„Milei ist der Retter des konzentrierten Reichtums“
CAMILLA HILDEBRANDT, 12. November 2024, 3 Kommentare, PDFHinweis: Dieses Interview ist auch auf Spanisch verfügbar.
Multipolar: Herr Lamas, am 2. Oktober gab es in ganz Argentinien Demonstrationen gegen die Einsparungen an den öffentlichen Universitäten. Was genau ist passiert?
Lamas: Es wird geschätzt, dass über eine Million Menschen demonstriert haben. Es handelt sich um die zweite Mobilisierung der Bildungsgemeinschaft in diesem Jahr, Lehrkräfte, nicht lehrendes Personal, Uni-Absolventen, und sie wurden von vielen sozialen Bewegungen unterstützt, von Gewerkschaften, Rentnern und vielen Menschen, die vielleicht nicht an einer Universität studiert haben, die aber eine kostenlose, öffentliche Spitzenuniversität als Teil der Werte unseres Landes betrachten. Das Studium ist die wichtigste Garantie für den sozialen Aufstieg. Abgesehen von der Demonstration in der Hauptstadt Buenos Aires, die die wichtigste war, gab es auch massive Mobilisierungen in anderen Regionen, ausgerufen von allen politischen Kräften, außer von den Verbündeten der Regierung und der Regierung selbst. Diese versuchte im Vorfeld Angst zu schüren, indem sie sagte, es könnte Unterwanderer geben, oder Repressionen. Der Hauptgrund für die Demonstration ist die Forderung nach einem garantierten Budget für die öffentlichen Universitäten, damit diese funktionieren können.
Multipolar: Die Universität von Buenos Aires ist eine der renommiertesten Universitäten. Aktuell kommt es zu drastischen Gehaltskürzungen. Können Sie das in Zahlen erklären?
Lamas: Laut den akademischen Rankings gehört die Universität von Buenos Aires immer noch zu den renommiertesten Universitäten der Welt, sie wird von Familien aller sozialen Schichten besucht, ist kostenlos und gebührenfrei. Und wir Hochschullehrer haben in diesem Jahr zwischen 50 und 70 Prozent unseres Einkommens eingebüßt, da die Inflation seit dem Amtsantritt Javier Mileis einen Prozentsatz erreicht hat, der die Gehaltserhöhungen, die wir bekommen haben, weit übersteigt. In einem Bericht der Lehrergewerkschaft heißt es, dass derzeit 60 Prozent der Lehrkräfte an öffentlichen Universitäten ein Gehalt unterhalb der Armutsgrenze beziehen, was in den letzten 20 Jahren nicht der Fall war. Das bedeutet natürlich, dass sie neben ihrer Lehrtätigkeit noch andere Jobs haben. Und nach meiner persönlichen Erfahrung – ich unterrichte seit mehr als 30 Jahren an der Universität – ist dies das erste Mal, dass die Gehälter so drastisch gesunken sind. Das bedeutet, die Inflation seit Dezember 2023 war wesentlich höher als die Lohnerhöhungen. Die Gehälter der Lehrer sind demnach zwischen November 2023 und August 2024 um 23,7 Prozent gesunken. Es ist eine Politik, die darauf abzielt, alle, die sich der Lehre widmen wollen, zu entmutigen. Entweder muss man sich um mehrere Lehrstellen bemühen, was die Qualität der Ausbildung verschlechtert, oder man muss sich schlicht eine andere Arbeit suchen.
Multipolar: Wie hat die Regierung auf die Großdemonstration reagiert?
