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Schwarze Wahrheiten

Die Straßenproteste gegen die politischen Corona-Maßnahmen verharren in alten Mustern, die die etablierten Akteure nicht überraschen. Für Politik, Polizei und Medien ist es dadurch ein Leichtes, die Querdenker-Demonstrationen in ihren Abläufen zu behindern und in ihrer Außendarstellung zu verzerren. Engagiert und friedlich müssen die Proteste bleiben, aber ansonsten muss sich einiges ändern, um die Öffentlichkeit wirksam wachzurütteln. Als äußerst effizient könnte sich hierzu das Mittel der „schwarzen Wahrheiten“ erweisen. Ein Debattenbeitrag.

STEFAN KORINTH, 23. September 2020, 14 Kommentare, PDF

Die Erzählung „Der Hase und der Igel“ dreht sich um ein ungleiches Duell. Der schnelle Hase tritt in einem Wettlauf auf dem Acker gegen den langsamen Igel an. Doch gegen alle realen Fähigkeiten und Machtverhältnisse gewinnt der Igel. Warum? Weil er nicht nach den Regeln des Hasen spielt, weil er kreativ ist, ihn überrascht und austrickst, ohne dass der Hase das überhaupt merkt. Mithilfe seiner Frau besetzt der Igel einfach immer die Position des Hasen, bevor dieser dort sein kann.

Sei es auch nur eine Fabel für Kinder, so stecken darin doch mehrere Lehren für die Proteste gegen den derzeitigen Ausnahmezustand in Deutschland. Der Hase steht für einen überlegenen, mächtigen Akteur. Regierung, Polizei, Justiz und Medien sind die realen Gewalten in diesem Land. Sie besitzen nahezu alle Macht: Gesetzgebung, Gewaltmonopol, öffentliche Definitionsmacht – alles liegt in ihren Händen.

In den vergangenen Monaten ist deutlich geworden, dass diese Mächte entgegen aller demokratietheoretischen Annahmen nahezu vereint agieren. In der Fabel wären sie alle zusammen der kräftige, schnelle Hase. Und auch wenn der Igel den Hasen gar nicht zum Gegner haben, sondern mit ihm kooperieren möchte, ist das dem Hasen völlig egal. Die herrschenden Gewalten wollen nicht sachlich debattieren, sie wollen sich nicht überzeugen lassen, sie wollen ihre Gegner einfach nur besiegen und sind dazu – anders als der Hase in der Fabel – sogar bereit, die Regeln bis zum Zerreißen zu dehnen.

Seit Monaten schon versuchen die Kritiker sich gegen diesen Machtblock zu behaupten. Sie agieren dabei allerdings so, als versuchte der krummbeinige Igel den Hasen fair und sportlich im Wettlauf zu besiegen. Doch so sehr sich der Igel auch anstrengt, er hat keine Chance. Selbst wenn er dem Hasen nahekommen könnte, würde dieser die Regeln so ändern, dass er trotzdem gewinnt – einfach weil er die Macht dazu hat.

Nun lassen sich Spielfeld und Regeln (wie behördliche Vorgaben oder die Gebote der politisch-medialen Aufmerksamkeitsökonomie) durch die Demonstranten kaum bis gar nicht ändern. Doch das ist auch nicht nötig. Die Querdenker sollen sich auch weiterhin an alle geschriebenen Regeln halten. Aber eben nicht mehr an die ungeschriebenen Regeln. Es gibt eine allgemeine Auffassung – einen „Common Sense“ – darüber, wie Straßenprotest auszusehen und abzulaufen hat. An diese ungeschriebenen Regeln sind die Querdenker aber nicht gebunden.

Es muss sich etwas ändern, sonst werden die Querdenker genauso zersetzt wie frühere Protestbewegungen. Die gute Nachricht: Mit Kreativität, taktischer Analyse und Schlauheit kann sich der Igel auch im bestehenden System gegen den Hasen durchsetzen: Er muss eigentlich wieder nur dessen Position besetzen, bevor der Hase dort sein kann.

Wenn Stärken als Schwächen benutzt werden

Bevor es zu einem Lösungsvorschlag geht, müssen die Schwachstellen der bisherigen Demonstrationen analysiert werden. Keine der folgenden Ausführungen ist eine Kritik an den Machern. Im Gegenteil: Mutig und engagiert haben sie Protest organisiert, als viele sich wegduckten. Das verdient große Bewunderung. Die Mittel und Prinzipien der Querdenker und anderer Veranstalter dieser friedlichen Demos sind lobenswert und richtig. Es war nicht unbedingt damit zu rechnen, dass die Gewalten in diesem Land derart unversöhnlich und eskalationsbereit mit den Protesten umgehen, wie sie es taten. Doch inzwischen ist diese Einsicht leider unverkennbar und sollte zu Strategieänderungen der Querdenker führen.

Nun zu den Schwachpunkten der bisherigen Demos: Das Perfide daran ist, dass ausgerechnet die Eigenschaften, die aus Sicht der Veranstalter die Stärken der Protestbewegung sind, vom Gegner größtenteils als Schwächen beurteilt und ausgenutzt werden. Einzig die Friedfertigkeit der Proteste fällt nicht unter dieses Urteil. Die strikte Gewaltlosigkeit muss beibehalten werden, sie kann nicht gegen die Demonstranten verwendet werden.

Aber der Rest: Die Veranstaltungen sind nämlich nicht nur friedlich, sondern auch bunt, fröhlich, unabhängig, informativ und offen. Für die allermeisten Menschen – also normale, nicht-radikalisierte Menschen – sind das tolle Eigenschaften. Allerdings sollte sich jeder bewusst machen, dass diese Aspekte von einem taktisch kühl analysierenden Gegenspieler leicht ins Negative gedreht werden können. Dem Hasen ist die Fairness des Igels völlig egal. Der Hase will gewinnen.

Aus bunt mach braun

Und das geschieht so: Sind Demonstrationen bunt, greift sich der Gegner ganz einfach die hässlichste Farbe heraus und zerrt sie dauerhaft ins Rampenlicht. Im Falle der Proteste gegen die politischen Corona-Maßnahmen war das die Farbe braun. In der herrschenden Politik und den etablierten Medien wird immer wieder auf diese Farbe gezeigt. Braun, braun, braun. Gern auch hellbraun und dunkelbraun. Ja, es waren – „angeblich“, „mutmaßlich“, „vereinzelt“ – auch andere Farben da. Aber eben auch braun, braun oder braun. Erwähnte ich schon die Farbe braun? Wenn das nicht reicht, interpretiert man eben auch die Farben rot und schwarz als Brauntöne und kleckst selbst noch ein wenig braun aus dem eigenen tiefenstaatlichen Farbkasten dazu.

