An Unterernährung leidendes afghanisches Kind in einem Krankenhaus in Kabul | Bild: picture alliance / AA | Sayed Khodaiberdi Sadat

Kollektive Bestrafung – Afghanistan am Abgrund

Ein gutes Jahr nach dem unkoordinierten Abzug der USA und ihrer Alliierten aus Afghanistan steht das Land von einer humanitären Katastrophe, von der die Welt – nicht zuletzt infolge eines faktischen Medien-Blackouts – nur wenig erfährt und gegen die sie viel zu wenig unternimmt. Die bedrohliche Entwicklung, aktuell verschärft durch den bevorstehenden harten afghanischen Winter, ist nicht den neuen Machthabern in Kabul, den Taliban, anzulasten. Ursächlich ist vielmehr die rigide Sanktionspolitik des Westens, die einem Wirtschaftskrieg gegen das Land gleichkommt. Besonders fatal ist die Tatsache, dass sich die USA und andere Länder weigern, circa 9 Milliarden US-Dollar, die von westlichen Banken verwahrt werden, an ihren rechtmäßigen Besitzer, die afghanische Zentralbank, zurückzuzahlen.

ULRICH TEUSCH, 3. Oktober 2022, 6 Kommentare, PDF

Mitte August 2021 kam die zwei Jahrzehnte währende US-Besatzung Afghanistans an ihr chaotisches Ende. Zwei Billionen US-Dollar – das sind 2000 Milliarden! – hatten sich die Amerikaner ihr Abenteuer am Hindukusch insgesamt kosten lassen. Am Ende mussten sie einsehen, dass sie keinen Schritt vorangekommen waren. Sie befanden sich noch kaum außer Landes, da kehrten in Kabul die alten Taliban-Feinde zurück an die Schalthebel der Macht – und sitzen seither fest im Sattel.

Der Rückzug aus Afghanistan und seine Begleitumstände wurden vielfach kritisiert. Wenig bis gar nicht kritisiert wurde hingegen, dass sich die USA und ihre Alliierten trotz ihres Abschieds nie mit der Niederlage abgefunden haben. Vielmehr setzten sie den Krieg mit anderen Mitteln fort: in Gestalt eines Wirtschaftskriegs, der, so steht zu befürchten, verheerender und todbringender werden könnte als das, was in den Jahren seit 2001 geschehen ist. Ökonomische Sanktionen drohen eines der ärmsten Länder dieser Welt in den Abgrund zu stoßen.

Seit die Taliban wieder an der Macht sind, wird vermehrt Klage über die sich deutlich verschlechternde Situation von Frauen und Mädchen geführt. Wenig bis nichts hört man darüber, dass die Sanktionen des Westens das Überleben eben jener Frauen und Mädchen akut gefährden.

Westliche Sanktionen

Zunächst gilt es aber festzuhalten: Nicht für alles an der afghanischen Misere gibt es einen identifizierbaren Schuldigen, nicht alles, was im Argen liegt, ist menschengemacht. 2021 zum Beispiel erlebte das Land die folgenschwerste Dürre seit drei Jahrzehnten, zudem wurde es von einem Erdbeben und einer Flutkatastrophe heimgesucht; auch Covid 19 und eine Reihe anderer Infektionskrankheiten hinterließen tiefe Spuren.

Es sind auch nicht allein und nicht einmal in erster Linie die Taliban, die das Land bedrücken: mit ihrer düsteren Menschenrechtsbilanz, ihrer Interpretation der Scharia, ihrer Haltung gegenüber Frauen, gegenüber ethnischen und religiösen Minderheiten oder unabhängigen Medien.

Es waren vielmehr das abrupte Ende der langjährigen Besatzung und die darauf folgende harte Sanktionspolitik, die Afghanistan den eigentlichen Todesstoß versetzten, die eines der ärmsten Länder dieser Welt in eine tiefe Wirtschaftskrise stürzten und einer humanitären Katastrophe auslieferten, die ihresgleichen sucht.