Lamas: Die Demonstration fand statt, weil der nationale Kongress vor einigen Wochen eine Aktualisierung des Bildungsbudgets verabschiedet hat, in der die Erhöhung des Budgets für die staatlichen Universitäten garantiert wird. Dieses Gesetz wurde mit großer Mehrheit sowohl in der Abgeordnetenkammer, als auch im Senat angenommen, und die Regierung hatte schon angekündigt, dass sie ihr Veto einlegen würde. Diese Möglichkeit des Vetos hat der Staatspräsident. Die Reaktion war, repressiv gegen die Demonstranten vorzugehen, fast als Provokation, und sein Veto gegen das Gesetz einzulegen. Der Kongress hatte die Möglichkeit, das Gesetz erneut zu ratifizieren, was jedoch nicht geschah. Für die Ratifizierung des Gesetzes waren zwei Drittel der Abgeordneten erforderlich, aber die Opposition schaffte es nicht, diese Zahl zu erreichen.
Multipolar: Lassen Sie uns auch über die Schulbildung sprechen, hier gab es den Vorschlag eines Voucher-Programms. Was genau ist das?
Lamas: Das war ein Wahlkampfversprechen, wonach die Regierung jeder Familie Voucher, also Gutscheine geben wollte, so dass jede Familie selbst entscheiden kann, wo sie investieren will. Bisher wurde das aber nicht umgesetzt. Aber es besteht immer die Möglichkeit, dass Milei auf diese Idee zurückkommt. Das wäre eine verdeckte Privatisierung der Bildung, indem sie den Wettbewerb zwischen den Bildungseinheiten offenlassen. Denn hier gibt es natürlich ein sehr großes Ungleichgewicht – eine Schule in einem ländlichen Gebiet, einem Grenzgebiet oder Sonderschulen kann man nicht mit Schulen in Buenos Aires oder in den großen Städten des Landes vergleichen. Was die Regierung irgendwann getan hat, war, Familien aus der Mittelschicht zu unterstützen, damit sie die Gebühren zahlen können, die aufgrund der Inflation enorm gestiegen sind, und so in gewisser Weise Sektoren zu subventionieren, die nicht zu den bedürftigsten gehören. Das ist das Einzige, was von den Wahlversprechen der Regierung übrig geblieben ist.
Multipolar: Gab es auch Kürzungen in den Sozialprogrammen?
Lamas: Die Sozialprogramme wurden nicht gekürzt. Und das ist meiner Meinung nach einer der Gründe, warum die Regierung bisher noch nicht in eine ernste Krise geraten ist. Was sie aber getan haben, ist, öffentliche Maßnahmen zur Unterstützung der schwächsten Gruppen zu kürzen, wie zum Beispiel die Auslieferung von Lebensmitteln. Die haben sie stattdessen in Lagern des ehemaligen Ministeriums für Soziale Entwicklung – heute Ministerium für Humankapital – deponiert. Dank einer journalistischen Recherche wurde aufgedeckt, dass die Lieferung von Lebensmitteln, warmer Kleidung und Decken an die ärmsten Bevölkerungsschichten zurückgehalten wurde. Aufgrund dieser Entdeckung waren sie gezwungen, diese Lebensmittel auszuliefern, obwohl ein großer Teil davon bereits abgelaufen war und weggeworfen werden musste.
Multipolar: Was ist mit den Rentenzahlungen?
Lamas: Auch hier gab es große Kürzungen. Rentner erhalten aktuell einen Mindestsatz von etwa 150 Euro im Monat, umgerechnet. Das liegt unter der Armutsgrenze, es erfordert mindestens 500 Euro pro Monat, um den Grundbedarf einer Familie zu decken. Die Rentner protestieren deswegen seit Monaten und versammeln sich jeden Mittwoch vor dem Kongress. Es handelt sich um einen sehr gefährdeten Bevölkerungsteil und die Demonstrationen werden von der Polizei massiv angegangen. Hier gibt es ein Protokoll, das besagt, dass Proteste mit Straßenblockaden verhindert werden müssen. Wenn also nur die geringste Absicht besteht, eine Straße zu blockieren, zögern sie nicht, die Leute zu verprügeln, Pfefferspray oder Tränengas einzusetzen. Es wurden auch Gummigeschosse eingesetzt. Dabei hat man sich nicht darum gekümmert, ob die Demonstranten junge Leute, Frauen oder Rentner waren. Auch gegen Journalisten wird vorgegangen, was mehrere Menschenrechtsorganisationen in Argentinien dazu veranlasst hat, Beschwerden bei der Inter-American Commission on Human Rights (IACHR) einzureichen und davor zu warnen, dass die Arbeit des Journalismus unterdrückt, in einigen Fällen sogar direkt verhindert wird.
