SARS-Coronavirus-2 (Elektronenmikroskopie) Bild: Robert Koch-Institut

Mythos Reproduktionszahl

Die sogenannte Reproduktionszahl ist in aller Munde. Sie muss jedoch erst in einen Zusammenhang gestellt werden – sonst ist es leicht möglich, die Zahl für verschiedene Zwecke zu instrumentalisieren. Das reicht von Sensationslust über Angsterzeugung bis hin zum „Abkürzen“ einer Debatte der politischen Maßnahmen. Im Folgenden soll versucht werden, den Kontext für solche Diskussionen zu liefern, damit derartige Instrumentalisierungsversuche künftig erkannt und abgewehrt werden können.

PATRICK GRETE, 13. Mai 2020, 3 Kommentare, PDF

Die Reproduktionszahl R ist ein Wert, der eine Epidemie beschreibt. Man unterscheidet die Basisreproduktionszahl R(0) und die effektive Reproduktionszahl R(eff). R(0) ist eine Kenngröße für einen bestimmten Erreger und sagt aus, wie viele Menschen ein Infizierter im Mittel ansteckt, wenn keinerlei Maßnahmen ergriffen werden. Bei Masern ist der Wert etwa 15, bei SARS-CoV-2 wird sie vom Robert Koch-Institut (RKI) mit 2,4 bis 3,3 angegeben. Wenn Maßnahmen ergriffen werden oder sonstige Bedingungen gegeben sind, ändert sich die Reproduktionszahl. Man spricht dann von der effektiven Reproduktionszahl R(eff). Im Folgenden soll es nur um diese effektive Reproduktionszahl gehen, daher wird der Kürze wegen das Wort “effektiv” weggelassen.

Die Reproduktionszahl gibt die Steigerungs- bzw. Verringerungsrate für die Anzahl der neu Infizierten an. Ist R=2, so steckt im Mittel jeder Infizierte innerhalb der Generationszeit 2 weitere Menschen an. Dies ist der gefürchtete “exponentielle Verlauf”, da nach jeder Generationszeit, die Neuerkranktenzahlen doppelt so hoch sind: 2, 4, 8, 16, 32, 64. Ist also die Neuerkranktenzahl nach 6 Generationszeiten 64 mal so hoch, dann beträgt R=2 vor. Ist R unter 1, dann sinken die Neuerkranktenzahlen. R=0,5 bedeutet, dass zwei Menschen im Mittel nur noch einen Menschen in der Generationszeit anstecken. Sind also aktuell 1.000 neue Erkrankte zu verzeichnen und nach 3 Generationszeiten nur noch 125, dann liegt R=0,5 vor. (1)

Die Reproduktionszahl spielt in der Debatte um den Umgang mit der Coronakrise eine entscheidende Rolle. Erst seit R unter 1 gefallen ist, erscheint es politisch möglich, über Lockerungen zu sprechen. Die Reproduktionszahl wird seit dem 8.4. vom RKI in den täglichen Situationsberichten aufgeführt. Damals, vor Ostern, gab es von den Regierenden harte Ansagen. R war damals mit 1,2 gemeldet, der exponentielle Verlauf lag also noch vor, jede Lockerung würde, so hieß es, zu einem höheren R führen und war damit als unverantwortlich abgekanzelt. Als mit dem 13.4. R auf 1 sank und sich die Regierenden zu Konsultationen trafen, wollte keiner “unvernünftig” sein, alle Beschränkungen sollten bestehen bleiben, um den gerade erst erreichten Erfolg nicht zu gefährden. Schulen blieben auch danach noch geschlossen, Kontaktverbote oder Ausgangssperren in Kraft und viele Menschen verharrten in Anspannung oder Angst ob der verkündeten schlimmen Lage einer andauernden und sich noch verschlimmernden Pandemie in Deutschland.

So richtig und verständlich dieser Verlauf der Ereignisse und der getroffenen Entscheidungen erscheinen: Bei näherer Analyse muss dieses Urteil deutlich korrigiert werden. Eine Argumentation, die auf allein auf R abgestellt, ist manipulativ. Es müssen – wie es das RKI auch selbst schreibt – weitere relevante Aspekte hinzugezogen werden, um nicht noch einmal auf Fehlschlüsse hereinzufallen.

Was bedeutet ein bestimmtes R nun konkret – und was nicht?