Wenn Demos unabhängig sind, also frei von den Ressourcen und Einflüssen etablierter Akteure, dann sind die Demo-Organisatoren nicht nur frei in ihren Entscheidungen, sondern eben auch von ihrer Position her nicht einzuordnen. Es sind unbeschriebene Blätter. Keine Institutionen unterstützen sie? Keine Parteien, keine NGOs, keine Gewerkschaften? Sie wollen weder rechts noch links sein? Na gut, dann werden sie eben von Politik und Medien eingeordnet. Schnell sind die „unbeschriebenen Blätter“ also mit dem größten Unsinn vollgekritzelt.

Ist eine Demo fröhlich und musikalisch, sorgt das für gute Stimmung unter den Protestierenden. Aber es erlaubt dem Gegner auch zu sagen: „Guck mal, die wollen ja nur feiern. Dann kann es ja so schlimm nicht sein mit der angeblichen Unterdrückung in Deutschland.“

Legen Veranstalter vor Gericht Klage gegen Demo-Beschränkungen ein, dann haben sie offensichtlich Vertrauen in den Rechtsstaat. Erhalten sie dann auch noch recht, ist das doch nur ein Zeichen dafür, dass der Rechtsstaat funktioniert und die Kritik Unsinn ist. Wird die Klage jedoch abgewiesen, zeigt das, wie sehr die Demonstranten im Unrecht sind. Die Auslegung ist immer negativ. Ja, dieser Umgang mit den Protesten ist unappetitlich, aber entscheidend ist, die zersetzende Logik dahinter zu analysieren, um sich zu wappnen.

Sind Kundgebungen informativ und offen, dann bieten sie dem Gegner eben auch die Möglichkeit, sich die schwächsten Argumente und Reden herauszupicken. Und genau das tut er: Emotionale Ausbrüche, unklare Formulierungen, sarkastische Sprüche, schillernde Paradiesvögel, aus dem Zusammenhang gerissene Zitate. Genau diese Dinge werden in den Medien gezeigt – und nicht die vielen überzeugenden Argumente, die Distanzierungen von rechts oder die tollen Ansprachen.

Robert Kennedy hat nie gesprochen

Wenn die Leitmedien die Berliner Rede von Robert F. Kennedy am 29. August nicht prominent wiedergeben, dann ist es so, als habe er dort nie gesprochen. Genau das ist die Realität für die überwältigende Mehrheit der Menschen in Deutschland. Walter Lippmann, einer der wichtigsten und einflussreichsten Vordenker von Propagandatechniken, nannte das „Pseudoumwelt“. Dieses medial und PR-mäßig erzeugte Weltbild in den Köpfen der Mehrheit bestimmt das Handeln der Menschen – nicht die Wirklichkeit. Dieses Bild im Kopf wird geformt.

„Der Krieg ist zu Ende. Ich habe es im Fernsehen gesehen“, sagt Robert de Niro im Film „Wag the dog“. Den „Krieg“ hat er zuvor selbst künstlich in einem Hollywood-Studio erschaffen und über das Fernsehen in die Köpfe der Amerikaner gebracht. Der Konkurrent im Wahlkampf hat den Krieg zwischenzeitlich per TV-Ansprache beendet. „Wenn ich es im Fernsehen sehe, dann stimmt es.“ Zugespitzt gesagt: Nur 0,1 Prozent der Deutschen haben Kennedy in Berlin gehört. 99,9 Prozent haben in der Tagesschau stattdessen Reichsbürger gesehen.

Es liegt nicht in der Macht der Querdenker, diese Logik zu durchbrechen. Sie können sie aber in ihrem Sinne nutzen. Dazu muss man sich klarmachen, wie Medien und „soziale Medien“ funktionieren. Es braucht keine fröhlichen Veranstaltungen und keine tiefschürfenden Argumente, um dort prominent aufzutauchen. Es braucht beeindruckende Bilder und plakative Botschaften. Über Bilder, Symbole und Botschaften müssen die Querdenker die Kontrolle gewinnen. Besser spät als nie. Und zwar indem sie diese selbst anbieten. Aber nicht viele verschiedene, sondern genau ein Bild, ein Symbol, eine Botschaft.

Sind die Proteste in Weißrussland „bunt“? Gibt es dort viele verschiedene Fahnen? Nein, dort herrscht nur ein einziges Symbol: weiß-rot-weiß. Und nur eine Botschaft: Lukaschenko muss weg. Inhaltlich ist da sonst gar nichts klar. Aber das ist keine Schwäche. Im Gegenteil: Unter den herrschenden medialen Bedingungen ist das der Schlüssel zum Sieg.

Nur ein Bild, ein Symbol, eine Botschaft. Mutwillige Fehlinterpretationen sind nicht mehr möglich. Der Gegenspieler hat dann nur noch die Wahl, das Angebotene zu thematisieren oder es zu ignorieren. Damit die Botschaft im Fall der Querdenker nicht ignoriert wird, muss sie für den Gegner unwiderstehlich sein. Und wie? Es muss seine eigene Botschaft sein! Und zwar in maßlos überspitzter Art. So dass die Gegner gezwungen sind, sich selbst davon zu distanzieren, und diese Position nicht mehr besetzen können. Der Hase kommt ins Ziel, doch der Igel ist schon da.

Hier kommen die schwarzen Wahrheiten ins Spiel.

Objektzerstörung durch vollständige Bejahung

Die schwarze Wahrheit ist ein philosophisches Konzept, das als Mittel äußerst wirksam in Rhetorik, Aktionskunst, aber auch in politischen Auseinandersetzungen angewandt werden kann. Allerdings passiert das nur sehr selten, weil die Ausgangssituation schon in gewisser Weise extrem sein muss, um dieses Mittel zu nutzen. Im derzeitigen Stadium des politischen und gesellschaftlichen Ausnahmezustands ist diese Voraussetzung jedoch mehr als erfüllt.

Bei schwarzen Wahrheiten handelt es sich um Aussagen, die unter den gegebenen Voraussetzungen zwar richtig und vernünftig sind, die aber zu extrem, ja geradezu skandalös sind, als dass man sie tatsächlich so meinen könnte. Eine sehr unübliche Art des Sprechens, denn normalerweise sind Wahrheiten gut („weiß“) und Lügen schlecht („schwarz“). Schwarze Wahrheiten sind Übertreibungen beziehungsweise Überaffirmationen, die ihr Objekt so vollständig bejahen, dass es dadurch zerstört wird, erläutert der österreichische Philosoph Robert Pfaller. (1)

Ein Beispiel: Der britische Satiriker Sacha Baron Cohen hatte sich im Jahr 2006 für seinen Film „Borat“ in den USA als hinterwäldlerischer Kasache ausgegeben. In einer Szene steht er in einer Rodeo-Arena und darf per Mikrofon in gespielt fehlerhaftem Englisch ein paar Worte an das traditionell republikanische Rodeo-Publikum richten.

