ARD Tagesthemen vom 24. Februar 2020

Simulierter Journalismus

Von einer umfassenden Berichterstattung waren deutsche Medien in der ersten Woche der Anhörungen zur Auslieferung von Julian Assange weit entfernt. Statt authentischen Schilderungen der Auseinandersetzung im Gerichtssaal präsentierte man eine Fassade von Journalismus – zusammenkopiertes Halbwissen, vorgetragen in selbstbewusstem Tonfall.

PAUL SCHREYER, 5. März 2020, 2 Kommentare, PDF

Das eigentlich Wesentliche, nicht weniger als ein Skandal, der sich gleich am ersten Tag der Anhörungen vor Gericht ereignete, und über den eine öffentliche Diskussion dringend nötig wäre, wurde von den Vertretern des Mainstreams nicht einmal zur Kenntnis genommen. Berichtet hat davon nicht die BBC, die New York Times oder der Spiegel, sondern ein Privatmann, der ehemalige britische Diplomat Craig Murray, der als unabhängiger Prozessbeobachter das Verfahren um die Auslieferung von Julian Assange begleitet, und dessen Bericht vor wenigen Tagen in deutscher Übersetzung bei Multipolar veröffentlicht wurde.

Murray schildert, wie der Staatsanwalt James Lewis sich zu Beginn der Anhörungen in einen gravierenden Widerspruch verstrickt hatte, über den in den Medien niemand sprach und schrieb. So wandte sich Lewis in seiner Eröffnungserklärung zunächst beschwichtigend an die Presse: Es stimme nicht, dass die Medien durch die Anklage gegen Assange bedroht seien. Denn dieser würde nicht für die Veröffentlichung von Dokumenten angeklagt, sondern für das Bekanntmachen der Namen von Informanten sowie für die Anleitung von Manning beim Hacken. Lediglich Assange habe diese Dinge getan, nicht aber die Medien.

Murray berichtet, wie Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft Kopien dieses Abschnitts von Lewis' Erklärung an die Presse verteilten und auch elektronisch zur Verfügung stellten. Allerdings brachte die Vorsitzende Richterin Vanessa Baraitser den Staatsanwalt unmittelbar darauf mit einer kritischen Nachfrage dermaßen ins Schleudern, dass dieser plötzlich das Gegenteil behauptete: Journalisten, die ein Amtsgeheimnis veröffentlichten, würden sich sehr wohl strafbar machen. Murray kommentierte (und es lohnt, dies noch einmal zu wiederholen, da es viel über das Wesen des heutigen Journalismus aussagt):

„Der Staatsanwalt widersprach somit voll und ganz seinem Eröffnungsstatement an die Medien (…). Er tat dies direkt nach der Unterbrechung, unmittelbar nachdem sein Team Kopien der Argumente ausgehändigt hatte, die er nun bestritt. Ich kann mir kaum vorstellen, dass sich schon oft ein hochrangiger Anwalt vor Gericht so absolut und unmittelbar als vollständiger Lügner erwiesen hat. Dies war zweifellos der atemberaubendste Moment der heutigen Gerichtsverhandlung.

Bemerkenswerterweise finde ich jedoch nirgendwo in den Mainstreammedien eine Erwähnung, dass dies überhaupt geschehen ist. Was stattdessen überall zu lesen ist, sind Medienberichte, die den ersten Teil von Lewis' Erklärung kopieren, wonach die Verfolgung von Assange keine Bedrohung für die Pressefreiheit darstelle. Niemand aber scheint berichtet zu haben, dass er fünf Minuten später seine eigene Argumentation völlig aufgegeben hat. Waren die Journalisten zu dumm, um den Wortwechsel zu verstehen?

Die Erklärung ist sehr einfach. Da Lewis' Klarstellung auf eine Frage von Baraitser folgte, existiert keine gedruckte oder elektronische Aufzeichnung von Lewis' Antwort. Seine ursprüngliche Aussage wurde den Medien zum Kopieren zur Verfügung gestellt. Den Widerspruch dazu zu erkennen, würde erfordern, dass ein Journalist sich anhört, was vor Gericht gesagt wird, es versteht und aufschreibt. In den Mainstreammedien verfügt heute nur eine verschwindend geringe Minderheit über diese elementare Fähigkeit. 'Journalismus' besteht nur noch aus dem Kopieren anerkannter Quellen. Lewis hätte Assange im Gerichtssaal erstechen können – es würde nicht berichtet werden, solange es nicht Teil einer Pressemitteilung der Regierung wäre.“