Multipolar: Das Demonstrationsrecht ist eines der wichtigsten in einer Demokratie. Wie rechtfertigt die Regierung das?
Lamas: Im Prinzip ist es nicht verboten, aber es werden viele Bedingungen für Demonstrationen und Proteste aufgestellt, und die Polizei handelt meiner Meinung nach rücksichtslos und kriminell. Sie haben Menschen in Krankenhäuser gebracht oder inhaftiert und einen Monat lang festgehalten, nur um ihren Hintergrund zu überprüfen oder weil sie der Meinung waren, dass ein bestimmtes Verhalten während der Demonstrationen nicht korrekt war. Das hat zu einem Klima der Repression und Angst geführt. Vielen Menschen fällt es schwer zu demonstrieren, weil sie befürchten, dass sie Repressionen ausgesetzt sein könnten oder inhaftiert werden. Dies war in den letzten zehn Monaten eine gängige Praxis.
Multipolar: Da werden Erinnerungen an eine vergangene Zeit wach.
Lamas: In Argentinien ist die Erinnerung an die Militärdiktatur noch sehr lebendig, die ich natürlich nicht mit dieser Regierung vergleiche, die demokratisch gewählt wurde, aber die das Recht auf Protest, ein Grundrecht, beschneidet und auch die Arbeit des Journalismus einschränkt, was ein weiteres Grundrecht ist – die freie Meinungsäußerung. Es hat lange gedauert, die Ausübung dieses Rechts zu erlangen. Dazu kommen Kürzung des Werbebudgets für die Medien in ihren drei Sektoren, dem öffentlichen, dem privaten und dem kommunalen Sektor. Sie haben die Direktwerbung der Regierung eingestellt, schalten aber weiterhin Werbung über Unternehmen, die dem Staat gehören (z. B. die Ölgesellschaft YPF oder Aerolíneas Argentinas). Sie haben die Werbung für kritische Medien und Journalisten eingestellt, geben sie aber an regierungsfreundliche Medien und Journalisten weiter. Sie haben auch einen Fonds zur Förderung von Bürgermedien eingestellt, der aus einer von allen Medien zu entrichtenden Werbesteuer finanziert wird und zur Förderung von Bürgermedien eingerichtet wurde. Es gibt sehr viele konkrete Maßnahmen dieser Regierung, die zeigen, dass sie die Arbeit des Journalismus nicht schätzt. In der Tat behandelt der Präsident, wann immer er kann, Journalisten wie Ratten, wie Dreck, wie Menschen, die aufgrund unlauterer Interessen handeln.
Multipolar: Eines der Themen, mit denen Javier Milei die Wahlen gewonnen hat, war die Verschlankung des Staatsapparates. Die Zeitung El País schreibt, er habe 24.000 der rund 340.000 Mitarbeiter entlassen, die der Staat angestellt hat, „niemand weiß, wer der nächste sein wird“. Reden wir über die sogenannten ñoquis.