„Ich bin Borat aus Kasachstan. Lassen Sie mich zuerst sagen: Wir unterstützen Ihren Krieg des Terrors. (kräftiger Applaus des Publikums) Wir sollten jetzt unsere Unterstützung für unsere Jungs im Irak zeigen. (lauter Jubel) Mögen die USA jeden einzelnen Terroristen töten! (Jubel und Applaus) Möge George Bush das Blut jedes einzelnen Mannes, jeder Frau und jedes Kindes im Irak trinken. (weniger Applaus) Mögen Sie dieses Land so zerstören, dass dort in den nächsten tausend Jahren nicht mal eine Eidechse in der Wüste überlebt (verhaltener Applaus, skeptische Blicke).“

Cohen sprach hier die unangenehme Wahrheit über zahllose durch das US-Militär getötete Zivilisten im Irak und über die Zerstörung des Landes aus. Nur tat er das nicht in anklagendem Ton, sondern im Gegenteil in ekstatischer Bejahung. Keiner der Kriegsbefürworter im Publikum konnte diese Aussagen ernsthaft gut finden. Kriegsgegner und Unentschlossene sowieso nicht. Jeder Mensch – auch wenn er die US-Kriege im Nahen Osten unterstützt – würde sich von solchen Wahrheiten distanzieren und käme in Erklärungsnot. Mit seinen Forderungen überholte Cohen auch die härtesten Militaristen – und zwar überholte er sie rechts. Völlig unerwartet in normalen Diskursen.

Wie ein Spiegel der Hässlichkeit

Schwarze Wahrheiten sind für alle Streitparteien unverdaulich. „Das, was die schwarze Wahrheit sagt, wird gerade dadurch, dass sie es sagt, unmöglich gemacht“, schreibt Robert Pfaller. Erkennen Sie das Potenzial für die aktuellen Demonstrationen? Schwarze Wahrheiten zeigen nicht, wie der Absender ist, sondern sie zeigen den Empfängern der Botschaft, wie sie sind – aber doch eigentlich gar nicht sein wollen. Schwarze Wahrheiten „sind grob, um die Grobheit der anderen kenntlich und damit unmöglich zu machen.“

Was bedeutet das für die aktuellen Demos gegen den Corona-Ausnahmezustand? Um in der großen Breite wirksam zu werden, dürfen die Proteste nicht die Maßnahmen kritisieren – das ist es, was alle erwarten –, sondern sie müssen die Maßnahmen ekstatisch bejahen. Das widerspricht dem herkömmlichen Diskurs vollkommen. Die Demonstranten müssen Regierung, Polizei, Medien und Gegendemonstranten auf deren eigenem Gebiet noch weit übertreffen. Ihre Forderungen müssen viel härter sein, absurd härter. Und das muss auch sichtbar werden.

Die grundsätzliche Logik lautet: Die Polizei fordert Masken? Okay, können sie haben! Alle Demonstranten tragen schwarze Masken. Nicht nur im Laufen, nein auch im Sitzen. Die ganze Zeit. Wenn wir vor Gericht dagegen klagen, dann weil die Auflagen der Polizei viel zu lasch sind. Wir klagen für härtere Auflagen. Wir sind noch viel extremer als die Gegenseite und spiegeln damit ihren Extremismus. Die Regierung fordert Masken beim Einkaufen? Wir fordern Masken beim Essen! Sie fordern Masken an der frischen Luft? Lächerlich! Wir fordern Masken auch im Bett!

Nehmt den Herrschenden das Herrschaftssymbol

Die Maske ist sachlich nicht der einzige Streitpunkt, sie ist noch nicht mal der wichtigste. Aber sie ist das gut sichtbare politische Symbol dieses Konflikts. Bislang ist sie jedoch das Symbol der Herrschenden. Die Protestbewegung muss es den Herrschenden wegnehmen. Die Maske muss das neue Symbol der Demos werden. Und zwar das einzige.

Hier verbinden sich schwarze Wahrheiten und effektive Medienstrategien. Die Demo-Organisatoren können kreativ werden: Bedruckt weiße T-Shirts einheitlich mit dem Symbol der schwarzen Maske. Groß und gut sichtbar. Eine vorn, eine hinten. Mehr nicht. Verteilt die T-Shirts an alle Demo-Teilnehmer, gebt ihnen dazu schwarze Mund-Nase-Bedeckungen zum Aufsetzen. Diese absurde Uniformität macht visuell Eindruck: Sie erhöht nicht nur das mediale Interesse, sie ist zugleich die Botschaft.

Haltet die Abstände überdeutlich ein und marschiert diszipliniert und monoton wie eine Armee trauriger Corona-Zombies durch die Stadt. Die unausgesprochene Botschaft nach außen ist eindeutig: Seht her, so sieht die Zukunft mit euren Corona-Regeln aus.

Schwarze Wahrheiten sind als philosophisches Mittel verwandt mit dem schwarzen Humor. Nur sind sie nicht lustig. Proteste gegen die Corona-Maßnahmen sind eben nicht lustig. Es geht hier gegen eine Horrorversion der nahen Zukunft, gegen eine echte Dystopie. Das ist es, was in die Köpfe der Bevölkerungsmehrheit muss. Verändert ihre Bilder im Kopf. Verändert das, was Lippmann „Pseudoumwelt“ nannte.

Diese Proteste dürfen nicht fröhlich sein

Jeder kann sich online die verstörenden Bilder aus dem australischen Bundesstaat Victoria ansehen. Die Herrschenden wollen dort offenbar ausprobieren, wie weit man mit totalitären Maßnahmen in der westlichen Welt gehen kann. Proteste gegen solche Maßnahmen dürfen nicht fröhlich, laut und bunt sein. Sie müssen mit größtmöglicher Signalwirkung schockieren. Sie müssen traurig, schweigsam und eintönig sein. Genauso, wie die „neue Normalität“ wird, wenn sich jetzt zu wenige dagegen wehren.

