Schwarze Wahrheiten
STEFAN KORINTH, 23. September 2020, 14 Kommentare, PDFDie Erzählung „Der Hase und der Igel“ dreht sich um ein ungleiches Duell. Der schnelle Hase tritt in einem Wettlauf auf dem Acker gegen den langsamen Igel an. Doch gegen alle realen Fähigkeiten und Machtverhältnisse gewinnt der Igel. Warum? Weil er nicht nach den Regeln des Hasen spielt, weil er kreativ ist, ihn überrascht und austrickst, ohne dass der Hase das überhaupt merkt. Mithilfe seiner Frau besetzt der Igel einfach immer die Position des Hasen, bevor dieser dort sein kann.
Sei es auch nur eine Fabel für Kinder, so stecken darin doch mehrere Lehren für die Proteste gegen den derzeitigen Ausnahmezustand in Deutschland. Der Hase steht für einen überlegenen, mächtigen Akteur. Regierung, Polizei, Justiz und Medien sind die realen Gewalten in diesem Land. Sie besitzen nahezu alle Macht: Gesetzgebung, Gewaltmonopol, öffentliche Definitionsmacht – alles liegt in ihren Händen.
In den vergangenen Monaten ist deutlich geworden, dass diese Mächte entgegen aller demokratietheoretischen Annahmen nahezu vereint agieren. In der Fabel wären sie alle zusammen der kräftige, schnelle Hase. Und auch wenn der Igel den Hasen gar nicht zum Gegner haben, sondern mit ihm kooperieren möchte, ist das dem Hasen völlig egal. Die herrschenden Gewalten wollen nicht sachlich debattieren, sie wollen sich nicht überzeugen lassen, sie wollen ihre Gegner einfach nur besiegen und sind dazu – anders als der Hase in der Fabel – sogar bereit, die Regeln bis zum Zerreißen zu dehnen.
Seit Monaten schon versuchen die Kritiker sich gegen diesen Machtblock zu behaupten. Sie agieren dabei allerdings so, als versuchte der krummbeinige Igel den Hasen fair und sportlich im Wettlauf zu besiegen. Doch so sehr sich der Igel auch anstrengt, er hat keine Chance. Selbst wenn er dem Hasen nahekommen könnte, würde dieser die Regeln so ändern, dass er trotzdem gewinnt – einfach weil er die Macht dazu hat.
Nun lassen sich Spielfeld und Regeln (wie behördliche Vorgaben oder die Gebote der politisch-medialen Aufmerksamkeitsökonomie) durch die Demonstranten kaum bis gar nicht ändern. Doch das ist auch nicht nötig. Die Querdenker sollen sich auch weiterhin an alle geschriebenen Regeln halten. Aber eben nicht mehr an die ungeschriebenen Regeln. Es gibt eine allgemeine Auffassung – einen „Common Sense“ – darüber, wie Straßenprotest auszusehen und abzulaufen hat. An diese ungeschriebenen Regeln sind die Querdenker aber nicht gebunden.
Es muss sich etwas ändern, sonst werden die Querdenker genauso zersetzt wie frühere Protestbewegungen. Die gute Nachricht: Mit Kreativität, taktischer Analyse und Schlauheit kann sich der Igel auch im bestehenden System gegen den Hasen durchsetzen: Er muss eigentlich wieder nur dessen Position besetzen, bevor der Hase dort sein kann.
Wenn Stärken als Schwächen benutzt werden
Bevor es zu einem Lösungsvorschlag geht, müssen die Schwachstellen der bisherigen Demonstrationen analysiert werden. Keine der folgenden Ausführungen ist eine Kritik an den Machern. Im Gegenteil: Mutig und engagiert haben sie Protest organisiert, als viele sich wegduckten. Das verdient große Bewunderung. Die Mittel und Prinzipien der Querdenker und anderer Veranstalter dieser friedlichen Demos sind lobenswert und richtig. Es war nicht unbedingt damit zu rechnen, dass die Gewalten in diesem Land derart unversöhnlich und eskalationsbereit mit den Protesten umgehen, wie sie es taten. Doch inzwischen ist diese Einsicht leider unverkennbar und sollte zu Strategieänderungen der Querdenker führen.