Lamas: Das war eins seiner Wahlversprechen, ja. In mehreren Interviews hat er zudem gesagt, dass es seine Aufgabe sei, den Staat direkt zu zerstören. Tatsächlich wurden Ministerien geschlossen und viele Mitarbeiter entlassen. Die sogenannten „ñoquis“ sind vor allem Staatsbedienstete, die ein Gehalt erhalten, aber nicht zur Arbeit gehen. Sicherlich gibt es Einzelfälle, aber es ist kein Massenphänomen. Man kann nicht sagen, dass 24.000 Menschen entlassen wurden, weil sie nicht gearbeitet haben. Aus ein paar Geschichten wird oft ein allgemeines Bild konstruiert. Aber ja, das Frauenministerium wurde geschlossen, das Bildungsministerium und das Kulturministerium. Und sie haben kürzlich versucht, ein nationales Krankenhaus zu schließen, das auf psychische Gesundheit und Suchtkrankheiten spezialisiert ist und offensichtlich keinen Gewinn bringt. Wegen großer Proteste konnte allerdings die Schließung nicht erfolgen. Kurz, all das, was dem Staat Verluste einbringt, soll gestrichen werden.
Multipolar: Wie reagieren aktuell diejenigen, die ihn gewählt haben, die dem Versprechen, den Staatsapparat zu verschlanken, zugestimmt haben?
Lamas: Das Versprechen war auch, dass die Kosten für diese Änderung von der politischen Kaste getragen werden würden. Das war sein Diskurs, der die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregt hat, denn man stellte sich vor, dass Politiker eine Art gesonderten Wohlstand oder Privilegien haben, was in einigen Fällen so sein mag, und dass dies die gesamte Politik betrifft, nicht nur einen Sektor. Er meinte zudem, dass das Volk nicht für die Sparmaßnahmen zahlen würde. Jetzt, unmittelbar nach seinem Amtsantritt, geht aber der Sparkurs genau auf Kosten der Bevölkerung. Er hat die Subventionen für öffentliche Dienstleistungen, für den Verkehr gestrichen, was zu einem exponentiellen Anstieg der Kosten für die Fahrt mit dem Bus, der U-Bahn oder dem Zug geführt hat. Die Rechnungen für die Grundversorgung wie Strom, Gas und Wasser sind um ein Vielfaches gestiegen, die Gehälter der Rentner wurden angepasst, der Bildungshaushalt gekürzt, und praktisch alle öffentlichen Arbeiten im Land wurden gekürzt, das heißt, Straßenbau, der Bau von Schulen, Krankenhäusern, Brücken, Infrastrukturarbeiten – all das wurde gekürzt. Letztendlich zahlt also das Volk die „Verschlankung“, nicht die politische Kaste. In den ersten Monaten war es normal, es gab eine Phase der Anpassung und Geduld. Aber in den letzten Wochen geht diese Geduld dem Ende zu. Es gibt immer mehr Demonstrationen. Und ich denke, dass die Unzufriedenheit quer durch alle Schichten gehen wird.
Multipolar: In der internationalen Presse wird Milei dennoch vielfach gelobt. Philipp Bagus, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universidad Rey Juan Carlos in Madrid, hat ein Buch über ihn geschrieben. Im Interview mit der Welt sagt Bagus: „Er hat massive Kürzungen, Sparmaßnahmen, Privatisierungen angekündigt, die erst einmal Opfer von der Bevölkerung abverlangen. Er hat reinen Wein eingeschenkt, dass es anfangs sehr schwierig werden wird, aber dass sich diese Krise – anders als die vorangegangene – diesmal auszahlen wird, wenn sie überstanden ist. Dass dann das Licht am Ende des Tunnels kommt. Milei hat offenbar einen Mentalitätswechsel in der argentinischen Gesellschaft hinbekommen, denn viele hatten den Eindruck, dass es so wie bisher nicht weitergehen konnte.“ Was meinen Sie dazu?