Armut und Hunger

An die sechs Millionen Afghanen sind von Flucht und Vertreibung betroffen. 80 Prozent trinken verunreinigtes Wasser – mit den entsprechenden gesundheitlichen Folgen. Martin Griffiths, in der UNO für humanitäre Angelegenheiten und die Koordination der Nothilfe zuständig, hat Ende August 2022 vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen weitere erschreckende Zahlen genannt, hinter denen sich unermessliches Leid verbirgt:

"Fast 19 Millionen Menschen sind von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen, darunter sechs Millionen Menschen, die von einer Hungersnot bedroht sind. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung – etwa 24 Millionen Menschen – benötigt humanitäre Hilfe. Und schätzungsweise drei Millionen Kinder sind akut unterernährt. Darunter sind über eine Million Kinder, die an der schwersten, lebensbedrohlichen Form der Unterernährung leiden. Und ohne spezielle Behandlung könnten diese Kinder sterben.“

In einem Brief an westliche Staatschefs, unter ihnen Olaf Scholz, schreiben die Verantwortlichen der pro-afghanischen Kampagne „United Against Inhumanity“ :

„Die schlimme Situation hat manche Familien dazu gezwungen, herzzereißende Entscheidungen zu treffen, wie zum Beispiel den Verkauf ihrer minderjährigen Mädchen in die Ehe im Tausch gegen Lebensmittel. Die Verzweiflung treibt Tausende von Afghaninnen und Afghanen in die Flucht nach Pakistan und in den Iran, während andere versuchen, nach Europa oder dorthin zu gelangen, wo es eine Überlebenschance gibt.“

Die Mehrheit der Afghanen lebt unterhalb der Armutsgrenze. Den größten Teil ihrer mehr als bescheidenen Einkünfte müssen sie für Nahrungsmittel ausgeben. Die Zahl der Haushalte, die auf Geldüberweisungen aus dem Ausland zählen kann, wird immer kleiner. Die Arbeitslosigkeit ist exorbitant hoch, ebenso die Inflation – Letztere eine Folge der gestiegenen Weltmarktpreise, die das importabhängige Land besonders schwer treffen, des weiteren eine Folge der Einfuhrrestriktionen und der Abwertung der afghanischen Währung. Afghanistan leidet darüber hinaus unter einer Kapitalflucht und ganz generell unter einer Verunsicherung darüber, was im Rahmen der US- und UNO-Sanktionen gegen die Taliban erlaubt ist und was nicht.

Der Einbruch der afghanischen Kaufkraft war gravierend; das UNO-Entwicklungsprogramm prognostizierte, dass fast die gesamte Bevölkerung Afghanistans unter die Armutsgrenze zu fallen drohe. Der Wirtschaftskrieg gegen das Land ist umso verheerender, als Afghanistan praktisch keine Reserven besitzt, auf die es in der Not zurückgreifen könnte.

Wie ist es so weit gekommen?

In einem Beitrag für die Washington Post vom Dezember 2021 schreibt Paul Spiegel, Direktor des Center for Humanitarian Health an der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health:

"Als die Taliban am 15. August die Macht in Kabul übernahmen, froren die westlichen Regierungen alle vorhandenen Vermögenswerte der 'De-facto-Behörden', wie wir die derzeitige Regierung in Afghanistan nennen sollen, ein und stoppten alle ausstehenden und zukünftigen Zahlungen an alle Regierungsprogramme, einschließlich Gesundheitseinrichtungen und Schulen. Das Land befindet sich im freien wirtschaftlichen Fall. Das Gesundheitssystem kam abrupt zum Stillstand."

Im Rahmen der Sanktionen, die die USA zusammen mit dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gegen Afghanistan verhängten, wurden, so Sam Carliner, internationale Gelder in Höhe von 40 Prozent des afghanischen Bruttoinlandsprodukts abgezogen, eine unmittelbare Katastrophe für das Land, dessen öffentliche Ausgaben zu 75 Prozent aus ausländischen Hilfsgeldern finanziert wurden. Dieselben Regierungen, die Afghanistan 20 Jahre in einem Zustand der Abhängigkeit von externer Unterstützung gehalten hatten, entzogen dem Land eben diese Unterstützung genau zu dem Zeitpunkt, da es sie am dringendsten gebraucht hätte.

Unter der treffenden Überschrift „Besatzungsökonomie ohne Besatzer“ zieht das Portal German Foreign Policy eine bittere Bilanz :

„Dem Westen ist es in der fast 20-jährigen Besatzungszeit nicht gelungen, am Hindukusch eine eigenständige Ökonomie aufzubauen; Afghanistan blieb in hohem Maß von Zahlungen aus dem Ausland abhängig, die bestimmte Sektoren aufblähten – beispielsweise Dienstleistungen für die westlichen Truppen und für ziviles Personal aus dem Westen – und die darüber hinaus die Korruption begünstigten: typische Merkmale einer nicht tragfähigen Besatzungsökonomie.“

Auswärtige Hilfsgelder seien im unmittelbaren Umfeld der westlichen Besatzer gelandet oder von korrupten Funktionären ins Ausland transferiert worden, derweil die große Mehrheit der Bevölkerung verarmte. Als mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 die westlichen Staaten die Hilfszahlungen einstellten, wurde der afghanischen Besatzungsökonomie der Boden entzogen.