Nun zu den Schwachpunkten der bisherigen Demos: Das Perfide daran ist, dass ausgerechnet die Eigenschaften, die aus Sicht der Veranstalter die Stärken der Protestbewegung sind, vom Gegner größtenteils als Schwächen beurteilt und ausgenutzt werden. Einzig die Friedfertigkeit der Proteste fällt nicht unter dieses Urteil. Die strikte Gewaltlosigkeit muss beibehalten werden, sie kann nicht gegen die Demonstranten verwendet werden.
Aber der Rest: Die Veranstaltungen sind nämlich nicht nur friedlich, sondern auch bunt, fröhlich, unabhängig, informativ und offen. Für die allermeisten Menschen – also normale, nicht-radikalisierte Menschen – sind das tolle Eigenschaften. Allerdings sollte sich jeder bewusst machen, dass diese Aspekte von einem taktisch kühl analysierenden Gegenspieler leicht ins Negative gedreht werden können. Dem Hasen ist die Fairness des Igels völlig egal. Der Hase will gewinnen.
Aus bunt mach braun
Und das geschieht so: Sind Demonstrationen bunt, greift sich der Gegner ganz einfach die hässlichste Farbe heraus und zerrt sie dauerhaft ins Rampenlicht. Im Falle der Proteste gegen die politischen Corona-Maßnahmen war das die Farbe braun. In der herrschenden Politik und den etablierten Medien wird immer wieder auf diese Farbe gezeigt. Braun, braun, braun. Gern auch hellbraun und dunkelbraun. Ja, es waren – „angeblich“, „mutmaßlich“, „vereinzelt“ – auch andere Farben da. Aber eben auch braun, braun oder braun. Erwähnte ich schon die Farbe braun? Wenn das nicht reicht, interpretiert man eben auch die Farben rot und schwarz als Brauntöne und kleckst selbst noch ein wenig braun aus dem eigenen tiefenstaatlichen Farbkasten dazu.
Wenn Demos unabhängig sind, also frei von den Ressourcen und Einflüssen etablierter Akteure, dann sind die Demo-Organisatoren nicht nur frei in ihren Entscheidungen, sondern eben auch von ihrer Position her nicht einzuordnen. Es sind unbeschriebene Blätter. Keine Institutionen unterstützen sie? Keine Parteien, keine NGOs, keine Gewerkschaften? Sie wollen weder rechts noch links sein? Na gut, dann werden sie eben von Politik und Medien eingeordnet. Schnell sind die „unbeschriebenen Blätter“ also mit dem größten Unsinn vollgekritzelt.
Ist eine Demo fröhlich und musikalisch, sorgt das für gute Stimmung unter den Protestierenden. Aber es erlaubt dem Gegner auch zu sagen: „Guck mal, die wollen ja nur feiern. Dann kann es ja so schlimm nicht sein mit der angeblichen Unterdrückung in Deutschland.“
Legen Veranstalter vor Gericht Klage gegen Demo-Beschränkungen ein, dann haben sie offensichtlich Vertrauen in den Rechtsstaat. Erhalten sie dann auch noch recht, ist das doch nur ein Zeichen dafür, dass der Rechtsstaat funktioniert und die Kritik Unsinn ist. Wird die Klage jedoch abgewiesen, zeigt das, wie sehr die Demonstranten im Unrecht sind. Die Auslegung ist immer negativ. Ja, dieser Umgang mit den Protesten ist unappetitlich, aber entscheidend ist, die zersetzende Logik dahinter zu analysieren, um sich zu wappnen.
Sind Kundgebungen informativ und offen, dann bieten sie dem Gegner eben auch die Möglichkeit, sich die schwächsten Argumente und Reden herauszupicken. Und genau das tut er: Emotionale Ausbrüche, unklare Formulierungen, sarkastische Sprüche, schillernde Paradiesvögel, aus dem Zusammenhang gerissene Zitate. Genau diese Dinge werden in den Medien gezeigt – und nicht die vielen überzeugenden Argumente, die Distanzierungen von rechts oder die tollen Ansprachen.
