tun. Diese Realität spiegelt den Status quo der Machtverhältnisse, weil sie von Akteuren bestimmt wird, die entweder direkt in die Redaktionen hineinregieren oder über die Ressourcen verfügen, um die Handlungslogik eines kommerziellen Mediensystems für sich nutzen zu können. (5) Die Ukraine, (6) die Flüchtlinge, (7) Corona. Wer mit dem zufrieden ist, was uns vor allem die Leitmedien zu diesen Themen geboten haben, kann das Buch an dieser Stelle zuklappen.

Für alle anderen: Auf den Ruinen der DDR ist ein Journalismusideal gewachsen, das nah dran ist an dem, was Horst Pöttker »Öffentlichkeit als Auftrag« nennt. Pöttker, ein Hamburger Soziologe und Medienpraktiker, Jahrgang 1944, hat als junger Mann über Anarchismus geschrieben, Robert Mugabe und Pol Pot bewundert, bevor sie Despoten wurden, und dann in seiner Dissertation »untersucht, ob es nicht vielleicht doch möglich gewesen wäre, Axel Springer zu enteignen«. Das Fazit von 1978, formuliert 40 Jahre später: »Ich meine, ja. Artikel 14 und 15 des Grundgesetzes sagen, dass Enteignungen zulässig sein können, wenn es um das Allgemeinwohl geht«. (8)

Horst Pöttker kam 1992 als Gastprofessor nach Leipzig, entschied sich dann aber doch für Dortmund. Schon damals fand er »ein gerüttelt Maß an innerer Unsicherheit bei den Journalisten und ihren Auftraggebern«. Was soll Journalismus tun und lassen? Was können wir von ihm erwarten und was nicht? Die Antwort von Horst Pöttker: Öffentlichkeit herstellen. Das heißt auch: Darauf verzichten, eine ›Marke‹ zu werden. Andere sprechen lassen, anstatt selbst ›Haltung‹ zu zeigen. Und tatsächlich über »alle« und »alles« berichten, weil wir sonst in unseren Blasen bleiben und annehmen müssen, dass unsere Sicht auf die Welt die einzig mögliche ist. Horst Pöttker sagt: Öffentlichkeit ist nicht einfach da. Deshalb brauchen wir den Journalismus. (9)

Der DDR hat ein solcher Journalismus gefehlt. Die herrschende Partei hat alles aus der Medienrealität ferngehalten, was ihr irgendwie gefährlich schien. Schwächen, die der Westen nutzen könnte, Stimmen, die die eigenen Leute womöglich verunsichern, Kritik am eigenen Lager, Lob für den Klassenfeind und am Ende sogar jedes Lob für den großen Bruder Gorbatschow. (10) Das Projekt DDR ist auch an dem Zerrbild gescheitert, dass die Medienrealität von der Wirklichkeit gezeichnet hat. Wer das erlebt hat und dieses Projekt mochte, der weiß das – auch und gerade, wenn er oder sie in Leipzig Journalistik studiert oder gelehrt hat. Nur: Wissen und öffentlich sprechen (können), sind zwei verschiedene Dinge. Der hegemoniale Diskurs hat die ostdeutschen Eliten gezwungen, in der »Erzählung über sich selbst« (bei Anthony Giddens ein Synonym für Identität) (11) alles umzudeuten oder zu unterdrücken, was mit der DDR zu tun hatte, wenn sie sich denn im neuen Deutschland nicht um Kopf und Kragen reden wollten. (12)

(…) Ein zweites Beispiel, wieder aus Sachsen, diesmal von der Bildzeitung, für die Wiebke Müller seit einer halben Ewigkeit Rathausreporterin in Dresden ist. Da das Buch schon ziemlich lang geworden ist, wiederhole ich das: Wiebke hat mit mir studiert. Leipzigerin, Vater aus Nigeria. Sie erzählt von den »berühmten Freitagsrunden« bei der Jungen Welt, Stichwort »Trinkkultur« im DDR-Journalismus. »Das war aber auch ein Brainstorming, bei dem sich die Herzen öffneten. Dort konnte man auch als Volontärin reden, wie auf den Abteilungskonferenzen. Wehe, man hatte keine Idee. Das ist heute auch bei der Bildzeitung extrem wichtig. Für mich war das eine gute Schule«.