R gibt eine Rate an, die sich aus den Fallzahlen ableitet. Zu beachten ist: Wenn man bei zunächst 1.000 neuen Infizierten nach 12 Tagen eine Verdopplung sieht, ist die Situation anders zu bewerten, als wenn man die Zahl sich von 10.000 auf 20.000 verdoppelt. Eine solche Situation wäre natürlich viel kritischer, obwohl die gleiche Steigerungsrate vorliegt.

Zwischen der Verdopplungszeit und der Reproduktionszahl existiert ein direkter Zusammenhang (2). Hier eine Tabelle zur Übersicht:

Wenn also R=1,1 vorliegt und wir zu diesem Zeitpunkt 1.000 neue Infizierte haben, dann bedeutet dies, dass nach 29 Tagen täglich 2.000 neue Infizierte zu erwarten sind. Falls R=1,3 ist, werden die neu Erkrankten bereits nach 10 Tagen doppelt so hoch sein. Andersherum gilt aber auch: Bei R=0,9 ist erst nach 26 Tagen eine Halbierung der Anzahl der neu Erkrankten zu erwarten.

Wer also bei einem R=1,1 in einer Talkshow Schreckensszenarien verbreitet oder von der Politik die sofortige Rücknahme von Lockerungen verlangt, der muss sich fragen lassen, wie er oder sie mit der darin ausgedrückten Verdopplungszeit von 29 Tagen die große Eile begründen will.

Wie in den Abschnitten über die Berechnung von R und über die Qualität der Schätzung näher ausgeführt (siehe Anhang unten), müsste als nächstes gefragt werden, ob denn R tatsächlich diesen Wert hat oder nicht: Das täglich gemeldete R ist nach RKI-Angaben nur eine grobe Schätzung und kann erst nach mehreren Wochen genauer berechnet werden. Da man nicht so lange warten kann, müsste man – wie das RKI selbst empfiehlt – die aktuellen Fallzahlen und die Anzahl der Intensivpatienten hinzuziehen. Für die genauere Bewertung müsste das RKI regelmäßig die genaueren – und nicht nur geschätzten – Reproduktionzahlen nach einigen Wochen herausgeben und beispielsweise im Bericht aufführen. Dies geschieht bis jetzt nicht.

Als nächstes ist zu fragen, wie hoch die Anzahl der durchgeführten Tests ist. Dies ist im Abschnitt über den Einfluss der Testzahlen auf R ausgeführt (siehe unten). Wenn plötzlich Testkapazitäten erhöht werden, wird man R systematisch überschätzen, wie auch das RKI andeutet. Wenn also nun die Testkapazitäten wegen der abflauenden Welle zurückgefahren werden und in einigen Monaten wegen eines neuen Ausbruchs wieder deutlich erhöht werden, dann wird man mehr absolute Fallzahlen und ein überschätztes R haben, ohne dass wirklich eine kritische Situation vorläge. Auch darauf muss bei zukünftigen Diskussionen geachtet werden.

Es ist auch wichtig zu verstehen, dass R eine Modellgröße für eine Pandemie ist. Man kann damit rückblickend sehr gut einen Pandemieverlauf beschreiben und analysieren, sobald die Zahlen mehr oder minder feststehen. Der prognostische Wert im Hier und Jetzt ist hingegen sehr begrenzt, denn R lässt sich zum aktuellen Zeitpunkt nicht hinreichend präzise bestimmen. Daher lässt sich am aktuell ermittelten R auch nicht der Beginn einer neuen Welle ablesen.

Deshalb müssen stattdessen die aktuellen Erkrankungs- und Intensivzahlen in den Blick genommen werden. Dies ist im Abschnitt über die Bewertung des Pandemieverlaufs gezeigt (siehe unten). Wer nur mit dem aktuell gemeldeten R allein argumentiert, handelt unredlich und macht sich der Panikmache (oder unangebrachter Beschwichtigung) verdächtig. Dies muss von jedem Zuschauer oder Teilnehmer einer Diskussion verstanden, entsprechend eingeordnet und zurückgewiesen werden.

Ferner ist nicht klar, welche Änderungsrate R selbst hat. Die oben genannten 29 Tage Verdopplungszeit liegen ja nur vor, wenn R in dieser Zeit konstant bleibt. Das ist aber nur der Fall, solange keine dynamische Entwicklung vorliegt. Das Zeitintervall ohne “dynamische Entwicklungen” benötigt aber keine kurzfristigen Entscheidungen und daher ist R dort auch wenig interessant.