Robert Kennedy hat nie gesprochen
Wenn die Leitmedien die Berliner Rede von Robert F. Kennedy am 29. August nicht prominent wiedergeben, dann ist es so, als habe er dort nie gesprochen. Genau das ist die Realität für die überwältigende Mehrheit der Menschen in Deutschland. Walter Lippmann, einer der wichtigsten und einflussreichsten Vordenker von Propagandatechniken, nannte das „Pseudoumwelt“. Dieses medial und PR-mäßig erzeugte Weltbild in den Köpfen der Mehrheit bestimmt das Handeln der Menschen – nicht die Wirklichkeit. Dieses Bild im Kopf wird geformt.
„Der Krieg ist zu Ende. Ich habe es im Fernsehen gesehen“, sagt Robert de Niro im Film „Wag the dog“. Den „Krieg“ hat er zuvor selbst künstlich in einem Hollywood-Studio erschaffen und über das Fernsehen in die Köpfe der Amerikaner gebracht. Der Konkurrent im Wahlkampf hat den Krieg zwischenzeitlich per TV-Ansprache beendet. „Wenn ich es im Fernsehen sehe, dann stimmt es.“ Zugespitzt gesagt: Nur 0,1 Prozent der Deutschen haben Kennedy in Berlin gehört. 99,9 Prozent haben in der Tagesschau stattdessen Reichsbürger gesehen.
Es liegt nicht in der Macht der Querdenker, diese Logik zu durchbrechen. Sie können sie aber in ihrem Sinne nutzen. Dazu muss man sich klarmachen, wie Medien und „soziale Medien“ funktionieren. Es braucht keine fröhlichen Veranstaltungen und keine tiefschürfenden Argumente, um dort prominent aufzutauchen. Es braucht beeindruckende Bilder und plakative Botschaften. Über Bilder, Symbole und Botschaften müssen die Querdenker die Kontrolle gewinnen. Besser spät als nie. Und zwar indem sie diese selbst anbieten. Aber nicht viele verschiedene, sondern genau ein Bild, ein Symbol, eine Botschaft.
Sind die Proteste in Weißrussland „bunt“? Gibt es dort viele verschiedene Fahnen? Nein, dort herrscht nur ein einziges Symbol: weiß-rot-weiß. Und nur eine Botschaft: Lukaschenko muss weg. Inhaltlich ist da sonst gar nichts klar. Aber das ist keine Schwäche. Im Gegenteil: Unter den herrschenden medialen Bedingungen ist das der Schlüssel zum Sieg.
Nur ein Bild, ein Symbol, eine Botschaft. Mutwillige Fehlinterpretationen sind nicht mehr möglich. Der Gegenspieler hat dann nur noch die Wahl, das Angebotene zu thematisieren oder es zu ignorieren. Damit die Botschaft im Fall der Querdenker nicht ignoriert wird, muss sie für den Gegner unwiderstehlich sein. Und wie? Es muss seine eigene Botschaft sein! Und zwar in maßlos überspitzter Art. So dass die Gegner gezwungen sind, sich selbst davon zu distanzieren, und diese Position nicht mehr besetzen können. Der Hase kommt ins Ziel, doch der Igel ist schon da.
Hier kommen die schwarzen Wahrheiten ins Spiel.
Objektzerstörung durch vollständige Bejahung
Die schwarze Wahrheit ist ein philosophisches Konzept, das als Mittel äußerst wirksam in Rhetorik, Aktionskunst, aber auch in politischen Auseinandersetzungen angewandt werden kann. Allerdings passiert das nur sehr selten, weil die Ausgangssituation schon in gewisser Weise extrem sein muss, um dieses Mittel zu nutzen. Im derzeitigen Stadium des politischen und gesellschaftlichen Ausnahmezustands ist diese Voraussetzung jedoch mehr als erfüllt.
Bei schwarzen Wahrheiten handelt es sich um Aussagen, die unter den gegebenen Voraussetzungen zwar richtig und vernünftig sind, die aber zu extrem, ja geradezu skandalös sind, als dass man sie tatsächlich so meinen könnte. Eine sehr unübliche Art des Sprechens, denn normalerweise sind Wahrheiten gut („weiß“) und Lügen schlecht („schwarz“). Schwarze Wahrheiten sind Übertreibungen beziehungsweise Überaffirmationen, die ihr Objekt so vollständig bejahen, dass es dadurch zerstört wird, erläutert der österreichische Philosoph Robert Pfaller. (1)
Ein Beispiel: Der britische Satiriker Sacha Baron Cohen hatte sich im Jahr 2006 für seinen Film „Borat“ in den USA als hinterwäldlerischer Kasache ausgegeben. In einer Szene steht er in einer Rodeo-Arena und darf per Mikrofon in gespielt fehlerhaftem Englisch ein paar Worte an das traditionell republikanische Rodeo-Publikum richten.