Bei ihren Chefs hat die Schülerin Eindruck gemacht. Als sie sich bei der Bildzeitung bewirbt, trifft sie Klaus-Dieter Kimmel, einen der vielen wunderbaren Sportreporter der Jungen Welt. Kimmel leitet nun die Redaktion »Neue Bundesländer« in Leipzig und freut sich, dass er Wiebke nach Dresden schicken kann. Dort arbeitet sie zunächst als Gerichts- und Polizeireporterin. Das Bild-Klischee schlechthin. Klinkenputzen bei der Oma, um an ein Foto vom Enkel zu kommen. Heute braucht sie mehr als das, was der OB auf der Pressekonferenz erzählt. »Wir wollen sagen, was hinter den Kulissen passiert und was wirklich geplant wird. Man braucht Belege und muss sehr viel tiefer recherchieren als damals bei der Jungen Welt. Hier brauche ich Zahlen und Dokumente. Mit der Debatte um Fake News ist der Druck noch größer geworden. Es gibt ja auch den Bildblog. Dort wird sofort quergeschossen, wenn etwas nicht stimmt. Ich muss mit den Leuten reden. Und lästig sein, wie eine Klette«. (13)

Dann kamen die Flüchtlinge, und bei Wiebke Müller schrillten die »Alarmglocken«, wie sie das nennt. »Das ist vielleicht ein Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschen. Wir kennen das. In Dresden baute sich das ab Ende 2014 auf. Es gab eine Vorlage im Rathaus. Asylbewerberheime, verteilt über die Stadt. Angeblich alternativlos. Wir hatten das exklusiv. Plötzlich tauchte bei uns in der Zeitung dieser Stempel auf. Refugees welcome. Wir helfen. Chefredakteursprinzip«.

Wieder eine »offizielle Linie«, jetzt nicht aus dem Zentralrat der FDJ oder aus dem ZK der SED, sondern aus dem eigenen Verlag, ausgehandelt mit den Regierenden. Wieder eine »Schere im Kopf«, wie beim Übungssystem im Studium, »bei dem man immer überlegt hat, was sie hören wollen. Und plötzlich ging es um Vorzeigeflüchtlinge, die toll integriert sein sollten, obwohl sie erst zwei Monate da waren. Das wollte ich so nicht. Ich hatte ja auch die Gegenmeinung«. Wiebke erzählt von den Vorlesungen bei Renate Damm, Springer-Justiziarin, die uns im Sommer 1991 für das westdeutsche Medienrecht begeistert hat. Binnenpluralismus. Immer auch die andere Seite hören. »Es kann sein, dass jemand pauschal Refugees welcome sagt. Dann braucht es aber auch den anderen, der Vorsicht ruft«.

Eine Reporterin wie Wiebke Müller kennt viele Polizisten. So jemand weiß, wenn in internen Berichten etwas anderes steht als in offiziellen Mitteilungen, und reagiert allergisch, wenn die Integrationsministerin die Presse in eine Turnhalle ruft, »ordentlich hergerichtet«, und man dort mit keinem Flüchtling reden darf. »Keine Vorbehalte in der Bevölkerung schüren. Das kannte ich. Das ging vielen Kollegen in meinem Alter so, die den Journalismus in der DDR noch bewusst erlebt haben«. Wiebke Müller hat sich bei der Chefredaktion beschwert. Tenor: Schluss mit dem »Wohlverhalten gegenüber der Obrigkeit«. Wir dürfen die Leser nicht im Stich lassen. Und sie hat »sofort laut nein gesagt«, als die »Medienkampagne« gegen Pegida begann.