Lamas: Ein Teil der Bevölkerung hatte sicherlich die Hoffnung, dass sich etwas ändern wird, aber laut den wichtigsten Meinungsforschungsinstituten des Landes trat Milei sein Amt mit einer Popularität und Unterstützung von etwa 60 Prozent der Bevölkerung an, und jetzt liegt er bei 35 bis 40 Prozent. Er hat drastisch verloren. Ich denke, die einzigen wirtschaftlichen Zahlen, die diese Regierung als positiv ausweisen kann, sind die finanziellen Zahlen, die drastischen, absoluten Haushaltskürzungen mit der Idee des Nulldefizits, nicht mehr auszugeben als einzunehmen. Das bedeutet, dass die Regierung der Begleichung der Auslandsschulden Vorrang einräumt. Alle öffentlichen Maßnahmen können gekürzt werden, aber nicht die Begleichung der Schulden. Damit werden die Märkte, die Finanzspekulanten, beruhigt, und die Finanzlage ist scheinbar ruhig, aber die Menschen werden nicht beruhigt. Diese Regierung sorgt dafür, dass viele Menschen außerhalb des Systems sind. Die Armut ist seit dem Amtsantritt von Milei von 40 Prozent auf 53 Prozent gestiegen. Mit anderen Worten, mehr als die Hälfte der Argentinier gilt jetzt als arm.
Multipolar: Wie kann der wirtschaftliche Wandel erfolgen?
Lamas: Ich bin kein Wirtschaftswissenschaftler, aber ich habe mein ganzes Leben in Argentinien verbracht. Meine Erfahrung mit neoliberalen Regierungen, die Steuersenkungen für die Reichsten und Steuererhöhungen für die Mehrheit der Bevölkerung bevorzugt haben, ist, dass diese Regierungen schlecht geendet sind. Wir hatten bereits eine neoliberale Periode in den 1990er Jahren, als man versuchte, die Wirtschaft durch die Kopplung des Peso an den Dollar zu stabilisieren und davon ausging, dass ein Peso einen Dollar wert sei. Gleichzeitig wurden fast alle öffentlichen Unternehmen privatisiert, die nationale Industrie zerstört, und die Arbeitslosigkeit stieg von 10 auf 25 Prozent. Das führte zu einer großen Unzufriedenheit, die 2001 mit dem Sturz der Regierung von Fernando de la Rúa von der Unión Cívica Radical in einer schweren Krise mündete. Im Moment sind alle Indikatoren der Realwirtschaft viel niedriger als vor einem Jahr, also der Rückgang in der Industrie, der Rückgang der Investitionen, der Rückgang des Konsums in den Supermärkten, der Rückgang des Verkaufs von Autos und Maschinen. Die einzigen Indikatoren, die sich positiv entwickeln, sind die Finanzindikatoren. Es existiert auch die falsche Vorstellung, dass die Inflation gesunken ist. In Wirklichkeit hat die aktuelle Regierung seit ihrem Amtsantritt den ersten großen Sprung in der Inflation gemacht, weil sie den Peso abgewertet hat. Im Dezember 2023 gab es eine Inflation von 25 Prozent in nur einem Monat, danach hat sie sich bei etwa 4 Prozent stabilisiert. Die monatliche Inflationsrate von 4 Prozent ist dieselbe wie bei der Vorgängerregierung, die in der Tat eine sehr hohe Inflation hatte, was eines der Hauptprobleme und einer der Hauptgründe dafür war, dass eine Person außerhalb der argentinischen politischen Tradition, wie der derzeitige Präsident Milei, die Wahlen gewinnen konnte. Nun hat er die Inflation nicht auf null oder eins pro Monat gesenkt, sondern sie liegt immer noch bei 4 Prozent, was eine sehr hohe Inflation ist.
Multipolar: Was bedeutet das für Ihr tägliches Leben?