Ja, herkömmliche Demonstrationen und Kundgebungen sind ein Mittel, bei dem sich Protestierende ihrer selbst vergewissern können. Sie treffen Gleichgesinnte, vernetzen sich und können mit Rufen und Applaus ein wenig Dampf ablassen. Für viele Teilnehmer sind Demonstrationen schöne, mutmachende Ereignisse. Doch Organisatoren und Teilnehmer müssen sich im Klaren sein, dass sie gesellschaftlich nur dann erfolgreich sind, wenn sie nicht für ihre „In-Group“ demonstrieren, sondern dafür, mit den eigenen politischen Botschaften möglichst viele Leute der „Out-Group“ zu erreichen. Das geht nur über die Außenwirkung und die wird vor allem definiert über die etablierten Medien.

Wie diese Medien ticken, war beim Umgang mit den Protesten in den vergangenen Monaten zu studieren. Die Demo-Organisatoren sollten daraus lernen und keine Schwachstellen mehr anbieten. So braucht es zum Beispiel keine aufklärenden Reden mehr, keine Kundgebungen. Dafür sind die Videoportale im Internet viel bessere Plattformen. So sachlich die Reden auch sind, damit überzeugt man im Format einer Straßenkundgebung nur wenige. Die Demonstranten sind bereits überzeugt, für die Gegner haben die Redeinhalte ausschließlich Wert als diskreditierende Munition. Außerdem bieten Ansprachen die Möglichkeit, den jeweiligen Redner als Führungsfigur des Protests herauszuheben und öffentlich fertigzumachen.

Die murmelnde Zombie-Truppe

Verzichtet auf die Reden. Verzichtet auf Gesichter. Nutzt stattdessen auch hier schwarze Wahrheiten. Baut bei den Kundgebungen eine Bühne auf, aber stellt niemanden darauf. Hängt stattdessen ein riesiges Transparent vor die Bühne mit dem Symbol der schwarzen Maske. Alle starren es nur an. Keine fünf Stunden Kundgebung, sondern 30 Minuten Schweigen. Seid kreativ.

Alternativ könnte auf dem Transparent auch das Gesicht des „Großen Bruders“ aus der Verfilmung von George Orwells „1984“ prangen. Vielleicht auch dessen Gesicht mit Maske. Parallel könnten laut vom Band die bekannten Parolen der Maskenbefürworter laufen, die von den Demonstranten im Chor und monoton nachgesprochen werden. „Die Maske ist unser Freund“, „Das Virus lauert überall“, „Die Maske schützt uns vor Corona“, „Schützen Sie sich und andere“. Und die Masken-Armee betet die Parolen nach. Immer wieder.

Diese Sprüche könnten vermischt werden mit extremeren Botschaften der Zukunft: „Maskenverweigerer ins Gefängnis“, „Alle Menschen sind gefährlich“, „Zutritt nur mit Impfung“, „Es gibt kein Recht auf Freiheit“, „Jeder muss die Spritze kriegen.“ So manchem Gegner, Passanten und Mediennutzer würde es wie Schuppen von den Augen fallen oder zumindest kalt den Rücken herunterlaufen. In dem Buch „Die Welle“ von Morton Rhue gibt es am Ende einen vergleichbar schockierenden, wachrüttelnden Effekt für die Schüler – auch das eine schwarze Wahrheit.

Das Buch wird in deutschen Schulen seit Jahrzehnten viel gelesen. Verstanden wurde es offenbar nur von wenigen. Die Aussagen des Geschichtslehrers Ben Ross am Ende der Verfilmung klingen wie eine Warnung für die heutige Zeit.

Die Reaktion der Gewalten

Wie würden nun die Gewalten mit solchen Demonstrationen der schwarzen Wahrheit umgehen? Ihnen wären fürs Erste die üblichen Gegenmittel aus der Hand geschlagen. Die Gerichte müssten plötzlich begründen, warum härtere Maßnahmen Quatsch sind. Oder man würde sie gar nicht mehr anrufen. Faktisch schieden sie als Akteure des Konflikts aus.

Die Polizei könnte niemanden mehr abführen oder gar Demos auflösen, weil sich alle penibel an die Regeln halten. Wenn die Polizei einen Demozug trotzdem blockiert, ist das irrelevant. Eine stehende Demo ist nichts anderes als eine Kundgebung. Die Botschaft wirkt durch Anwesenheit. Ja, die Polizei könnte die Demo-Auflagen verschärfen. Den Demonstranten schaden könnte sie damit aber nicht. Immer her damit. Die Kritiker unterstützen jede Verschärfung. Je härter die Regeln, desto glaubhafter werden die Demonstranten in der Öffentlichkeit. Und das ist das Letzte, was die Gewalten wollen. Die Polizei wäre zur Passivität verdammt.

Die Medien würden solche Demonstrationen vermutlich als „bizarres Theater“ beschreiben, könnten aber nicht nachvollziehbar erklären, wieso. Die Kritiker tun doch genau das, was die verantwortungsbewussten Journalisten immer forderten. Die Demonstranten reden keinen Unsinn mehr, halten Abstände ein und tragen Masken. Die Medien müssten bei solchen Berichten auf jeden Fall immer Bilder von den Veranstaltungen zeigen – ohne Bilder geht es heute nicht – und würden auf diese Weise, ohne es zu wollen, genau die dystopische Botschaft der Kritiker transportieren.

Ignorieren könnten sie die Veranstaltungen nicht, da Medien gerade von bildstarken, bizarren Ereignissen angezogen werden wie Motten vom Licht. Den Journalisten böten sich dabei jedoch keine Angriffsflächen mehr – keine einzelnen Köpfe, keine zweideutigen Zitate, keine komischen Fahnen, keine unverantwortlichen Leute. Interviews geben die Demonstranten aus Gründen des Gesundheitsschutzes nicht. Interviews sind – wie alle anderen Gespräche auch – in der neuen Normalität schließlich „unhygienisch“, das sollte doch endlich in die Köpfe der Journalisten.

Da es den allermeisten Medien heute aus personellen und zeitlichen Gründen unheimlich schwerfällt, von selbst inhaltlich in die Tiefe zu gehen, könnten sie einzig und allein über das berichten, was vor Ort passiert. Und das wären ausschließlich Symbole, Bilder und Botschaften, die von den Demonstranten definiert werden.

Moralische Kritik läuft ins Leere

Für die Politik gilt Ähnliches. Inhaltlich könnten Politiker die Proteste nicht angreifen, denn sie vertreten grundsätzlich ja dieselben Positionen. Sicherlich würde erneut versucht werden, moralisch zu argumentieren, nach dem Motto: Die Demonstranten verhöhnten mit ihren sarkastischen Aktionen die Opfer oder verharmlosen das Virus. Doch stände dies in auffälligem Widerspruch zu den sichtbaren Botschaften und Bildern der Kritiker. „Was machen die Demonstranten denn nun schon wieder falsch? Die Politiker wissen auch nicht, was sie wollen“, wäre sicher eine Reaktion aus der Bevölkerung dazu.