„Ich bin Borat aus Kasachstan. Lassen Sie mich zuerst sagen: Wir unterstützen Ihren Krieg des Terrors. (kräftiger Applaus des Publikums) Wir sollten jetzt unsere Unterstützung für unsere Jungs im Irak zeigen. (lauter Jubel) Mögen die USA jeden einzelnen Terroristen töten! (Jubel und Applaus) Möge George Bush das Blut jedes einzelnen Mannes, jeder Frau und jedes Kindes im Irak trinken. (weniger Applaus) Mögen Sie dieses Land so zerstören, dass dort in den nächsten tausend Jahren nicht mal eine Eidechse in der Wüste überlebt (verhaltener Applaus, skeptische Blicke).“
Cohen sprach hier die unangenehme Wahrheit über zahllose durch das US-Militär getötete Zivilisten im Irak und über die Zerstörung des Landes aus. Nur tat er das nicht in anklagendem Ton, sondern im Gegenteil in ekstatischer Bejahung. Keiner der Kriegsbefürworter im Publikum konnte diese Aussagen ernsthaft gut finden. Kriegsgegner und Unentschlossene sowieso nicht. Jeder Mensch – auch wenn er die US-Kriege im Nahen Osten unterstützt – würde sich von solchen Wahrheiten distanzieren und käme in Erklärungsnot. Mit seinen Forderungen überholte Cohen auch die härtesten Militaristen – und zwar überholte er sie rechts. Völlig unerwartet in normalen Diskursen.
Wie ein Spiegel der Hässlichkeit
Schwarze Wahrheiten sind für alle Streitparteien unverdaulich. „Das, was die schwarze Wahrheit sagt, wird gerade dadurch, dass sie es sagt, unmöglich gemacht“, schreibt Robert Pfaller. Erkennen Sie das Potenzial für die aktuellen Demonstrationen? Schwarze Wahrheiten zeigen nicht, wie der Absender ist, sondern sie zeigen den Empfängern der Botschaft, wie sie sind – aber doch eigentlich gar nicht sein wollen. Schwarze Wahrheiten „sind grob, um die Grobheit der anderen kenntlich und damit unmöglich zu machen.“
Was bedeutet das für die aktuellen Demos gegen den Corona-Ausnahmezustand? Um in der großen Breite wirksam zu werden, dürfen die Proteste nicht die Maßnahmen kritisieren – das ist es, was alle erwarten –, sondern sie müssen die Maßnahmen ekstatisch bejahen. Das widerspricht dem herkömmlichen Diskurs vollkommen. Die Demonstranten müssen Regierung, Polizei, Medien und Gegendemonstranten auf deren eigenem Gebiet noch weit übertreffen. Ihre Forderungen müssen viel härter sein, absurd härter. Und das muss auch sichtbar werden.
Die grundsätzliche Logik lautet: Die Polizei fordert Masken? Okay, können sie haben! Alle Demonstranten tragen schwarze Masken. Nicht nur im Laufen, nein auch im Sitzen. Die ganze Zeit. Wenn wir vor Gericht dagegen klagen, dann weil die Auflagen der Polizei viel zu lasch sind. Wir klagen für härtere Auflagen. Wir sind noch viel extremer als die Gegenseite und spiegeln damit ihren Extremismus. Die Regierung fordert Masken beim Einkaufen? Wir fordern Masken beim Essen! Sie fordern Masken an der frischen Luft? Lächerlich! Wir fordern Masken auch im Bett!
Nehmt den Herrschenden das Herrschaftssymbol
Die Maske ist sachlich nicht der einzige Streitpunkt, sie ist noch nicht mal der wichtigste. Aber sie ist das gut sichtbare politische Symbol dieses Konflikts. Bislang ist sie jedoch das Symbol der Herrschenden. Die Protestbewegung muss es den Herrschenden wegnehmen. Die Maske muss das neue Symbol der Demos werden. Und zwar das einzige.