Nach einem fünfwöchigen Aufenthalt in Afghanistan als Berater der Weltgesundheitsorganisation und Mitglied eines Notfallteams stellte der schon zitierte Paul Spiegel fest, dass – sollte sich an der anti-afghanischen Sanktionspolitik nichts ändern – mehr Afghanen durch Sanktionen sterben werden als durch die Taliban.

9 Milliarden US-Dollar

Die Weltbank spricht mit Bezug auf Afghanistan von einer „komplexen ökonomischen Krise“ und listet in einer kompakten Übersicht insgesamt acht Krisenfaktoren auf, ohne diese freilich in ihrer Bedeutung zu gewichten. Zur vierten Ursache heißt es lapidar. „loss of access to the overseas assets of the central bank (around US$9.2 billion)“. Wovon ist hier die Rede? Was hat es mit diesen 9,2 Milliarden US-Dollar auf sich?

Zu den Maßnahmen in Reaktion auf die Machtübernahme der Taliban gehörte das Einfrieren von Vermögenswerten der afghanischen Zentralbank, der „Da Afghanistan Bank“ (DAB) durch die USA in Höhe von 7 Milliarden US-Dollar. Mit diesem Schritt goss die Regierung Biden weiteres Öl ins Feuer. Auch europäische Banken (u.a. aus Deutschland) haben afghanische Vermögenswerte eingefroren – insgesamt in Höhe von 2,2 Milliarden US-Dollar (oder – nach anderen Angaben – 2,1 Milliarden).

Die DAB ist eine honorige, unabhängige Institution, die nicht unter dem Kuratel der Taliban steht und die aus ihrer Umstrukturierung im Jahr 2004 gestärkt hervorgegangen ist. Wie jede Zentralbank übernimmt sie essentielle Funktionen im Wirtschafts- und Finanzsystem, ohne die eine gedeihliche Entwicklung eines Landes nicht vorstellbar ist. Das Einfrieren ihrer Reserven entzieht der afghanischen Zentralbank nun gleichsam die Basis. Und es verstärkt die bereits angesprochenen negativen Folgen der Sanktionen. Die Kampagne „United Against Inhumanity“ hat die verschiedenen Wechsel- und Folgewirkungen dargelegt:

„Gewöhnliche afghanische Staatsbürger, wie etwa diejenigen, die im Gesundheits- und Bildungswesen beschäftigt sind, werden nicht bezahlt und haben keinen Zugang zu ihren Lebensersparnissen. Die Liquiditätskrise hat zusammen mit der abrupten Einstellung der Entwicklungshilfe und der steigenden Inflation die Wirtschaft lahmgelegt. Viele wichtige Dienstleistungen sind zusammengebrochen, da es keinen Zugang zu Bargeld gibt, um Gehälter oder Routineeinkäufe zu bezahlen. Dies wiederum hat zu alarmierender Arbeitslosigkeit und dem Verlust der Lebensgrundlagen für viele afghanische Bürger geführt. Die meisten Menschen können sich nicht mehr Grundversorgungsmittel wie Treibstoff, Lebensmittel oder Unterkunft leisten. Das Behindern der DAB, ihre wesentliche Rolle in der afghanischen Wirtschaft zu erfüllen, hat bereits zu weitreichenden Störungen im Banken- und Handelssektor geführt. Eine solche Situation wird auch humanitäre Aktivitäten ernsthaft behindern, die tiefgreifende Armut weiter verschärfen und die Bevölkerungsbewegungen über internationale Grenzen hinweg beschleunigen.“

Da sie keinen Zugriff mehr auf die Vermögenswerte hat, ist die DAB im Grunde außerstande, als Zentralbank zu agieren, also jene Funktionen im Wirtschafts- und Finanzsystem zu erfüllen, für die Zentralbanken da und geschaffen sind. Die Forderung nach sofortiger Freigabe der Vermögenswerte ist folglich essentiell. Der Ökonom Shah Mehrabi, Mitglied des DAB-Vorstands, stellt fest:

"Die Freigabe dieser Reserven wird es der Zentralbank ermöglichen, ihr vorrangiges Ziel der Preisstabilität zu erreichen, indem sie Devisenauktionen durchführt und die Abwertung der Landeswährung verhindert, um die Preisstabilität zu gewährleisten. Eine stabile Währung ist wichtig; sie entscheidet über die Gesundheit einer Nation und das Wohlergehen ihres Volkes. Ohne sie können sich die Menschen in Afghanistan die grundlegenden Dinge des Lebens nicht leisten. Höhere Preise sind eine der Hauptursachen für Armut und können durch die Freigabe der afghanischen Reserven behoben werden. Diese Reserven sollten für den Zweck der Preisstabilität und nicht für humanitäre Hilfe verwendet werden.“

Gegenwärtig besteht jedoch kaum Aussicht auf eine Freigabe der Reserven, im Gegenteil. Im Februar 2022 machte US-Präsident Biden aus der zunächst nur temporären Maßnahme eine auf Dauer gestellte. In einer Executive Order entschied er, die 7 Milliarden Dollar an eingefrorenen afghanischen Vermögenswerten, die in der New Yorker Federal Reserve lagern, dauerhaft zu beschlagnahmen, zu konfiszieren. Man könnte auch sagen: zu stehlen. Denn es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die in Rede stehenden Werte – Bargeld, Anleihen, Gold – nicht den USA, sondern der afghanischen Zentralbank gehören, also letztlich dem afghanischen Volk – privaten Unternehmen, einfachen Sparern. Der Afghanistan-Experte und ehemalige Berater der US-Regierung Barnett Rubin pointiert: "Das reichste Land der Welt hat beschlossen, das ärmste Land der Welt im Namen der Gerechtigkeit auszurauben. Ein passendes Ende für den Krieg gegen den Terror". Nichts anderes gilt für die gut 2 Milliarden Dollar, die europäischen Banken anvertraut wurden und der afghanischen Zentralbank nach wie vor vorenthalten werden.

3,5 Milliarden für 9/11-Angehörige

Mit der Hälfte der Gesamtsumme, also 3,5 Milliarden Dollar, sollten humanitäre Hilfen für Afghanistan finanziert werden, so Bidens Versprechen vom Februar. Es dauerte Monate, bis diese Ankündigung konkretere Gestalt annahm. Im September 2022 wurde nun bekannt, dass die Hilfeleistungen – um sie keinesfalls den Taliban zugute kommen zu lassen – über einen Fonds in der Schweiz abgewickelt werden sollen. Das klingt nobel, und man kann diese Initiative mit etwas Großzügigkeit als „Schritt in die richtige Richtung“ (David Goeßmann) werten. Mit weniger Wohlwollen könnte man aber auch sagen: Die Initiative verschleiert die Tatsache, dass die USA sich auch weiterhin anmaßen, über Gelder zu verfügen, die ihnen nicht zustehen, und dass sie sich hartnäckig weigern, die Gelder an diejenigen Personen oder Institutionen zurückzugeben, deren rechtmäßiges Eigentum sie sind.

Ihre ganz besondere Note erhielt die Biden'sche Executive Order allerdings durch die Festlegung, dass die andere Hälfte der 7 Milliarden Dollar verwendet werden solle, um Familien zu entschädigen, die bei den Anschlägen des 11. September 2001 Angehörige verloren haben. Die Frage stellt sich: Mit welcher Rechtfertigung geschieht dies? Waren Afghanen an 9/11 beteiligt? Trifft die Menschen in Afghanistan irgendeine Schuld an den Anschlägen? Ist nicht das genaue Gegenteil der Fall? Gehören die Afghanen – angesichts des ihnen aufgezwungenen jahrelangen Kriegs und der Besatzung – nicht viel eher zu den mittelbaren Opfern von 9/11? Und: Kann man ihnen ernstlich die Schuld an der Rückkehr der Taliban anlasten?

Kollektive Bestrafung

Bidens Executive Order bestraft die Menschen in Afghanistan für die Anschläge, an denen sie nicht beteiligt waren und an denen sie keinerlei Schuld trifft. Es handelt sich um eine kollektive Bestrafung, und sie wird vollzogen in Gestalt einer kalten Enteignung der Zentralbankgelder; dies ist, so die Kampgane „United Against Inhumanity“, „moralisch verwerflich, wirtschaftlich verheerend und politisch rücksichtslos“.