Schließlich gilt es zu beachten, dass sich mit R keine lokalen Effekte erfassen lassen.
Der Ausbruch von Covid-19 in einer Klinik oder in einer Stadt führt zu einer deutlichen Steigerung von R für ganz Deutschland. Daraus lässt sich nicht ableiten, dass sofort in ganz Deutschland entsprechende Maßnahmen nötig sind. Dafür müssten die Maßnahmen in diesen spezifischen Gebieten zuerst erfolglos geblieben sein bzw. mutmaßlich so erscheinen. Aber auch das wäre nicht aus R ersichtlich.

Fazit: Das aktuell gemeldete R hat eine vergleichbare Aussagekraft, wie die gemeldeten Zahlen an neu Infizierten. Ein darüber hinausgehender prognostischer Wert ist nicht ersichtlich, da er im aktuellen Moment nur grob geschätzt werden kann.

Da die Umstände (siehe Anhang) dieser Schätzung zunächst wenig bekannt waren und erst seit Anfang Mai vollständig vorliegen, diente R in Debatten eher als Totschlagargument, das Angst erzeugte. In der Zwischenzeit führten verschiedene Unklarheiten, auf die im Anhang weiter unten eingegangen wird, zu Zweifeln an der Glaubwürdigkeit des RKI und möglicher politischer Beeinflussung seiner Meldungen. Die Mainstream-Medien haben dies erst jetzt, nach Aufklärung der Umstände zum Thema gemacht – siehe etwa ZDF Berlin direkt am vergangenen Sonntag (10.5.). Vorher wurden berechtigte Fragen mehrheitlich ignoriert. Das ist ein unwürdiges Bild.

Für die Zukunft muss darauf geachtet werden, ob in Debatten, beispielsweise wenn es um eine zweite Welle geht, wieder nur allein mit R, ohne weiteren Kontext argumentiert wird, oder ob man den Verlauf der Epidemie umfassend würdigt. Eine Instrumentalisierung, in der sachlich unberechtigt Angst erzeugt wird, muss aufgedeckt und zurückgewiesen werden.

Über den Autor: Dr. Patrick Grete, Jahrgang 1981, ist Diplom-Physiker und hat in Dortmund studiert und promoviert. Seit 2011 arbeitet er als Cyber-Sicherheitsexperte für Cloud Computing, Informationssicherheits- und Kontinuitätsmanagement im öffentlichen Sektor in Bonn.

Anhang

Um die oben gemachten Aussagen nachvollziehen zu können, werden im Folgenden für den an Details interessierten Leser einzelne Aspekte näher beleuchtet:

1. Berechnung von R und die Qualität eingehender Zahlen

Die Reproduktionszahl wurde vom RKI am 8. April erstmals in den täglichen Situationsberichten kommuniziert. Der Wert lag bei 1,2 und wurde medial aufgegriffen und zur Untermauerung der These benutzt, dass man sich immer noch im exponentiellen Verlauf der Epidemie befinde. Am 9. April gab das RKI als Quelle für die gemeldete Reproduktionszahl eine Vorabpublikation aus ihrem hauseigenen Epidemiologischen Bulletin an. Das heißt, erst einen Tag später konnte überhaupt nachvollzogen werden, wie diese Meldung zustande kam. Erst dann war es möglich, Kontext und Einordnung zu geben.

Laut dieser Publikation berechnet das RKI das R wie folgt: Da es die Generationszeit mit vier Tagen annimmt, berechnet sich R als Anzahl der neu Infizierten der letzten vier Tage geteilt durch die Anzahl der neu Infizierten aus den vier Tagen davor.