Hier verbinden sich schwarze Wahrheiten und effektive Medienstrategien. Die Demo-Organisatoren können kreativ werden: Bedruckt weiße T-Shirts einheitlich mit dem Symbol der schwarzen Maske. Groß und gut sichtbar. Eine vorn, eine hinten. Mehr nicht. Verteilt die T-Shirts an alle Demo-Teilnehmer, gebt ihnen dazu schwarze Mund-Nase-Bedeckungen zum Aufsetzen. Diese absurde Uniformität macht visuell Eindruck: Sie erhöht nicht nur das mediale Interesse, sie ist zugleich die Botschaft.
Haltet die Abstände überdeutlich ein und marschiert diszipliniert und monoton wie eine Armee trauriger Corona-Zombies durch die Stadt. Die unausgesprochene Botschaft nach außen ist eindeutig: Seht her, so sieht die Zukunft mit euren Corona-Regeln aus.
Schwarze Wahrheiten sind als philosophisches Mittel verwandt mit dem schwarzen Humor. Nur sind sie nicht lustig. Proteste gegen die Corona-Maßnahmen sind eben nicht lustig. Es geht hier gegen eine Horrorversion der nahen Zukunft, gegen eine echte Dystopie. Das ist es, was in die Köpfe der Bevölkerungsmehrheit muss. Verändert ihre Bilder im Kopf. Verändert das, was Lippmann „Pseudoumwelt“ nannte.
Diese Proteste dürfen nicht fröhlich sein
Jeder kann sich online die verstörenden Bilder aus dem australischen Bundesstaat Victoria ansehen. Die Herrschenden wollen dort offenbar ausprobieren, wie weit man mit totalitären Maßnahmen in der westlichen Welt gehen kann. Proteste gegen solche Maßnahmen dürfen nicht fröhlich, laut und bunt sein. Sie müssen mit größtmöglicher Signalwirkung schockieren. Sie müssen traurig, schweigsam und eintönig sein. Genauso, wie die „neue Normalität“ wird, wenn sich jetzt zu wenige dagegen wehren.
Ja, herkömmliche Demonstrationen und Kundgebungen sind ein Mittel, bei dem sich Protestierende ihrer selbst vergewissern können. Sie treffen Gleichgesinnte, vernetzen sich und können mit Rufen und Applaus ein wenig Dampf ablassen. Für viele Teilnehmer sind Demonstrationen schöne, mutmachende Ereignisse. Doch Organisatoren und Teilnehmer müssen sich im Klaren sein, dass sie gesellschaftlich nur dann erfolgreich sind, wenn sie nicht für ihre „In-Group“ demonstrieren, sondern dafür, mit den eigenen politischen Botschaften möglichst viele Leute der „Out-Group“ zu erreichen. Das geht nur über die Außenwirkung und die wird vor allem definiert über die etablierten Medien.
Wie diese Medien ticken, war beim Umgang mit den Protesten in den vergangenen Monaten zu studieren. Die Demo-Organisatoren sollten daraus lernen und keine Schwachstellen mehr anbieten. So braucht es zum Beispiel keine aufklärenden Reden mehr, keine Kundgebungen. Dafür sind die Videoportale im Internet viel bessere Plattformen. So sachlich die Reden auch sind, damit überzeugt man im Format einer Straßenkundgebung nur wenige. Die Demonstranten sind bereits überzeugt, für die Gegner haben die Redeinhalte ausschließlich Wert als diskreditierende Munition. Außerdem bieten Ansprachen die Möglichkeit, den jeweiligen Redner als Führungsfigur des Protests herauszuheben und öffentlich fertigzumachen.
Die murmelnde Zombie-Truppe
Verzichtet auf die Reden. Verzichtet auf Gesichter. Nutzt stattdessen auch hier schwarze Wahrheiten. Baut bei den Kundgebungen eine Bühne auf, aber stellt niemanden darauf. Hängt stattdessen ein riesiges Transparent vor die Bühne mit dem Symbol der schwarzen Maske. Alle starren es nur an. Keine fünf Stunden Kundgebung, sondern 30 Minuten Schweigen. Seid kreativ.