Lamas: Die Inflation trifft vor allem die Bevölkerung, die sehr schlecht mit der Ungewissheit leben kann, wie hoch ihr Gehalt im nächsten Monat sein wird. Argentinien hat eine sogenannte bimonetäre Wirtschaft, in der die Währung der Peso ist, aber viele wirtschaftliche Berechnungen auf dem Wert des Dollars basieren. Es führt zu großer Instabilität, wenn der Wert von Dingen auf dem Wert einer ausländischen Währung aufbaut. Deshalb war eines der Wahlkampfversprechen von Javier Milei, der sich als Wirtschaftsexperte bezeichnete, unbeweisbare Zahlen über Finanzen, Investitionen und Wachstum nannte und österreichische liberale Wirtschaftswissenschaftler zitierte, die niemand kennt, dass er die Wirtschaft dollarisieren und den Peso abschaffen würde. Glücklicherweise ist das nicht geschehen, denn das wäre sehr schwerwiegend gewesen und hätte den Verlust der Souveränität der nationalen Währung bedeutet. Aber offensichtlich ist die Beziehung, die die argentinische Gesellschaft zum Dollar hat, eine ziemlich komplexe, um die Wirtschaft zu stabilisieren.
Multipolar: Wie reagieren die jungen Leute, die für Milei gestimmt haben?
Lamas: In der Tat erhielt er viel Unterstützung von den unter 25-Jährigen – in Argentinien wird ab 16 gewählt –, ein wichtiger Teil der Bevölkerung, der wahrscheinlich von der Politik sehr enttäuscht war, die Zeit der Pandemie, der Quarantäne und der sozialen Isolation mitgemacht hat, und vermutlich in Milei einen Unruhestifter sah, der Aufmerksamkeit erregte und Versprechungen machte, die gut ankamen. Vor allem junge Männer folgten ihm, weil sie dachten, dass sie dann in Dollar bezahlt und hohe Gehälter erhalten würden. Heute zeigen die Umfragen, dass die Popularität von Mileis Regierung gesunken ist. Trotzdem ist es wahrscheinlich, dass er unter den jungen Menschen weiterhin großen Rückhalt hat, denn einige von ihnen lehnen die traditionellen politischen Parteien ab. Wenn Milei scheitert, was er zu schnell tut, ist es andererseits sehr wahrscheinlich, dass es für viele dieser jungen Leute keine politische Alternative gibt, sondern dass eine Anti-Politik-Haltung wächst. Das - „¡qué se vayan todos!“ – „sie sollen alle gehen!“ –, haben wir 2001 in Argentinien erlebt, als die Ablehnung der gesamten Politik entgegenschlug. Das ist eine der größten Gefahren für die Demokratie – Politikverdrossenheit, die zu Apathie, Desinteresse und Gleichgültigkeit führt, und Sympathien für autoritärere Lösungen erzeugen kann.
Multipolar: Milei spricht viel von der Verteidigung der Freiheit, zuletzt in der UN-Vollversammlung im September 2024. Dort sagte er, dass er die Agenda 2030 für gescheitert halte, dass die UNO die Freiheit der Nationen durch Regeln und Vorschriften erheblich einschränken würde und den Mitgliedern eine ideologische Agenda auferlege. Er endete mit den Worten: „Viva la libertad, carajo!“– „Es lebe die Freiheit, verdammt!“ Gleichzeitig negiert er die Vergangenheit, etwa die Zahl der 30.000 Verschwundenen während der Militärdiktatur.
Lamas: Dies ist ein immer wiederkehrendes Argument derjenigen, die die Militärdiktatur verleugnen, die von 1976 bis 1983 andauerte. Es gibt keine genaue Zahl der „desaparecidos“ – der Verschwundenen –, da die Verantwortlichen des Militärs ihren Schweigepakt nie gebrochen haben. Es existieren keine Listen, aber es gibt rund 500 geheime Gefangenenlager. Auf dieser Grundlage und der Erklärung der Überlebenden und Angehörigen konnte von der ersten demokratischen Regierung die erste Untersuchung dazu durchgeführt werden, durch die „Comisión Nacional de la Desaparición de Personas“. Sie ermittelten etwa 10.000 Verschwundene. Aber es gibt viele andere Geschichten, die wegen mangelnder Informationen nicht rekonstruiert werden konnten, und das wird von den Libertären benutzt, um zu behaupten, dass es nicht 30.000 waren. Als ob diese Zahl, 10.000 oder 30.000, die Verbrechen der Diktatur mildern würde. Ich bin der Ansicht, dass die argentinische Gesellschaft immer noch ein sehr starkes Bewusstsein für die Menschenrechte und gegen die Diktatur hat, aber sie hat dieses Thema ausgeklammert, weil die wirtschaftliche Situation für viele so erdrückend war, dass sie es vorgezogen haben, diesen Teil der Äußerungen Mileis zu ignorieren.