Vor diesem Hintergrund kann es kaum überraschen, dass nicht alle Angehörigen der 9/11-Opfer die Biden'schen Entscheidung mittragen, obwohl sie von ihr profitieren würden. Barry Amundson etwa, dessen Bruder Craig am 11. September 2001 im Pentagon getötet wurde, geht auf Distanz und erklärt, dass seine Gruppe, die „September 11th Families for Peaceful Tomorrows“, auf dem Standpunkt stehe, das gesamte Geld solle zugunsten der Afghanen eingesetzt werden: „Ich kann mir keinen schlimmeren Verrat am afghanischen Volk vorstellen, als sein Vermögen einzufrieren und es den Familien des 11. Septembers zu geben", sagte Amundson. Und Kelly Campbell, Mitbegründerin von „September 11th Families for Peaceful Tomorrows“, erklärte:

„Tatsache ist, dass es sich bei diesen Reserven um das Geld des afghanischen Volks handelt. Die Vorstellung, dass sie am Rande einer Hungersnot stehen und dass wir ihr Geld für irgendeinen Zweck zurückhalten, ist einfach falsch. Die Afghanen sind nicht für den 11. September 2001 verantwortlich, sie sind Opfer des 11. September 2001, genauso wie unsere Familien. Ihnen ihr Geld wegzunehmen und zuzusehen, wie sie buchstäblich verhungern – ich kann mir nichts Traurigeres vorstellen.“

Die Wahrscheinlichkeit, dass die westlichen Sanktionen ihr Ziel – vermutlich einen Regimewechsel weg von den Taliban – erreichen, ist gering. Robert Pape, seinerzeit Professor am Dartmouth College, hat 1997 in seiner Untersuchung „Why Economic Sanctions Do Not Work“ Sanktionsfälle zwischen 1914 und 1990 untersucht. Sein Ergebnis: Sanktionen haben in nur 5 von 115 Fällen zum Erfolg geführt.

Noch stärker ins Gewicht fällt allerdings der Umstand, dass Sanktionen in der Regel völkerrechtswidrig sind, und wenn sie sich zu einer kollektiven Bestrafung der Zivilbevölkerung auswachsen, sogar kriminell. Insofern ist die Frage, ob sie „funktionieren“, im Grunde von sekundärer Bedeutung. Entscheidend ist, dass ihr großflächiger Einsatz, also die kollektive Bestrafung, Schuldige und Unschuldige gleichermaßen trifft.

Die kollektive Bestrafung agiert wahllos und hat es auf den größtmöglichen Schaden für die gegnerische Wirtschaft und Gesellschaft abgesehen. Besonders hart trifft sie die Schwächsten und Verwundbarsten. Diese werden für Dinge zur Rechenschaft gezogen, die sie nicht getan haben und nicht kontrollieren können. In keinem anderen Land dieser Welt sind die dramatischen Folgen einer kollektiven Bestrafung zurzeit deutlicher zu beobachten als in Afghanistan.

ARNOLD WEIBLE, 4. Oktober 2022, 11:15 UHR

Vielen Dank für die aufschlussreiche Reportage. In der Tat hatte ich Afghanistan mangels Berichterstattung nicht mehr auf dem Schirm.

Unser Problem ist, dass nur wenige Menschen Einfluss auf die Politik haben. Biden ist ein besonderer Hardliner. Er glaubt, mit gewalttätiger Politik, wozu die Sanktionen gegen Afghanistan sowie die Provokation des Ukraine-Konfliktes gehören, US-Interessen durchsetzen zu können. Wie Sie hier deutlich darlegen, liegt er falsch. Die Sanktionen sind ein Irrweg.

Leider haben kritische Stimmen nicht die erforderliche Reichweite, um etwas an der Situation zu ändern. Mein Gedanke war daher: wir können nur etwas ändern, wenn wir einen Verbund kritischer Stimmen bilden. Dieser Verbund sollte namhafte Persönlichkeiten und Wissenschaftler aufbringen. Mit deren Hilfe sollen gezielt Personen mit Einfluss angesprochen werden. Wir müssen sie davon überzeugen, dass wir die Probleme der Welt nur lösen können, wenn die Entscheidungsbefugnisse auf eine möglichst breite Menge übertragen werden.

Für diese Idee suche ich Mitstreiter. Was halten Sie davon?

ULRICH TEUSCH, 4. Oktober 2022, 14:50 UHR

Sie denken, wie mir scheint, an eine „Verantwortungselite“, die einen Verbund bilden, also sich zusammenfinden und vernetzen müsste. Ja, das wäre sicher wünschenswert. Aber warum tun die „kritischen Stimmen“ in der intellektuellen Elite das nicht – oder nur in viel zu geringem Maße? Ich habe darauf keine Antwort.