Alternativ könnte auf dem Transparent auch das Gesicht des „Großen Bruders“ aus der Verfilmung von George Orwells „1984“ prangen. Vielleicht auch dessen Gesicht mit Maske. Parallel könnten laut vom Band die bekannten Parolen der Maskenbefürworter laufen, die von den Demonstranten im Chor und monoton nachgesprochen werden. „Die Maske ist unser Freund“, „Das Virus lauert überall“, „Die Maske schützt uns vor Corona“, „Schützen Sie sich und andere“. Und die Masken-Armee betet die Parolen nach. Immer wieder.
Diese Sprüche könnten vermischt werden mit extremeren Botschaften der Zukunft: „Maskenverweigerer ins Gefängnis“, „Alle Menschen sind gefährlich“, „Zutritt nur mit Impfung“, „Es gibt kein Recht auf Freiheit“, „Jeder muss die Spritze kriegen.“ So manchem Gegner, Passanten und Mediennutzer würde es wie Schuppen von den Augen fallen oder zumindest kalt den Rücken herunterlaufen. In dem Buch „Die Welle“ von Morton Rhue gibt es am Ende einen vergleichbar schockierenden, wachrüttelnden Effekt für die Schüler – auch das eine schwarze Wahrheit.
Das Buch wird in deutschen Schulen seit Jahrzehnten viel gelesen. Verstanden wurde es offenbar nur von wenigen. Die Aussagen des Geschichtslehrers Ben Ross am Ende der Verfilmung klingen wie eine Warnung für die heutige Zeit.
Die Reaktion der Gewalten
Wie würden nun die Gewalten mit solchen Demonstrationen der schwarzen Wahrheit umgehen? Ihnen wären fürs Erste die üblichen Gegenmittel aus der Hand geschlagen. Die Gerichte müssten plötzlich begründen, warum härtere Maßnahmen Quatsch sind. Oder man würde sie gar nicht mehr anrufen. Faktisch schieden sie als Akteure des Konflikts aus.
Die Polizei könnte niemanden mehr abführen oder gar Demos auflösen, weil sich alle penibel an die Regeln halten. Wenn die Polizei einen Demozug trotzdem blockiert, ist das irrelevant. Eine stehende Demo ist nichts anderes als eine Kundgebung. Die Botschaft wirkt durch Anwesenheit. Ja, die Polizei könnte die Demo-Auflagen verschärfen. Den Demonstranten schaden könnte sie damit aber nicht. Immer her damit. Die Kritiker unterstützen jede Verschärfung. Je härter die Regeln, desto glaubhafter werden die Demonstranten in der Öffentlichkeit. Und das ist das Letzte, was die Gewalten wollen. Die Polizei wäre zur Passivität verdammt.
Die Medien würden solche Demonstrationen vermutlich als „bizarres Theater“ beschreiben, könnten aber nicht nachvollziehbar erklären, wieso. Die Kritiker tun doch genau das, was die verantwortungsbewussten Journalisten immer forderten. Die Demonstranten reden keinen Unsinn mehr, halten Abstände ein und tragen Masken. Die Medien müssten bei solchen Berichten auf jeden Fall immer Bilder von den Veranstaltungen zeigen – ohne Bilder geht es heute nicht – und würden auf diese Weise, ohne es zu wollen, genau die dystopische Botschaft der Kritiker transportieren.
Ignorieren könnten sie die Veranstaltungen nicht, da Medien gerade von bildstarken, bizarren Ereignissen angezogen werden wie Motten vom Licht. Den Journalisten böten sich dabei jedoch keine Angriffsflächen mehr – keine einzelnen Köpfe, keine zweideutigen Zitate, keine komischen Fahnen, keine unverantwortlichen Leute. Interviews geben die Demonstranten aus Gründen des Gesundheitsschutzes nicht. Interviews sind – wie alle anderen Gespräche auch – in der neuen Normalität schließlich „unhygienisch“, das sollte doch endlich in die Köpfe der Journalisten.