Multipolar: Zudem hat Milei die Mehrzahl der Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums entlassen, die in einem Erinnerungsarchiv gearbeitet haben, wo sich Tausende Dokumente aus der Zeit der Militärdiktatur befinden.
Lamas: Die Menschenrechtsorganisationen haben dies verurteilt. Diese Teams leisteten einen grundlegenden Beitrag zur Aufklärung und Beurteilung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das Vorgehen des Verteidigungsministeriums zielt darauf ab, den Prozess der Gerechtigkeit und der Wahrheitsfindung zu behindern, denn die Abschaffung dieser zivilen und professionellen Teams ist sehr besorgniserregend, wenn man bedenkt, dass das Verteidigungsministerium heute größtenteils von pensionierten Militärs geführt wird, die nicht wollen, dass der Staat weiterhin die Rolle der Streitkräfte während der Diktatur untersucht. Nochmal, ein Verteidigungsministerium wird von pensionierten Militärs geführt. Und mit der Schließung eines Bereichs, der zur Rekonstruktion der Wahrheit beigetragen hat, stellt die Regierung die Charakterisierung der Menschenrechtsorganisationen, der Kommission, der Justiz und anderer vergangener Regierungen in Frage, die nachgeforscht haben: Wo sind die Verschwundenen? Was haben sie mit ihnen gemacht? Wo sind die 300 Enkel, nach denen immer noch gesucht wird?
Multipolar: Manche sagen, es handelt sich um Regieren per Dekret, mittels der „Dekrete der Notwendigkeit und Dringlichkeit“. Milei hatte dies auch angekündigt. Jesús Rodríguez, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität von Buenos Aires und Mitglied der UCR, spricht von „der Alleinherrschaft des Marktes von Milei “. Was meinen Sie dazu?
Lamas: Die Autokratie hat sich noch nicht in der Praxis gezeigt, aber ja, Milei hat wenig Sympathie für die demokratischen Institutionen gezeigt, insbesondere für den Kongress. Da der Kongress in den letzten Monaten einigen seiner Vorschläge nicht zugestimmt hat, hat er die Abgeordneten wie Ratten behandelt, sie beleidigt und ist zu seinem Diskurs der Kaste zurückgekehrt. Er sagte, dass alle, die im Kongress sitzen, eine Kaste sind, die ihm nicht erlaubt zu regieren. Er war nicht sehr dialogbereit, sondern hat permanent Kontroversen ausgelöst und versucht, den Kongress zu spalten. Das Gleiche gilt für sein Verhältnis zur Presse und zum Journalismus im Allgemeinen. Wenn irgendetwas Kritisches auftaucht, hat er ein ganzes Heer von Trollen in den sozialen Netzwerken, die losziehen, um die Journalisten zu schikanieren, private Informationen über sie zu präsentieren, was Angst und Rückzug bei den Journalisten erzeugt. Wenn man außerdem die Repression hinzunimmt, von der ich gesprochen habe, ja, dann gibt es eine autoritäre Tendenz in der aktuellen Regierung. Zu extremen Maßnahmen, wie der Auflösung des Kongresses, ist es aber nicht gekommen. Ich glaube nicht, dass die argentinische Gesellschaft das zulassen würde.
Multipolar: Was meinen Sie, was in naher Zukunft passieren wird?