Andere Politiker würden argumentieren, dass es ja so schlimm nicht sei, wie es die „Verschwörungstheoretiker“ darstellen, und auch auf keinen Fall so kommen werde. Es rächt sich für die Politik in diesem Moment, dass sie die Kritiker monatelang als gefährliche Spinner, Nazis und Holocaustleugner verleumdet hat. Nun vertreten genau diese schrecklichen Menschen die Positionen der Regierung und der etablierten Parteien. Können diese überhaupt noch irgendeine Verschärfung der Regeln vertreten, wenn die „Covidioten“ genau das lautstark bejubeln?

Sicherlich werden die Gewalten mit der Zeit Gegenstrategien entwickeln. Darauf müssten die Querdenker vorbereitet sein und flexibel reagieren können. Aber erst einmal wäre es über eine bestimmte Zeitspanne ein Dilemma für die Gewalten. Sie werden gezwungen, über die Proteste zu sprechen, können dabei aber nur verlieren.

Koordination und langer Atem

Das wichtigste Ziel ist aber die große Masse der Bevölkerung, die sich noch indifferent verhält. Diejenigen, die die Proteste auf der Straße oder in den Medien erleben, werden zum Nachdenken angeregt. Dabei ist es unerheblich, ob sie die Straßenproteste als schwarze Wahrheiten erkennen oder nicht. Mögliche Aversionen entstehen nun nicht mehr gegen einzelne Querdenker, sondern gegen die Maske selbst und gegen andere politische Maßnahmen. Die Mehrheit wird beginnen, sich nicht mehr vor dem Virus zu fürchten, sondern vor der „neuen Normalität“.

Dazu müssen die Proteste natürlich nicht nur einmal auf diese Art stattfinden und nicht nur an einem Ort. Die Wiederholung steigert die Wirksamkeit der Botschaft. Wer wüsste das besser als unsere Gewalten? Der Igel musste den Hasen in 73 Rennen austricksen, bis er gewonnen hatte.

Ein gewisses Maß an bundesweiter Koordination wäre nötig, aber Manpower und Vernetzung der zahlreichen Initiativen ist inzwischen ausreichend vorhanden. Zudem braucht es erst mal gar nicht so viele Teilnehmer. Ein paar hundert Menschen können ganze Plätze füllen – die Abstandsregeln machen es möglich – und auf diese Weise für beeindruckende Bilder und Botschaften sorgen. In einer Fußgängerzone reichen schon ein paar Dutzend Leute, um Aufsehen zu erregen.

Schwarze Wahrheiten zerstören verlogene rechtfertigende Überbauten. Doch verlieren sie ihre Wirkmacht, sobald der Zustand, den sie kritisieren, keinen verlogenen Überbau mehr braucht, um aufrechterhalten zu werden. Wann diese Lage beim Corona-Notstand erreicht wird, ist unklar. Noch ist der ideologische Überbau vom Killervirus und von der „epidemischen Lage nationaler Tragweite“ notwendig. Doch die Zeit wird knapp. Der Hase ist schon losgelaufen.

Anmerkung:

(1) Robert Pfaller: Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur. Frankfurt am Main 2017. Seite 91 ff.: Wahrheiten, die niemand ernsthaft meinen kann

Diskussion

14 Kommentare
MANFRED ROSSKOPF, 23. September 2020, 18:15 UHR

Hallo multipolar, Hr. Korinth,
„schwarze Wahrheiten“ finde ich eine sehr gute Idee. Weißes T-Shirt mit schwarzer Maske hinten vorne aufgedruckt und eine einheitliche schwarze Maske für den Tag der Demo. Keine Musik, sondern nur Schweigen. Vielleicht bringt das tatsächlich was – könnte man gleich mal am Bodensee ausprobieren. Ansonsten befürchte ich, dass nach der Veranstaltung Anfang Oktober medial wieder genau das Gleiche abläuft wie nach den Demos/Kundgebungen am 1.8. und 29.8. in Berlin. Das war sehr frustrierend. Einen Versuch wäre das tatsächlich mal wert.

BERNHARD MÜNSTERMANN, 23. September 2020, 19:30 UHR

Ein Brainstorming ist angesichts der gesellschaftlichen Krise ungeheuerlicher Dimension immer am Platze. Dazu zählt auch, die altbekannte schwarze Wahrheit als Mittel von Öffentlichkeitsarbeit zu erwägen. Das mag für gut vorbereitete Aktionsgruppen oder auf der Kabarettbühne mal eine effektive Aktionsform sein. Allerdings haben wir es nicht wie im Film des Komikers Borat mit dem gut vorbereiteten Einsatz für den Dreh als Filmszene zu tun, die nur durch das Überraschungsmoment Wirkung hat. Die Zuschauer im Kino und vor den Bildschirmen sind darauf gefasst, die Besucher des Rodeo und bei den anderen Szenen in den USA waren es nicht. Für eine breite Bewegung und die Mobilisierung zu großen Demos ist das nach meinem Dafürhalten keine geeignete Aktionsform.

In Berlin lebte alles von der Vielfalt der Teilnehmer und ihren phantasievoll verschiedenen Aktionsformen. Darunter auch unzählige ironische und selbstironische Einfälle. Gerade daran war einfach abzulesen, dass Nazis, Antisemiten, Aluhutträger und dergleichen Diffamierungen in Funk und Fernsehen längst nicht mehr durch die Bank geglaubt werden, dass sie längst vielfach ins Lächerliche gezogen werden. Wenn man schwarze Wahrheit bundesweit vorangekündigt zur vereinheitlichten Aktionsform machte, fehlte ihr das Überraschungsmoment und damit das Originelle. Hinzu kommt, dass ohnehin unglaubliche echte Verschärfungen durch die Politik und Verwaltung gefordert und angedroht werden. Einweisung in die Psychatrie, GEW-Vorsitzende Marlis Tepe fordert allgemeine Maskenpflicht an Schulen, Drosten sieht schon die zweite Welle voraus. Und jetzt die schwarz-wahre Forderung: Testpositive Menschen keulen? Also punktuell sicher mal eine gute Idee, als das Konzept für Demokratiebewegung und Querdenken insgesamt aber bin ich sehr skeptisch. Paul Schreyer schrieb mal, dass es an der Zeit sei, die Notbremse zu ziehen. Dass ist richtig und Ideen und gerade vielfältige Ansätze bleiben dabei unentbehrlich.