Wenn ich das hier so aufschreibe, klingt das wie die natürlichste Sache der Welt. Eine Journalistin, die für ihr Berufsethos kämpft und für den Auftrag Öffentlichkeit. Der »Gegenwind« verliert sich zwischen den Zeilen. »Ich kam mir vor wie bei einem Tribunal. Das kam mir sehr bekannt vor. Du zweifelst doch nicht an der guten Sache?« Was hast Du geantwortet? »Ich habe mich auf das Grundgesetz berufen. Meinungsfreiheit, Demonstrationsfreiheit. In Deutschland genehmigt man keine Demonstrationen. Man meldet das an, und niemand hat das ideologisch zu prüfen. Da musste ich in der Redaktion aber schon argumentieren. Gerade den Jüngeren war das nicht so bewusst. Die wollten Flagge zeigen. Haltung. Mathias Döpfner hat mich bestätigt. Handwerk statt Haltung. Abstand halten. Distanz, gerade zu Weltverbesserern und Idealisten. Kann ich noch ein Beispiel erzählen?« Klar. »Ein leitender Journalist kam nach Dresden in die Redaktion und sagte, dass er jetzt zum Ministerpräsidenten gehe. Das ›gemeinsame Vorgehen gegen Pegida‹ besprechen. Wie in der DDR. Da stand die Richtung schon fest«.

Wer die Bildzeitung liest, der weiß, wie die Sache ausgegangen ist. Der »Krawallflüchtling« musste auch deshalb ins Blatt, weil die Auflage im Sinkflug war. Auf Julian Reichelt, seit Anfang 2019 Chefredakteur, lässt Wiebke trotzdem nichts kommen. »Er kommuniziert sehr gut. Als Redakteurin kann ich in der Bildbox meckern, anonym. Er verspricht, dass alles unter uns bleibt. Er hat eine Onlinekonferenz, wo er das dann alles vorliest«. Dass Julian Reichelt die Bildzeitung Ende April 2020 als erstes Leitmediun aus der Corona-Einheitsfront ausscheren ließ, kann man mit einem Richtungskampf in der Unionsfraktion erklären. Es dürfte aber auch mit Redakteuren zu tun haben, die den Anspruch Vielfalt ernstnehmen. (14)

Wie der Diktaturdiskurs den Journalismus deformiert

(…) Wer gezwungen ist, immer wieder in seine Vergangenheit einzutauchen und sich selbst zu erklären, tritt auch in einem öffentlichen Beruf anders auf als Menschen, die einen solchen Bruch nicht erlebt haben und ganz selbstverständlich annehmen dürfen, zu ›den Guten‹ zu gehören. (15) Wenn der französische Propagandatheoretiker Jacques Ellul Recht hat und die herrschende Ideologie tatsächlich vor allem von »erfolgreich sozialisierten Gesellschaftsmitgliedern« (16) verbreitet wird, von Menschen, die das gar nicht merken können, weil sie nichts anderes kennen, (17) dann sind die Biografien der Leipziger Diplomjournalisten so etwas wie ein Garant für einen Journalismus, der sensibel ist für jede Form von Meinungsmanipulation und sich dem entzieht, wo immer es geht. Noch einmal Uwe Madel: »Ich bin immer für eine kritische Reflexion, die auch nach der eigenen Verantwortung fragt. Was hätte man sehen können? Vielleicht wollte ich auch deshalb nicht der hart aufklärende, investigative Journalist sein, der der alles besser weiß und anderen ihre Fehler vorhält. Manche Kollegen tun ja so, als ob sie die besseren Menschen wären«.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Es gibt viele großartige Journalistinnen und Journalisten, die nicht in der DDR aufgewachsen sind oder dort auf der anderen Seite der Barrikade standen. Bei den Leipziger Absolventen, und nur das will ich hier sagen, ist der »Dienst an der Öffentlichkeit« gewissermaßen eingebrannt. Wer einmal erlebt hat, wie das heute Selbstverständliche morgen nicht mehr gilt, hält nichts mehr für gegeben. Zur Wirklichkeit dieser Journalisten gehört allerdings ein DDR-Diskurs, der ihnen allenfalls einen Platz in der zweiten oder dritten Reihe zuweist oder gleich ganz bezweifelt, dass sie überhaupt öffentlich sprechen dürfen. Die Folge für die »Seele der Demokratie« habe ich beschrieben: eine Selbstbeschränkung, die sich genauso auf die beruflichen Ambitionen bezieht wie auf das Spektrum der Themen und Perspektiven, zu denen man sich äußert. Das »Gespräch« der Gesellschaft (18) ist so zu einem Selbstgespräch der Westdeutschen geworden.