Ein Blick auf die Berichterstattung zum Assange-Prozess in der deutschen Presse zeigt das gleiche Bild. Alle großen Medien haben mehr oder weniger ausführlich über den Beginn der Anhörungen berichtet – und alle haben brav das kopiert, was die Staatsanwaltschaft (beziehungsweise die Nachrichtenagenturen) ihnen lieferten. Widersprüche? Logiklücken? Die gab es anscheinend nicht. Offenbar verfolgte niemand den tatsächlichen Wortwechsel vor Gericht – und war zudem auch in der Lage, das Gesagte intellektuell zu begreifen und seine Bedeutung zu erfassen.

Im Folgenden ein kurzer Überblick über die Berichte der Leitmedien vom 24. Februar, dem ersten Tag der Anhörungen, deren Inhalt, wie gesagt, vor allem dank eines einzelnen Menschen, Craig Murray, bekannt ist.

ARD und ZDF – ein Totalausfall

Für die ARD Tagesschau berichtete gegen Mittag der Korrespondent Sven Lohmann live, mit Regenschirm, vom Vorplatz des Gerichtsgebäudes. Er schilderte die allgemeinen Umstände des Falles, hatte aber offenbar keinen Schimmer vom aktuellen Geschehen im Gerichtssaal. Seinen Bericht schloss er mit den Worten, viele Journalisten seien „mit großem Interesse bei diesem Prozess, weil es sich am Ende auch gegen sie selbst richten und ihre Arbeit einschränken könnte.“

Doch ganz so groß war das Interesse bei der ARD offenbar nicht, denn es folgte lediglich ein einziger (!) weiterer kurzer Online-Beitrag, der eine halbe Stunde später veröffentlicht wurde, und in dem die Tagesschau einfach die Position der Anklage einkopierte, hingegen kein Wort über die Argumentation der Verteidiger verlor, geschweige denn zu dem sich in Widersprüche verstrickenden Staatsanwalt. Die Tagesschau-Ausgabe um 20 Uhr klammerte den Fall komplett aus, in den später gesendeten Tagesthemen gab es eine 40-sekündige Kurzmeldung. Das war alles, was der Tagesschau-Zuschauer in dieser Woche über den Prozess gegen Assange erfuhr.

Die ZDF-Nachrichten präsentierten den Fall in ähnlicher Weise. Online brachte man am frühen Abend unter der Überschrift „Menschen in Gefahr gebracht – US-Anwalt macht Assange Vorwürfe“ eine Kurzmeldung („Quelle: dpa“), in der lediglich die Anklage und für den Leser anonym bleibende „Unterstützer“ Assanges zitiert wurden, nicht aber die an diesem Tag wesentlichen Stimmen, nämlich die der Anwälte der Verteidigung.

In der heute-Sendung um 19 Uhr präsentierte der Sender – der wie die ARD ein Kamerateam vor das Gerichtsgebäude geschickt hatte – zudem noch eine Falschinformation: Das Gericht habe zunächst nur die Anträge der US-Seite gehört, Assanges Anwälte würden erst am folgenden Tag ihre Argumente vorlegen. Die ZDF-Journalisten hatten offenbar nicht die geringste Ahnung, was drinnen passierte. Claus Klebers später am Abend gesendetes heute-journal verbannte das Thema komplett aus der Sendung. Die gesamte übrige Woche schwieg das ZDF das Thema dann konsequent tot – so dass die Zuschauer von der juristischen Position der Verteidiger, geschweige denn dem weiteren Verlauf des Verfahrens überhaupt nichts erfuhren.

„Direkt aus dem Newskanal“

Die deutschen Printmedien gaben ein ähnliches Bild ab. Die Süddeutsche Zeitung verbreitete am Nachmittag zunächst nur zwei kopierte Agenturmeldungen: „Auslieferungsverfahren gegen Julian Assange begonnen (Direkt aus dem Reuters-Videokanal)“, sowie „US-Anwalt: Assange hat Menschen in Gefahr gebracht (Direkt aus dem dpa-Newskanal)“. In beiden Meldungen wurden lediglich die Anklage und Unterstützer zitiert, nicht die Anwälte der Verteidigung.