Die auch in der Publikation genannte Schwierigkeit lautet: Die Erkranktenzahlen sind nicht tagesaktuell bekannt. (3) Aus diesem Grund berechnet das RKI die Reproduktionszahl nicht aus den aktuellen Zahlen, sondern schätzt aus den bisherigen Zahlen die noch nicht gemeldeten Fälle durch ein Schätzverfahren namens "Nowcast". Wie gut ist diese Schätzung? Ein Blick in die oben genannte Publikation, genauer auf Abbildung 3, gibt darüber Auskunft:

Darin sieht man, wie instabil die Nowcast-Simulation ist, je näher man dem aktuellen Datum kommt (die Abbildung stammt vom 9.4.2020). Beispielsweise lesen wir am 2.4. ab, dass mit den Nowcast-Daten vom 5.4. etwa 9.000 neue Erkrankte erwartet wurden. Mit den Nowcast-Daten vom 6.4. lag dieser Wert bei 8.000 und mit den Nowcast-Daten vom 7.4. wurden 7.000 Erkrankte ermittelt. Das sind sehr große Schwankungen. Erst wenn man weiter in die Vergangenheit geht, sieht man, dass die blauen Kurven der Nowcast-Simulation zu verschiedenen Datenständen an einem Tag übereinander liegen. Aber erst einen Monat vorher (in der Abbildung ab 12.3.) liegen Simulations- und Meldedaten übereinander. Da die mit Nowcast ermittelten Daten so stark schwanken, verwendet das RKI für seine täglichen Berichte auch nicht die Simulation des jeweils aktuellen Tag, sondern schließt die Daten der letzten drei Tage aus. Konkret: Für die Meldung am 9.4. wurden die Nowcast-Daten vom 6.4. benutzt. Es ist damit eigentlich die Reproduktionszahl vom 6.4., die am 9.4. gemeldet wird. Wie man sieht, unterscheidet sich in der obigen Abbildung die Simulation der Daten mit älteren und neuen Datenständen stark.

Eine mit solchen Zahlen ermittelte Reproduktionszahl ist eine grobe Schätzung mit großen Unsicherheiten. Diese Unsicherheit gibt das RKI auch immer mit der Angabe des 95%-Konfidenzintervalls an. (4) Um es vorweg zu nehmen: Schon in der neuen Vorabpublikation vom 15.4. sehen wir in Abbildung 4, dass R am 8. und 9.4. unter 1 (bei etwa 0,9) lagen, was der unterste Rand des damals angegebenen Konfidenzintervalls war.

Neben dieser großen Unsicherheit gab es noch ein weiteres Problem beim Nachvollziehen der gemeldeten Daten: Wenn man aus den Kurven des Nowcasts die Erkranktenzahlen von 8 aufeinander folgenden Tagen ablas, so ergab sich in der Regel ein leicht anderes R als angegeben. Das RKI hat die Nowcastdaten ab dem 15.4. in die täglichen Berichte aufgenommen. Dies sind die Abbildungen wie diese hier vom 17.4.:

Der Grund für diese Diskrepanz wurde erst am 29.4. im täglichen Situationsbericht aufgeklärt. Seit diesem Datum bestehen die dargestellten Nowcastdaten aus einem gleitenden Vier-Tages-Mittelwert. Vorher war es ein gleitendes Drei-Tages-Mittel. Das heißt, das RKI hat in den Kurven gar nicht die simulierten Daten abgebildet (die wahrscheinlich ähnlich sprunghaft aussehen, wie in der ersten Abbildung), sondern hat diese Zahlen durch ein gleitendes Mittel geglättet. Das ist eine nicht unübliche Methode, nur muss dies erwähnt werden. Damit konnte niemand die Zahlen nachrechnen.

Jeder der das aber öffentlich anmerkte, wurde von etablierten Medien ignoriert oder in die Verschwörungsecke gestellt, jedoch ohne dass die Rechnungen einmal nachvollzogen wurden. Jemand, der kritisch nachrechnet und inkongruente Ergebnisse infragestellt, ist jedoch kein Verschwörungstheoretiker, sondern er oder sie macht seinen Job. Und wer über die Hintergründe dieser Inkongruenz spekuliert, der äußert seine Meinung. Diese soll und darf gegebenenfalls auch scharf diskutiert werden, aber so lange, wie die Ursache (hier die Inkongruenz) nicht aufgeklärt ist, hat diese Position einen validen Punkt. Und wer selbst dieses Faktum negiert, begibt sich per Definitionem in den alternativ-faktischen Bereich.

Erst am 29.4. änderte das RKI die Darstellung seiner Nowcast-Daten in einen gleitenden Vier-Tages-Mittelwert. Erst dann konnte jeder aus den abgelesenen Zahlen R nachrechnen und kam zum gleichen Ergebnis wie das RKI. Und da auch ein solches Ablesen unnötig schwierig ist, stellt das RKI seine Nowcast-Daten seit dem 4.5. in einer ständig erweiterten Excel-Tabelle zur Verfügung. Es hat also knapp einen Monat gedauert, bis das RKI vollständig transparent über R kommuniziert hat. Das ist bei einer so wichtigen Kennzahl und der daraus gezogenen Schlüsse eine ausbaufähige Kommunikationskompetenz.