(…) Im öffentlich-rechtlichen Universum gab es auch eine einfache Antwort auf die Frage, warum Maybrit Illner und Wolf-Dieter Jacobi (um nur zwei herauszugreifen) einen Platz nahe an der Sonne bekommen hatten und nicht (auch wieder nur exemplarisch) Andreas Rook, Uwe Madel oder Thomas Datt. Ganz jenseits aller persönlichen und fachlichen Qualitäten, die bei jedem aus diesem Quintett unbestreitbar sind: Die neuen Herren aus dem Westen brauchten Fußvolk aus dem Osten, möglichst fertig ausgebildet und unbelastet noch dazu.

(…) Anders als Uwe Madel hat Wolf-Dieter Jacobi eine Mentorin gefunden – Ulrike Wolf, die als Direktorin des Landesfunkhauses aus Hamburg nach Dresden kam. Und, nicht unwichtig: Wie Maybrit Illner, Diplom 1988, hat Wolf-Dieter Jacobi im Sport angefangen und nicht bei der Aktuellen Kamera oder bei einem Politikmagazin wie Objektiv.

(…) Nur nicht auffallen. Sich nicht exponieren und damit auch nichts produzieren, was Gegner auf die Idee bringen könnte, die DDR-SED-Propaganda-Kommunismus-Keule zu schwingen. Normalerweise interessiert sich das Publikum nicht für die Menschen hinter den Texten und Sendungen. Normalerweise kennt das Publikum nicht einmal die Namen der Reporter und Redakteure, wenn sie nicht jeden Tag auf dem Bildschirm erscheinen. Das ändert aber nichts an der Angst, plötzlich ›enttarnt‹ zu werden, doch noch abzustürzen und alles zu verlieren.

Nach diesen Gesprächen stand für mich fest: Der Diktaturdiskurs bringt alle zum Schweigen, die etwas anderes über die DDR erzählen könnten, und reproduziert sich damit selbst. Mehr noch: Der Diktaturdiskurs unterdrückt auch bei allen anderen Themen jede Perspektive, die dem neoliberalen Wertekanon widerspricht.

(…) Das Gute an so einer Recherche ist: Man muss nicht aufhören, wenn das Ergebnis festzustehen scheint. (…) Ich habe dann noch mehr lebende Gegenbeweise gefunden. Leipziger Diplomjournalisten in Leitungsjobs, die in der Öffentlichkeit mit ihren Namen und damit auch mit ihrer Biografie für das einstehen, was sie denken. Michael Seidel bei der Schweriner Volkszeitung, Claus Stäcker bei der Deutschen Welle. Bei diesen Gesprächen habe ich gelernt, dass der hegemoniale Diskurs nicht allmächtig ist. Es kommt vielmehr auf die Identität an – auf die Fähigkeit, das Studium an der Sektion Journalistik so in die dominante Erzählung über die DDR einzubauen, dass Image und Selbstwert keinen Schaden nehmen. Dass man keine Angst haben muss, wenn es um ›früher‹ geht, weil man glaubhaft machen kann, nicht zu denen gehört zu haben, auf die der Volkszorn damals zielte – wie der Boxer und Sportfan Jacobi, der beim Wehrdienst leidet und im DDR-Fernsehen nur eine Nische sucht, die Spaß macht. Menschen ›haben‹ keine Biografie, sondern leben eine Biografie, die sie selbst organisieren. Zugespitzt: Es zählt nicht das, was war, sondern das, was ich mir und anderen erzählen kann, ohne dass der Spiegel zerspringt. (19)