SIGRID PETERSEN, 4. Oktober 2022, 19:30 UHR

Sie haben ganz Recht, die US-Interessen gilt es durchzusetzen. Aus diesem Grund könnten namenhafte Persönlichkeiten und Wissenschaftler noch und nöcher versuchen Überzeugungsarbeit an den Regierenden zu leisten. Die US-Regierung hat namenhafte Personen (hier vermeide ich ganz bewußt das Wort Persönlichkeiten), die die Regierung beraten.

Keiner der seitens der USA geführten Kriege hat jemals zu irgendeiner Verbesserung, eher zum Gegenteil der Umstände in den angegriffenen Ländern geführt, auch wenn diese Kriege die vermeintlich "guten Kriege", die Demokratie und westliche Werten bringen sollten, waren. Das wissen wir alle.

Man muss sich in Bezug auf Afghanistan nur fragen, was die Interessen der USA in Afghanistan noch sind. Rohstoffe sind es wohl nicht, immer noch Rache? War es das jemals? Ganz bewusst eine große Fluchtbewegung gen Westen zu initieren? Ich kenne mich in Bezug auf Afghanistan da nicht aus, müsste mich erst einmal schlau machen. Aber dass die USA (besser gesagt, die regierenden Hintermänner (und -frauen)) null Hemmungen haben, ganze Staaten zu opfern, wenn´s in ihrem Interesse liegt, dessen bin ich mir sicher.

SIGRID PETERSEN, 4. Oktober 2022, 19:35 UHR

@Ulrich Teusch: Weil man heute die USA nicht mehr kritisieren darf, jedenfalls nicht, solange nicht Trump Präsident ist. Wir sehen doch explizit in den letzten 2 1/2 Jahren, wie es Menschen heute ergeht, die das Falsche nach außen tragen. Die Angst, selbst zerstört zu werden, hat inzwischen dermaßen weit um sich gegriffen, dass jeder, der sich trauen wollte, damit rechnen muss allein auf weiter Flur zu stehen.

FAUNA FLOKATI, 5. Oktober 2022, 11:20 UHR

Es ist ein Trauerspiel mit Afghanistan. Womit haben die Menschen dort es verdient, so bestraft zu werden? Nie konnte sich das Land so richtig erholen, immer wieder wurde es in Grund und Boden gebombt. Das Afghanistan-Buch "Hybris am Hindukusch" von Michael Lüders, das ich dieses Jahr gelesen habe, lässt einen ja schon sprachlos zurück. Und jetzt nimmt man ihnen auch noch ihr weniges Geld weg. Und manchmal stößt man, wenn man über Afghanistan spricht, auch noch auf empathielose Ohren: "Selbst schuld, die wollten doch die Taliban. Jetzt sollen sie schauen, wie sie zurechtkommen." Ohne darüber nachzudenken, dass die Taliban im Prinzip nichts für die aktuelle Misere kann, sondern es unsere "Wertebringer" sind, die die Menschen dort opfern. Wofür eigentlich? Ja, keine Ahnung ... mich jedenfalls macht der Gedanke an Afghanistan immer traurig.

ANNO MÜHLHOFF, 17. Oktober 2022, 21:25 UHR

"Zunächst gilt es aber festzuhalten: Nicht für alles an der afghanischen Misere gibt es einen identifizierbaren Schuldigen, nicht alles, was im Argen liegt, ist menschengemacht. 2021 zum Beispiel erlebte das Land die folgenschwerste Dürre seit drei Jahrzehnten, zudem wurde es von einem Erdbeben und einer Flutkatastrophe heimgesucht; auch Covid-19 und eine Reihe anderer Infektionskrankheiten hinterließen tiefe Spuren."

Ich bin mir nicht sicher, ob die oben genannten Ereignisse wirklich in die Kategorie "nicht menschengemacht" fallen.

Wettermanipulationen gehören schon lange zum Repertoire der Militärs und werden - wie viele Sauereien dieser Tage - offen kommuniziert. Und wie weit Covid-19 natürlichen Ursprungs ist bzw. ob nicht eher die (absichtlich unangemessenen) Reaktionen darauf die verheerende Wirkung entfaltet haben, könnte man zumindest weiter diskutieren. Ich hoffe, dass das obige Zitat nicht das Resultat von Selbstzensur ist, die ich hier nicht erwarten würde und auch nicht zum restlichen Artikel passen würde.

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