2. Wie gut ist die “grobe Schätzung” von R in den Situationsberichten?

Das RKI nennt in jedem Situationsbericht die gemeldete Reproduktionszahl eine grobe Schätzung. Dies wäre eigentlich die Einladung, diesen Umstand medial darzustellen und zu diskutieren. Leider geschieht dies nicht. Die Qualifikation als “grobe Schätzung” wurde zu: “Das RKI meldet am heutigen Tag R=...”. Leser von Albrecht Müllers Buch “Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst” erkennen dies als Manipulationsmethode durch Verkürzung. Etablierte Medien würden wohl eher von einer notwendigen Konzentration, um die Leser nicht zu überfordern, sprechen.

Die Qualität der Schätzung der Reproduktionszahl ist erst 2 bis 3 Wochen später ersichtlich, wenn alle Meldungen eingegangen sind. Auf diesen Umstand verweisen auch die außeruniversitären Forschungseinrichtungen in Ihrer Publikation (siehe Stellungnahme vom 28.4.2020, S. 4, 2. Spiegelstrich). Einen Eindruck erhält der Leser nur durch die Abbildung 5 der Publikation (Epid Bull 2020;17:10 – 16), die hier wiedergegeben ist:

Hier sind verschiedene Reproduktionszahlverläufe in Abhängigkeit vom Datenstand des jeweiligen Datums zu sehen. Die Kurve ist sehr unübersichtlich, insbesondere wurden verschiedene Datensätze mit dem gleichen Linienstil versehen. Aber der wichtigste Effekt, auf den ich hier hinweisen möchte, ist sichtbar: R an einem bestimmten Tag ändert sich mit dem verwendeten Datenstand. Wir sehen zum Beispiel die gepunktete Kurve, die am 29.3. endet und den Datenstand vom 1.4. wiedergibt. Wir erinnern uns an die Aussage im Situationsbericht: Für das R am aktuellen Tag werden die Daten der letzten drei Tage (30.3., 31.3. und 1.4.) nicht verwendet. Am 1.4. hätte das RKI demnach etwa R=0,6 gemeldet; nur wurde erst am 8.4. R in den Berichten aufgenommen. Wir sehen aber, dass mit aktuelleren Datenständen R am 29.3. deutlich nach oben korrigiert wird. Die langgestrichelte Kurve, die am 2.4. endet und damit den Datenstand vom 5.4. wiedergibt, zeigt am 29.3. ein R etwas größer als 1. Mit den Datenstand vom 12.4. (durchgezogene Kurve die am 9.4. (wieder 3 Tage vorher) endet), sieht man, dass R bei etwa 0,9 liegt; ein Wert, der sich aus den Datenständen der Tagen davor auch schon ergeben hat (soweit wie es sich aus dieser unübersichtlichen Kurve entnehmen lässt).

Für diese Kurve wurden die Datenstände vom 8.4. und 9.4. auch noch einmal verwendet, nur dieses Mal kommt am 8.4. ein Wert unter 1 heraus, da das RKI nun den Ermittlungsverzug besser schätzen konnte. Auch dieser Punkt wurde weder in Leitmedien noch Alternativmedien aufgegriffen und vom RKI auf Nachfrage von Multipolar in einem Presseworkshop zur Reproduktionszahl erst am 5.5. erklärt. Vorher ist niemandem aufgefallen, dass das RKI seine Datenstände neu ausgewertet und ein anderes R errechnet hat. Auch in der Publikation wird darauf nicht eingegangen.

3. Einfluss der Testzahlen auf R

Das R bezieht sich auf die absoluten Zahlen der neu positiv Getesteten. Daher spielt die Anzahl der durchgeführten Tests eine wichtige Rolle. Dies schreiben die Autoren vom RKI selbst:

“Ein weiterer Aspekt ist aber auch, dass in Deutschland die Testkapazitäten deutlich erhöht worden sind und durch stärkeres Testen ein insgesamt größerer Teil der Infektionen sichtbar wird. Dieser strukturelle Effekt und der dadurch bedingte Anstieg der Meldezahlen, kann dazu führen, dass der aktuelle R-Wert das reale Geschehen etwas überschätzt. Eine Adjustierung für die höheren Testraten ist nicht ohne weiteres möglich, da keine ausreichend differenzierten Testdaten vorliegen.” (Quelle: Epid Bull 2020;17:10 – 16)

Nur leider wird über diesen Einfluss kaum diskutiert. Auch wird eine solche Differenzierung der Testdaten nicht öffentlich verlangt.