(…) Meine Botschaft sollte angekommen sein. Mit der Abwicklung der Sektion Journalistik hat sich die Bundesrepublik eine Option genommen, auf die sie in der Krise der Gegenwart bauen könnte. Was für eine Vision: eine akademische Journalistenschule in Leipzig, an der das Bündnis mit dem Teufel Politik noch allgegenwärtig ist und in die der lange Arm der Wirtschaft trotzdem nicht hineinregieren kann. Ein Ort, an dem Redakteure und Reporter ausgebildet werden, die wissen, was sie tun, die den »Auftrag Öffentlichkeit« gewissermaßen mit der Muttermilch aufnehmen und im Beruf nie wieder vergessen.

Es gibt solche Journalisten. Frauen und Männer, die Ende der 1980er Jahre an die Leipziger Universität gekommen sind und dort über ein ganz neues Curriculum nachgedacht haben, über ein freies Studium, das erlaubt, die eigenen Interessen auszuleben, und über einen anderen Journalismus. Etliche habe ich in diesem Buch vorgestellt. Selbst die Erfolgreichsten von ihnen gehen in der gesamtdeutschen Medienrealität unter, obwohl sie die Medizin gegen das Misstrauen des Publikums kennen: Pluralismus. Lasst alle Perspektiven zu. Liefert Informationen und lasst die Menschen selbst urteilen. Fahrt ihnen nicht über den Mund.

Die Verbannung Ostdeutscher aus redaktionellen Führungspositionen, die weit über die Generation hinausreicht, die in diesem Buch proträtiert worden ist, schränkt die Medienvielfalt ein. Es fehlen nicht nur die Geschichten aus der Vergangenheit, die den Alltag jenseits von Stasi, Mauer und Parteiallmacht behandeln und damit das, was im kommunikativen Gedächtnis der meisten Ostdeutschen überdauert hat. Es fehlen auch die Stimmen derer, die wissen, dass ein System auch dann endlich ist, wenn es im Moment unerschütterlich zu sein scheint. Und es fehlt eine journalistische Tugend: der gesunde Zweifel gegenüber allem, was ›von oben‹ kommt.

„Das Erbe sind wir. Warum die DDR-Journalistik zu früh beerdigt wurde. Meine Geschichte“, Herbert von Halem Verlag, 372 Seiten, 28 Euro

Über den Autor: Prof. Dr. Michael Meyen, Jahrgang 1967, studierte an der Sektion Journalistik und hat dann in Leipzig alle akademischen Stationen durchlaufen: Diplom (1992), Promotion (1995), Habilitation (2001). Parallel arbeitete er als Journalist (MDR info, Leipziger Volkszeitung, Freie Presse). Seit 2002 ist Meyen Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU München. Seine Forschungsschwerpunkte sind Medienrealitäten, Kommunikations- und Fachgeschichte sowie Journalismus. Er betreibt den Blog Medienrealität.

Anmerkungen

(1) Yana Milev: Das Treuhand-Trauma. Die Spätfolgen der Übernahme. Berlin: Das Neue Berlin 2020, S. 246f., vgl. Yana Milev: Entkoppelte Gesellschaft – Ostdeutschland seit 1989/90. Zwei Bände. Berlin: Peter Lang 2019