Da es den allermeisten Medien heute aus personellen und zeitlichen Gründen unheimlich schwerfällt, von selbst inhaltlich in die Tiefe zu gehen, könnten sie einzig und allein über das berichten, was vor Ort passiert. Und das wären ausschließlich Symbole, Bilder und Botschaften, die von den Demonstranten definiert werden.
Moralische Kritik läuft ins Leere
Für die Politik gilt Ähnliches. Inhaltlich könnten Politiker die Proteste nicht angreifen, denn sie vertreten grundsätzlich ja dieselben Positionen. Sicherlich würde erneut versucht werden, moralisch zu argumentieren, nach dem Motto: Die Demonstranten verhöhnten mit ihren sarkastischen Aktionen die Opfer oder verharmlosen das Virus. Doch stände dies in auffälligem Widerspruch zu den sichtbaren Botschaften und Bildern der Kritiker. „Was machen die Demonstranten denn nun schon wieder falsch? Die Politiker wissen auch nicht, was sie wollen“, wäre sicher eine Reaktion aus der Bevölkerung dazu.
Andere Politiker würden argumentieren, dass es ja so schlimm nicht sei, wie es die „Verschwörungstheoretiker“ darstellen, und auch auf keinen Fall so kommen werde. Es rächt sich für die Politik in diesem Moment, dass sie die Kritiker monatelang als gefährliche Spinner, Nazis und Holocaustleugner verleumdet hat. Nun vertreten genau diese schrecklichen Menschen die Positionen der Regierung und der etablierten Parteien. Können diese überhaupt noch irgendeine Verschärfung der Regeln vertreten, wenn die „Covidioten“ genau das lautstark bejubeln?
Sicherlich werden die Gewalten mit der Zeit Gegenstrategien entwickeln. Darauf müssten die Querdenker vorbereitet sein und flexibel reagieren können. Aber erst einmal wäre es über eine bestimmte Zeitspanne ein Dilemma für die Gewalten. Sie werden gezwungen, über die Proteste zu sprechen, können dabei aber nur verlieren.
Koordination und langer Atem
Das wichtigste Ziel ist aber die große Masse der Bevölkerung, die sich noch indifferent verhält. Diejenigen, die die Proteste auf der Straße oder in den Medien erleben, werden zum Nachdenken angeregt. Dabei ist es unerheblich, ob sie die Straßenproteste als schwarze Wahrheiten erkennen oder nicht. Mögliche Aversionen entstehen nun nicht mehr gegen einzelne Querdenker, sondern gegen die Maske selbst und gegen andere politische Maßnahmen. Die Mehrheit wird beginnen, sich nicht mehr vor dem Virus zu fürchten, sondern vor der „neuen Normalität“.
Dazu müssen die Proteste natürlich nicht nur einmal auf diese Art stattfinden und nicht nur an einem Ort. Die Wiederholung steigert die Wirksamkeit der Botschaft. Wer wüsste das besser als unsere Gewalten? Der Igel musste den Hasen in 73 Rennen austricksen, bis er gewonnen hatte.
Ein gewisses Maß an bundesweiter Koordination wäre nötig, aber Manpower und Vernetzung der zahlreichen Initiativen ist inzwischen ausreichend vorhanden. Zudem braucht es erst mal gar nicht so viele Teilnehmer. Ein paar hundert Menschen können ganze Plätze füllen – die Abstandsregeln machen es möglich – und auf diese Weise für beeindruckende Bilder und Botschaften sorgen. In einer Fußgängerzone reichen schon ein paar Dutzend Leute, um Aufsehen zu erregen.
Schwarze Wahrheiten zerstören verlogene rechtfertigende Überbauten. Doch verlieren sie ihre Wirkmacht, sobald der Zustand, den sie kritisieren, keinen verlogenen Überbau mehr braucht, um aufrechterhalten zu werden. Wann diese Lage beim Corona-Notstand erreicht wird, ist unklar. Noch ist der ideologische Überbau vom Killervirus und von der „epidemischen Lage nationaler Tragweite“ notwendig. Doch die Zeit wird knapp. Der Hase ist schon losgelaufen.
Anmerkung:
(1) Robert Pfaller: Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur. Frankfurt am Main 2017. Seite 91 ff.: Wahrheiten, die niemand ernsthaft meinen kann
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