Daher hier ein Ansatz für eine Diskussion: In der 11. Kalenderwoche (9.-15.3.) wurden 127.457 Tests durchgeführt, in der Kalenderwoche 12 waren es 348.619 Tests, also 2,7 mal so viel. Man erkennt deutlich, dass der Abfall ab dem 16.3. in der obigen Abbildung nicht mehr so steil ist. Ohne diese massive Testzahlerweiterung und selektive Auswahl der Getesteten (es werden nur Menschen mit Symptomen getestet, die Kontakt mit einem Infizierten hatten; es wird keine repräsentative Stichprobe der Bevölkerung genommen) wäre R wahrscheinlich schon deutlich früher abgeflacht und unter 1 gelandet.

Ferner: Es werden nur Menschen mit bestimmten Kriterien getestet. Werden die Kriterien geändert oder werden aufgrund aktueller Entwicklungen Tests anderer Gruppen angeordnet, dann wird sich die Anzahl der positiv Getesteten gegebenenfalls erhöhen. Das muss zu einem größeren R führen, jedoch ohne dass deshalb eine zweite Welle festgestellt wäre.

4. Bewertung des Pandemieverlaufs

Um den Pandemieverlauf bewerten zu können, reicht R alleine nicht aus. Die Autoren des RKI warnen auch selbst vor einer Beurteilung der Lage allein mit R:

“Die Reproduktionszahl alleine reicht nicht aus um die aktuelle Lage zu beschreiben. Zumindest die absolute Zahl an Neuerkrankungen und auch die Zahl schwerer Erkrankungen müssen zusätzlich betrachtet werden um ein angemessenes Bild zu bekommen.”

Hier ein Überblick anhand der vom RKI gemeldeten Zahlen:

In der ersten Spalte ist das Datum, in der zweiten die an dem Datum gemeldeten neu positiv Getesteten, in der dritten Spalte die Anzahl der neu Genesenen als Differenz vom aktuellen Tag und Vortag, in der vierten Spalte ist das gemeldete R, in der fünften Spalte die am Tag nach DIVI-Intensivregister gemeldeten COVID19-Fälle auf der Intensivstation, in der sechsten Spalte der Anteil der Beatmungspatienten auf der Intensivstation, in der siebten Spalte der Saldo der Fälle (Neue minus Genesene), in der achten Spalte die neuen Intensivfälle als Differenz vom aktuellen Tag und Vortag und in der letzten Spalte der Saldo für die Beatmungsfälle auf der Intensivstation. Hier muss unterstrichen werden, dass die Genesungsfälle nicht gemeldet, sondern aus dem Erkrankungsdatum beziehungsweise (falls das nicht bekannt ist) aus dem Meldedatum geschätzt werden.

Wie zu sehen, wird der Saldo der Fälle bereits ab dem 12.4. negativ. Seit diesen Zeitpunkt wurden mehr Menschen gesund, als sich neu ansteckten. Ab dem 12.4., spätestens aber in den Tagen danach, hätte klar werden können, dass dies nur konsistent mit einer Reproduktionsrate unter 1 seit mindestens einer Woche ist. Daher hätte man schon damals sagen können, dass die Reproduktionszahl nicht dem realen Geschehen entsprechen kann. Etwa sieben Tage später wurde auch der Saldo auf den Intensivstationen negativ. Dieser Verzug ist konsistent mit der ermittelten Zeit vom Erkrankungsbeginn bis zur Hospitalisierung (Punkt 10 im RKI-Steckbrief), wo bei einer sehr kleinen Studie in Deutschland unter Intensivpatienten von etwa 7 Tagen ausgegangen wird.

Endnoten

(1) Hierbei ist die Generationszeit wichtig. Das RKI schreibt, dass sie “etwa dem seriellen Intervall [entspricht], das die mittlere Dauer zwischen dem Erkrankungsbeginn eines Falles und dem Erkrankrankungsbeginn seiner Folgefälle [angibt]” (Epid Bull 2020;17:10 – 16). Das RKI schätzt diesen Parameter auf 4 Tage. Im obigen Beispiel bedeutet R=2 also nicht eine Verdopplung innerhalb eines Tages sondern innerhalb von vier Tagen.