(2) Milev: Treuhand-Trauma, S. 8, 36, 49, 69, 91, 117, 252

(3) Jana Hensel sagt im Gespräch mit Valerie Schönian, dass dieses Fenster zwischen 2004 und 2015 geschlossen war: »Der Westen dachte: Na ja, jetzt habt ihr doch eure ostdeutsche Bundeskanzlerin und sanierte Straßen. Was wollt ihr denn noch?«. – Vgl. Valerie Schönian: Ostbewusstsein. Warum Nachwendekinder für den Osten streiten und was das für die deutsche Einheit bedeutet. München: Piper 2020, S. 58

(4) Vgl. Michael Meyen: »Wir haben freier gelebt«. Die DDR im kollektiven Gedächtnis der Deutschen. Bielefeld: transcript 2013

(5) Vgl. Michael Meyen: Breaking News. Die Welt im Ausnahmezustand. Wie uns die Medien regieren. Frankfurt am Main: Westend 2018

(6) Vgl. Felix Firme, Uwe Krüger: Westliche Einflussnahme in der Ukraine: Ein blinder Fleck in deutschen Leitmedien? In: Hektor Haarkötter, Jörg-Uwe Nieland (Hrsg.): Nachrichten und Aufklärung. Medien- und Journalismuskritik heute: 20 Jahre Initiative Nachrichtenaufklärung. Wiesbaden: Springer VS 2018, S. 187-206

(7) Vgl. Michael Haller: Die »Flüchtlingskrise« in den Medien. Tagesaktueller Journalismus zwischen Meinung und Information. Frankfurt am Main: Otto-Brenner-Stiftung 2017

(8) Horst Pöttker: Man muss konfliktbereit sein. In: Michael Meyen, Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2018. http://blexkom.halemverlag.de/poettker-interview/ (27. April 2020)

(9) Horst Pöttker (Hrsg.): Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag. Klassiker der Sozialwissenschaft über Journalismus und Medien. Konstanz: UVK 2001, S. 20, 24, 26 f.

(10) Vgl. Anke Fiedler: »Die schärfste Waffe der Partei« im Spiegel der politischen Großwetterlage. In: Anke Fiedler, Michael Meyen (Hrsg.): Fiktionen für das Volk. Münster 2011, S. 135-163

(11) Anthony Giddens: Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age. Cambridge, UK: Polity Press 1991, S. 52-54

(12) Vgl. Michael Meyen: »Wir haben freier gelebt«. Die DDR im kollektiven Gedächtnis der Deutschen. Bielefeld: transcript 2013

(13) Interview mit Wiebke Müller am 1. November 2019 in Dresden. – Alle weiteren Zitate von Wiebke Müller sind aus diesem Interview.

(14) Vgl. Julian Reichelt: Schluss mit dem Starrsinn in der Corona-Politik! In: Bildzeitung vom 27. April 2020

(15) Vgl. Mathias Bröckers, Paul Schreyer: Wir sind die Guten. Ansichten eines Putinverstehers oder wie uns die Medien manipulieren. Frankfurt am Main: Westend 2014

(16) Uwe Krüger: Meinungsmacht. Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten – eine kritische Netzwerkanalyse. 2. Auflage. Köln: Herbert von Halem 2019, S. 211

(17) Jacques Ellul: Propaganda. The Formation of Men’s Attitudes. New York: Vintage 1973, S. 64

(18) Peter Glotz: Das Gespräch ist die Seele der Demokratie. Beiträge zur Kommunikations-, Medien- und Kulturpolitik. Mit einer Einführung von Michael Meyen. Herausgegeben von Wolfgang R. Langenbucher und Hans Wagner. Baden-Baden: Nomos 2014

(19) Identität wird hier mit Anthony Giddens als die Fähigkeit verstanden, eine bestimmte Erzählung über sich selbst am Laufen zu halten und dort kontinuierlich all das integrieren, was in der Welt passiert. Die reflexive Organisation der eigenen Biografie erfolgt dabei vor dem Hintergrund eines Flusses an sozialen und psychologischen Informationen über mögliche Lebensformen. Vgl. Giddens, Modernity, S. 14

Kommentieren

Zum Kommentieren bitte anmelden.