*LEUGNER, 23. September 2020, 19:30 UHR

Danke! Ein sehr wichtiger und exzellenter Beitrag! Die Demonstranten fokussieren ihre gesamte Energie auf einen Stoßpunkt und treten organisiert auf. Alle in schwarzen Masken gehüllt und schweigend die Straße entlangschreitend. Das wäre ein Anblick in den Medien, der sich wie ein Lauffeuer verbreiten würde und entsprechende Wirkung sogar über Deutschland hinaus entfalten könnte.

Aber ich habe mir einige Interviews von Ballweg angehört und glaube nicht, dass ihn jemals der Blitz der Erkenntnis treffen wird. Auch seine Mitstreiter gelten ja nicht als die hellsten Leuchten. Vor allem an die dreiste Aktion zu einer verfassungsgebenden Versammlung einzuladen möchte ich hier noch einmal erinnern. Leider wurde diese unfassbar dämliche Aktion in den Alternativen nicht diskutiert oder gar kritisiert. Leider fehlt es den Querdenkern an starken Vordenkern(m/w) wie seinerzeit Graeber bei der Occupy-Bewegung, der ihnen mal die Welt erklärt. Schade.

BERNHARD MÜNSTERMANN, 24. September 2020, 14:10 UHR

Bob Dylan nuschelte als junger Kerl noch zum Gitarrenspiel in den 1960 igern: don't follow leaders, watch your parking meters. Heute ist der inzwischen mit vielen Orden und Ehrungen vom Establishment aus Politik und Kulturbetrieb behängte ergraute Senior in höchster Gefahr, als Gipsbüste auf dem Kaminsims und in repräsentativen Vitrinen der guten Stuben zu enden. Oder in den Sonntagsreden wie Martin Luther King oder Rosa Parks schamlos von der Politik vereinnahmt zu werden. Bob Dylan setzte seinen Akzent ohne schwarze Maske oder schwarze Wahrheiten. Der alte Knabe ging mit fast 80 Jahren auf der Uhr noch einmal ins Studio für eine frische Aufnahme: murder most foul kommt dabei ohne die Gitarre und ohne schwarze Wahrheit aus. Der pünktlich zur ausgerufenen "Pandemie" erschienene Titel erinnert an dem Mord an JFK und hat mit dem deep state in dieser Zeit zu tun. Murder most foul ist für sich als ein erinnerter historischer Coup schwarz. Ich sehe keinerlei Veranlassung dazu, Bob Dylan hier etwas vorzuwerfen und ihm ein T-Shirt mit schwarzen Masken zuzuschicken. Gefragt sind nicht Führer sondern viele kreative Ideen, von denen sich vielleicht eine mit der Zeit als besonders gute Idee herausstellt. Michael Ballweg ist nach meinem Eindruck in dieser Krise über sich hinaus gewachsen. Und ein Leader will er nicht sein. Die Leader in unserer Bundesregierung sind das Problem, ein ausgewechselter anderer Leader dürfte kaum die Lösung sein.

THIERRY BLANC, 23. September 2020, 21:20 UHR

Mich dünkt, Sie haben Hase und Igel verwechselt. Es ist das «System» (Regierung, etc. wer-auch-immer), das als Igel immer einen Schritt voraus ist. Wird nicht demonstriert, sind alle einverstanden, wird demonstriert, sind es (braue) Nicht-Versteher, daher braucht es zusätzliche Massnahmen, damit alle «die Tragweite» der Situation verstehen. Die Regierung/Medien sind immer einen Schritt voraus und der Hase läuft sich zu Tode ...

Was die schwarzen Wahrheiten angeht, ja, Satire wäre ein Mittel für Flashmobs mit Plakaten "Erschiesst die Maskenverweigerer" u.ä. und alle mit Maske, vorne hinten und oben am Kopf ... So etwas könnte durchaus die Medien verführen, ähnlich wie damals Günther Grass mit seiner Israel-Kritik Schlagzeilen provozierte, die jedesmal die Anschuldigung gegen Israel wiederholten, obwohl jene gerade kritisiert wurden. Als Flashmob-Aktion mit einigen hundert Menschen ist die schwarze Wahrheit aber ein sicher probates Mittel.

AYU, 24. September 2020, 01:05 UHR

Auf Demonstrationen beschränkt angewandt und bedacht, da wäre ich doch skeptisch ob eines förderlichen Effektes.

Dem Motto und der Intention des Artikels ansonsten absolut beipflichtend, allerdings mit einer Einschränkung: Der Protest und friedliche Ausdruck einer Unzufriedenheit muss im Alltag stattfinden, überall, wo es geboten sei, muss auf die Nichteinhaltung gewisser Umgangsregeln hingewiesen werden: Atemluft, Geräuschpegel, Stressfaktoren etc. - alles sorgt nachweislich dafür, dass ungefähr jeder Fünfte in der EU in die nicht weiter relevante Risikogruppe gehört, wonach Menschen früher ableben werden, als es ihnen selbst mit Alltagsmaske vergönnt gewesen sei. Siehe: https://www.tagesschau.de/ausland/eureport-umweltverschmutzung-101.html

Die Menschenwürde sei stets zu beachten und zu wahren, oder nicht? Was ist, wenn einer möglichen Erhöhung der Lebenslänge eine reale, drastische Verminderung der Lebensbedeutung an sich im Jetzt bis in dieses eventuell hohe Lebensalter gegenübersteht?

MARKUS, 24. September 2020, 07:40 UHR

Sie haben absolut Recht damit, dass die Coronamaßnahmen-Kritiker eine (bessere) Strategie brauchen, und ich sehe anders als manche Mitdiskutanten keinen überzeugenden Grund, warum die Idee der schwarzen Wahrheiten nicht funktionieren sollte (jedenfalls nicht mehr Gründe als dafür, dass die "normalen" Demos scheitern). Mit diesem Artikel haben Sie gezeigt, dass Multipolar nicht nur messerscharf analysieren, sondern auch kreativ sein kann --> Abonnement wird aufgestockt. Vielen Dank, Sie werden gebraucht!

SONJA, 24. September 2020, 15:20 UHR

Eine erschreckende Vorstellung, dass nur noch die radikale Affirmation und Übersteigerung des ohnehin schon wahnhaften politischen Corona-Agierens ein wirksamer Protest dagegen sein soll! Was schützt eine solche Aktion vor naivem oder gewolltem Missverstanden-Werden? Wenn eine radikalpazifistische Veranstaltung wie am 01.08 oder 29.08. in Berlin mit überdimensioniertem Gandhi-Plakat vor und leidenschaftlichen Friedens- und Liebe-Appellen auf der Bühne als gefährlich und rechtsradikal verkauft werden kann, wie könnte dann womöglich eine Schwarze-Wahrheits-Demo gezielt missdeutet werden? Haben wir genug Phantasie, um uns das auszumalen und mögliche unerwünschte Funktionalisierungen durch die Mainstream-Medien vorauszuahnen und zu entschärfen?