(2) Da die Anzahl der neu Erkrankten nach jeder Generationszeit mit R multipliziert die Anzahl der neu Erkrankten nach dieser Generationszeit ergibt, kann man ausrechnen, wie oft man R mit sich selbst multiplizieren muss, um den Faktor 2 zu ergeben (mathematisch: R hoch x=2 nach x auflösen).

(3) Es kommt zu einem Verzug, da jemand, der heute Symptome hat, zuerst getestet werden muss und dieser Test erst ausgewertet werden muss und dann an das RKI übertragen werden kann.

(4) Eine solche Angabe bedeutet für den Laien: Wenn 100 mal eine Datenlage wie jetzt vorläge, dann würde man in 95 dieser Situationen R in dem angegebenen Konfidenzintervall finden und nur in 5 dieser Situationen läge R außerhalb.

V. MAYER, 13. Mai 2020, 08:45 UHR

Vielen Dank für diese Erläuterung. Mich würde interessieren: Wenn das RKI den Wert von R(0) mit 2,4 angibt: Wie steht das im Verhältnis zum Ergebnis der Heinsbergstudie, wonach sogar in einem Zweipersonenhaushalt die Ansteckungsrate unter 0,5 liegt?

M. KRAHE, 13. Mai 2020, 13:20 UHR

Das bedeutet, dass sich die Leute vorwiegend außerhalb ihres Haushalts angesteckt haben.

RALF VOGEL, 14. Mai 2020, 15:15 UHR

Vielen Dank für diese lehrreiche Analyse.

Was mir persönlich in der ganzen Diskussion um die Rezeption der RKI-Zahlen zu kurz kommt, ist der Umstand, dass das ganze Ausbreitungsgeschehen von einzelnen Hotspots geprägt ist. Das war im Grunde die ganze Zeit so, vielleicht mit Ausnahme von Baden-Württemberg. Unter diesen Umständen ist eine zusammenfassende Statistik für Deutschand eigentlich irreführend, und sogar für Bundesländer mit Hotspots wie NRW und Bayern noch zu grob, wo man besser auf Landkreisebene runtergeht. Selbst in einer Stadt verfällt niemand in Panik, wenn an einem konkreten Ort, einem Pflegeheim z.B., viele Fälle auftreten. Niemand würde deshalb strengere Maßnahmen für alle für nötig halten, egal, ob der R-Wert für die Stadt kurzzeitig durch die Decke geht.

Der große Teil der Republik hatte wahrscheinlich nie eien R-Wert wesentlich über 1.

Das läuft auf das FDP-Argument hinaus, warum an der Ostsee alles dicht gemacht werden muss, wenn in Rosenheim die Zahlen steigen – das seit letzter Woche die neue politische Leitlinie zu sein scheint.

Es war zunächst im Interesse der Politik, die sich für bundesweit einheitliche Maßnahmen entschieden hat, dass bei der medialen Auswertung des Zahlenmaterials bundesweite Werte wie der R-Wert für Deutschland in den Vordergrund gerückt werden. Ich finde es bemerkenswert, dass seit einigen Tagen, seit der Strategieänderung auf lokale Maßnahmen, im RKI-Dashboard die gelbe Landkreiskarte aufgenommen wurde (mit den Infektionen der letzten 7 Tage). Alleine an so etwas kann man erkennen, dass natürlich von den Bundesbehörden gemäß der aktuellen politischen Priorisierungen kommuniziert wird.

Das RKI kann sich dabei natürlich darauf herausreden, dass man in den täglichen Lageberichten viel mehr an Details preisgab und -gibt, und auch auf Kritik eingegangen ist – nach und nach kam wie berichtet eine transparente R-Wert-Schätzung dazu, aber auch eine Test-Statistik, Genesungszahlen und inzwischen auch die Darstellung der Todesfälle nach Todesdatum (statt wie bisher nach Meldedatum).

Eine kritisch berichtende Presse hätte jedenfalls aufgrund der Lageberichte allein schon viel früher substanziell die Regierungsstrategie hinterfragen können. Außerhalb der alternativen Medien gibt es aber in dieser Frage keine kritische Presse.

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