Lamas: Argentinien ist ein Land, das oft unberechenbar ist. Was ich sagen kann, ist, dass die Erfahrungen mit früheren neoliberalen Regierungen sehr schlecht sind. Ich habe das selbst erlebt. Die Grenze dieser Sparpolitik wird von denjenigen gesetzt werden, die aktuell darunter leiden. Sie werden sagen: Bis hierher und nicht weiter. Wir haben über die Rentner und Bildungseinrichtungen gesprochen, partielle Streiks und Generalstreiks. Ich denke, dass die Forderungen im Moment noch sehr unzusammenhängend sind, aber wenn es ihnen gelingt, sie zu artikulieren, kann sich das auf die gesamte Gesellschaft auswirken. Denn die Menschen verlieren die Geduld, die sie in den ersten Monaten hatten. Die Regierung hat mit Repressionen gegen Rentner, Lehrer und entlassene Arbeitnehmer reagiert, und das wird, meines Erachtens, zu einem allgemeineren Protestklima führen. Auf wirtschaftlicher Ebene ist es ebenfalls sehr schwer vorherzusagen, was passieren wird. Im Moment ist das so genannte Länderrisiko auf einem akzeptablen Niveau. Aber Argentinien steht vor der Begleichung einer gigantischen Auslandsschuld, die die Regierung von Mauricio Macri zwischen 2015 und 2019 aufgenommen hat. Diese Verpflichtung ist ein ständiges Damoklesschwert über der argentinischen Regierung. Das hat zu etwas Paradoxem geführt, denn Milei hatte vor einigen Monaten gesagt, er würde niemals Geschäfte mit China machen, aber wegen des extremen Bedarfs an Devisen hat er in den letzten Wochen erklärt, dass die Chinesen doch nicht so schlecht seien, keine Gegenleistung verlangten, und dass er in naher Zukunft zu einem offiziellen Besuch nach China reisen wird. So „pragmatisch“ ist diese Regierung.
Multipolar: Herr Lamas: Javier Milei, der Retter?
Lamas: Nein. Wenn Javier Milei der Retter von jemandem ist, dann der Retter des konzentrierten Reichtums. In diesen Monaten hat er die Steuern für die Reichsten gesenkt, das heißt, der Freibetrag für die Zahlung der Vermögenssteuer wurde von 27 Millionen Pesos (ca. 25.000 Euro) auf 100 Millionen Pesos (ca. 93.000 Euro) angehoben. Das bedeutet, erst ab dieser Summe muss Vermögenssteuer gezahlt werden. Milei hat Subventionen für die am stärksten konzentrierten Wirtschafts-Unternehmen geschaffen und Steuern für die Mittelschicht eingeführt, wie etwa die Einkommensteuer. Die schwächsten Gesellschaftsschichten sind durch sein Sparprogramm noch weiter belastet. Einkommenssteuer wurde fast immer erhoben, obwohl sich der Betrag, aufgrund der Inflation ständig änderte, manchmal blieb er hoch und nur Erwerbstätige mit hohen Gehältern zahlten, dann wieder betraf es nur die mittlere und untere Mittelschicht. Ende 2023 wurde die Einkommenssteuer von der damaligen Regierung abgeschafft, mit der Zustimmung des damaligen Abgeordneten Javier Milei. Wenn also jemand von Javier Milei gerettet wird, dann ist es das argentinische Wirtschaftsestablishment und die multinationalen Unternehmen, nicht die Gesellschaft.
Über den Interviewpartner: Der argentinische Journalist Ernesto Lamas war in den 80er Jahren, nach der Militärdiktatur und während der Präsidentschaft Raúl Alfonsins, Mitbegründer des ersten Community-Radios „FM La Tribu“ in Buenos Aires. Seit 1992 ist er Dozent für Kommunikationswissenschaften an der Universität von Buenos Aires und war von 2003 bis 2011 Koordinator für Lateinamerika und die Karibik für AMARC, eine Nichtregierungsorganisation internationaler Gemeinschaftsradios.
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