Vor allem aber: wollen wir wirklich noch mehr beklemmende Düsternis auf der Straße? Die starke positive Energie, die von den jetzigen Grundrechts-Kundgebungen ausstrahlt – auf Teilnehmer wie Zuschauer/ Passanten gleichermaßen, vielleicht sogar auf den einen oder anderen Gegendemonstranten - möchte ich nicht missen, ich benötige sie wie die Luft zum Atmen (ohne Maske!). Viele Redner haben auf den Kundgebungen berichtet, dass sie durch das Erlebnis dieser positiven Energie angesteckt wurden, auch aktiv zu werden. Meiner Ansicht nach besteht die Gefahr, dass Schwarze-Wahrheit-Demonstrationen dagegen ungewollt den bereits jetzt sich rasant entfaltenden Mechanismus „erlernter Hilflosigkeit“, das vermeintliche Gefühl von Ohnmacht gegenüber den aktuellen totalitären Entwicklungen, noch verstärken. Auch ich halte eine solche Protestform für gut geplante Kleingruppen-Aktionen für geeignet, aber die energiegeladenen Quer- und Andersdenkenden-Demonstrationen sollte sie nicht ablösen.

SOPHIA, 24. September 2020, 17:30 UHR

Für die schwarze Maske als schwarze Wahrheit ist es zu spät, im April vielleicht ... Jetzt hat sich das Maskentragen bereits verselbstständigt.

THOMAS B., 24. September 2020, 23:40 UHR

Herzlichen Dank Herr Korinth. Mit Verlaub; zusätzliche Inspiration:

BORIS VIAN -> ein Meister der Übertreibung sozialer Dysfunktionalitäten. Bücher: viele, u.a. "Et on tuera tous les affreux" (vernichten wir die Hässlichen), Musik: viel, siehe Liedtexte
GREG GRAFFIN -> Punk-Rock-Sänger mit einem PhD in Evolutionsbiologie (Bücher: "Anarchy Evolution" und "Population Wars"). Schauen Sie sich die Liedtexte an, die dieser Mann mit 15 (!) geschrieben hat.
GEORGE CARLIN -> "[..] I've got a brown ribbon, it means "eat sht motherfckers, eat sh*t"!"
LEE CAMP -> 21 trillions missing @ the Fünfeck...

...wie in vielen anderen Bereichen auch, wären die Lösungen ja eigentlich da...

Packen wir's an. Verhöhnen wir sie. Stellen wir sie bloss. Die Dinge beim Namen nennen (auf französisch: "appeler un chat un chat"): der selbstgebastelte Aufkleber "KRIEGSGEWINNLER" auf einem Wahlplakat mit dem Konterfei eines sog. "Volksvertreters" der nachweislich mit der Rüstungsindustrie verbandelt ist kann Wunder wirken (Infos auf den z.T. sehr guten Sites der länderspeziefischen lobbywatch-Gruppen). Ein riesiges, wirklich riesiges Transparent mit der Frage "GRUPPENGESCHALTET ?" kann in einer möchtegern-individualistischen Gesellschaft ebenfalls wirken. Einmal mehr: was macht uns aus? -> Kreativität.

Freuen wir uns auf einen spannenden Herbst!

P.S.: Ich erlaube mir, eine zusammenfassende Übersetzung Ihres Artikels ins französische zu machen und diese dann zu verteilen. Für spezielle Wünsche bezgl. Review/Quellenangabe kontaktieren Sie mich bitte via Elektropost, sonst gem. Standards, merci!

CARSTEN FORBERGER, 25. September 2020, 13:20 UHR

Lieber Stefan, so kreativ diese Idee auch ist, wird sie dennoch in der Praxis nicht funktionieren oder sich gar als kontraproduktiv erweisen. § 3 des Versammlungsgesetzes (1) regelt das Uniformverbot. Verstöße hiergegen stellen eine Straftat (2) dar. Das Uniformverbot geht ursprünglich auf die Bestrebung zurück, gewalttätige Aufmärsche uniformierter Verbände, wie sie z.B. in der Endphase der Weimarer Republik durch die SA und den RFB stattfanden, zu unterbinden und sie nicht auch noch unter den Schutz derjenigen Grundrechte zu stellen, auf deren Abschaffung die martialischen Aufmärsche gerichtet sind. Hiervon könnte bei deinem Vorschlag selbstverständlich keine Rede sein, da es im Gegenteil zum Schutze der Verfassung um das Bloßstellen des verfassungswidrigen Handelns des Staates ginge. Nach der aktuellen Rechtsprechung (3) wird allerdings die Rechtsfrage, was eine verbotene „Uniform“ ist, wertend danach ermittelt, ob die einheitliche Bekleidung geeignet ist, eine suggestiv-militante, einschüchternde Wirkung gegenüber Dritten zu erzielen. Ich stelle mir jetzt die Situation vor, dass Oma Erna gerade auf dem Weg zur Apotheke ist, um dort ihre Medikamente abzuholen. Hierbei trifft sie auf einen Demonstrationszug, der sich wie von dir beschrieben bekleidet und artikuliert. Oma Erna, die noch nie etwas von schwarzer Wahrheit gehört hat, wird vor der dunkel und einheitlich gekleideten, ernst blickenden Masse einfach nur Angst bekommen und sich entsetzt abwenden. Obwohl sie brav die Tagesschau konsumiert, spürt sie dennoch intuitiv, dass es der Regierung nicht wirklich um ihren Schutz geht. Hierfür muss sie nur auf ihren kargen Rentenbescheid blicken. Auf die Idee, dass diese finstere Masse auch für sie spricht, wird sie allerdings nicht im Geringsten kommen. Für sie sind diese Demonstranten keine ihr zugeneigten „Verbündeten“, sondern angsteinflößende Typen, mit denen sie nichts zu tun haben möchte. Genau diese Angst, die Oma Erna befällt, wird die Polizei zum Anlass nehmen, um zu behaupten, von der Demo ginge eine suggestiv-militante, einschüchternde Wirkung im Sinne der genannten BGH-Rechtsprechung aus und die Demo auflösen. Zudem werden die Organisatoren mit Strafverfahren überzogen werden. Nicht nur wegen Verstoßes gegen das Uniformverbot, sondern auch wegen möglicher Staatsschutzdelikte (4). Gerade dadurch, dass das Handeln der Regierung schonungslos bloßgestellt wird, wird diese Verhöhnung als Angriff auf den Staat selbst gewertet werden. Die Presse wird sich begierig auf das vermeintlich staatszersetzende Ansinnen der Demonstranten und gerade nicht auf die tatsächlich transportierte Botschaft stürzen.

Meinen Pessimismus bezüglich deines Vorschlages beziehe ich aus eigener Erfahrung. Die Ultras meines Fußballvereines erklärten als Auftakt zu bundesweiten Protestaktionen (5), denen sich über bestehende Rivalitäten hinweg sämtliche deutsche Ultraszenen anschlossen, im Mai 2017 dem DFB symbolisch den Krieg und zogen in einheitlichen Camouflageklamotten und mit viel finsterer Pyro durch Karlsruhe, um gegen die zunehmende Kommerzialisierung (ja, die bösen Ultras sind kapitalismuskritisch) und gegen die Beschneidung von Fanrechten (ja, die bösen Ultras sind diejenigen, die ihre Stimme am lautesten gegen immer schärfere Polizeigesetze erheben) zu demonstrieren. Das inhaltliche Anliegen des Fanmarsches spielte allerdings in der daraufhin geschaffenen medialen Realität überhaupt keine Rolle, sondern wurde als das Werk von geisteskranken Gewalttätern verteufelt. Die Staatsanwaltschaft Karlsruhe entfachte einen geradezu fanatischen Ermittlungseifer, um die Organisatoren des Fanmarsches irgendwie strafrechtlich zu belangen (6). Entscheidender Aufhänger hierfür war der behauptete Verstoß gegen das Uniformverbot. Wenn sich der Staat bereits bei ein paar Fußballfans derart auf den Schlips getreten fühlt, möchte ich nicht wissen, was abgeht, wenn Hunderttausende „uniformiert“ auf die Straße gehen.
Die bisherige Stärke der Proteste lag darin, dass die Mächtigen in Politik und Leitmedien keinen blassen Schimmer davon haben, welche Leute da auf die Straße gehen und wie diese ticken. Das liegt ganz einfach daran, dass die Demonstranten in ihrer überwiegenden Mehrheit ein Natur- und Menschenbild in sich tragen, welches den Mächtigen deshalb fremd und unverständlich ist, weil es das Gegenteil von Macht beinhaltet: Liebe, Frieden, Kooperation, Harmonie mit der Natur. Dunkle Masken, schwarz-weiße Bekleidung, finstere Minen: Dies würde nicht das verkörpern, was die Demonstranten im inneren fühlen. Sie müssten eine Rolle spielen, in der sie sich nicht wohl fühlen. Und wer nach außen etwas darstellt, was nicht seinem Innersten entspricht, ist nicht glaubwürdig. Der Protest würde also insgesamt seine größte Stärke, nämlich die für die Herrschenden unberechenbare Vielfalt und teils naive Authentizität, verlieren. Ich bin mir sicher und kann das aus unzähligen Gesprächen in meinem beruflichen und privaten Umfeld bestätigen: Entgegen der veröffentlichten Umfrageergebnisse steht die Mehrheit den Maßnahmen nicht nur kritisch, sondern ablehnend gegenüber. Das Volk spürt, was richtig und was falsch ist, auch wenn es sich im Außen noch konform und gehorsam verhalten mag. Dies gelingt aber nur bis zu einem kritischen Punkt. Und die Mächtigen, die sich in ihrer Blase in Sicherheit wiegen, sind gar nicht in der Lage zu fühlen, dass der kritische Punkt jederzeit und aus nichtigem Anlass erreicht sein könnte. Ihn ihrem mechanistischen Weltbild glauben sie, dass sie die Stimmung des Volkes messen und steuern könnten. Dabei fehlt ihnen jede Vorstellung davon, dass es Dinge gibt, die man nicht rational erfassen, sondern nur fühlen kann. Von daher bringt es nichts, und da stimme ich dir zu, die tausendste sachliche Rede über längst bekannte Fakten und Tatsachen zu halten. Wir müssen den Verängstigten, den Unsicheren, den Eingeschüchterten die Hand reichen und sie ermuntern, sich zu ihren Gefühlen zu bekennen. Dann, und erst dann, eröffnet sich der Zugang zu Fakten und kontextbezogenen Daten und damit zu einem Ausstieg aus der Spirale der Angst. Finstere Symbolik hingegen schreckt ab und bewirkt das Gegenteil.

(1) https://www.gesetze-im-internet.de/versammlg/__3.html
(2) https://www.gesetze-im-internet.de/versammlg/__28.html
(3) http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&nr=82754&pos=0&anz=1
(4) https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__90a.html
(5) https://www.youtube.com/watch?v=_c0Yl4rhZ-8
(6) https://soko-dynamo.org/

KIRSTEN, 9. Oktober 2020, 12:00 UHR

Lieber Carsten Forberger, herzlichen Dank für Ihren fundierten Kommentar, der mich überzeugt hat. Darüber hinaus hat mich Ihr Hinweis ("Wir müssen den Verängstigten, den Unsicheren, den Eingeschüchterten die Hand reichen und sie ermuntern, sich zu ihren Gefühlen zu bekennen. Dann, und erst dann, eröffnet sich der Zugang zu Fakten und kontextbezogenen Daten und damit zu einem Ausstieg aus der Spirale der Angst. Finstere Symbolik hingegen schreckt ab und bewirkt das Gegenteil.") sehr berührt. Es ist auf vielen Blogs in vielen Kommentaren zu erkennen, wie ungeheuer schwer dieser Brückenschlag, das Verstehen der Mitmenschen in ihrer Not, zu sein scheint. Deshalb hat es mich umso mehr gefreut, Sie davon schreiben zu sehen. Danke!

SONJA, 26. September 2020, 15:25 UHR

Gelungen: "schwarze Wahrheit" by Michael Ballweg, Köln, 26.09. (Min. 2-20): https://youtu.be/vS5U3pSAh1E

LEONARD HEFFELS, 27. September 2020, 16:20 UHR

Die "schwarze Wahrheit" als Demonstrationsform hat für mich persönlich durchaus ihren Reiz. Aber ich stelle mir vor, wie Kinder oder alte, vielleicht schon etwas verwirrte Menschen, eine solche Demonstration vorbeiziehen sehen. Sie würden die unterschwellige Botschaft wohl nicht verstehen. Der Anblick roboterhafter, schwarzmaskierter Demonstranten dürfte ihnen daher eher Angst einjagen. Wie erkläre ich einem Achtjährigen, dass diese Menschen dort das Gegenteil wollen von dem, was sie doch offensichtlich fordern?

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