Am späteren Abend erschien dann ein von eigenen Redakteuren vor Ort verfasster Bericht, unter der Überschrift: „Er ist kein Journalist“. Die Reporter der Süddeutschen Zeitung erweckten dabei kaum den Eindruck, mit dem Fall hinreichend vertraut zu sein. So schrieben sie, „der Anwalt der USA“ sei „nach London gekommen“ – dabei ist Kronanwalt James Lewis zwar für die Seite der US-Regierung tätig, aber selbst ein Brite und in London ansässig. Auch in diesem Artikel wurde zudem zwar die Position der Anklage, nicht aber die Argumentation der Verteidiger von Assange erwähnt – was der rote Faden bei den Leitmedien zu sein schien und darauf hindeutet, dass alle die gleichen Quellen benutzten: internationale Agenturmeldungen.

Gleiches gilt auch für die ZEIT, die in der Woche des Anhörungsbeginns zwar ein Feuerwerk von sieben Artikeln zum Thema Assange startete, aber nirgendwo die Argumente der Verteidigung aufführte oder gar den oben geschilderten Skandal um James Lewis' schwankende Position berichtete – welche die Medien ja direkt betraf. Oberflächlich betrachtet erschien die ZEIT aktiv und engagiert, war allerdings, was die konkreten Fakten aus dem Gerichtssaal betraf, ähnlich wie die Kollegen, völlig ahnungslos.

Den einzigen Bericht, den ich in deutschen Leitmedien finden konnte, der Assanges Verteidiger und deren Argumente zitiert, erschien am Abend des 24. Februar in der FAZ, verfasst von Gina Thomas, die seit über 30 Jahren für das Feuilleton der Zeitung aus London berichtet – offenbar eine Reporterin alter Schule, der grundlegende journalistische Regeln noch vertraut sind.

Diese kennt man anscheinend auch beim Spiegel nicht mehr. Zwar erklärte das Blatt vor Beginn der Anhörungen, der Prozess habe für die Redaktion „besondere Bedeutung“ – offenbar aber doch nicht genug, um auch einen eigenen Reporter in den Londoner Gerichtssaal zu entsenden und die Leser aus erster Hand zu informieren. Stattdessen veröffentlichte man am Ende der Woche ein Interview mit der Linken-Politikerin Sevim Dağdelen, die selbst vor Ort war. Zu Recht fragte ein Leser im Spiegel-Forum:

„Warum erfahren wir so etwas aus einem Interview mit einer Politikerin? Sollte da nicht ein investigativer Reporter des Spiegels im Saal sitzen, der uns über jedes Detail des Falls genau informiert?“

Doch diese Vorstellung von Journalismus ist offenbar überholt. Der Spiegel-Redakteur fragte die Linken-Politikerin auch nicht etwa nach den Fakten und Argumenten, die vor Gericht ausgetauscht worden waren, sondern vor allem nach persönlichen Befindlichkeiten: Was Assange für sie sei, wie er auf sie „wirkte“ und „welchen Eindruck“ sie von der Richterin habe.

Eine branchenumfassende Filterblase

Deutlich wird: Der heutige Journalismus der Leitmedien ist in großen Teilen eine Simulation. Große Redaktionen mit riesigen Stäben von Mitarbeitern verlassen sich auf amtliche Pressemitteilungen, Nachrichtenagenturen und die Aussagen Dritter. Wie vor kurzem schon bei Multipolar beschrieben: Durch routinierte Abläufe, blindes Vertrauen in Institutionen und nicht zuletzt unterstützt durch Bequemlichkeit hat sich eine branchenumfassende Filterblase inzwischen nahezu vollständig geschlossen und schirmt den größten Teil der Medien erfolgreich von der Realität ab.

Beunruhigend ist, dass diese Vorgänge in den Leitmedien nicht einmal ansatzweise reflektiert werden und die meisten Kollegen dort sich weiterhin für großartige und kenntnisreiche Journalisten halten, die die Öffentlichkeit „aufklären“ – eine tragische Selbsttäuschung.

Eine direkte und sachkundige Berichterstattung aus erster Hand ist fast vollständig verschwunden und wird allenfalls von kleinen „Alternativmedien“ und Blogs geleistet – die vom Mainstream dann gern als „unseriös“ abgekanzelt werden. In den USA ist das etwa Kevin Gosztola, in Deutschland berichten über die Assange-Hearings aktuell die NachDenkSeiten sowie die Theaterregisseurin (!) Angela Richter, die den Prozess, genau wie Gosztola und Murray, vor Ort in London beobachtet und ihre Eindrücke in Jakob Augsteins Wochenzeitung Freitag veröffentlichen kann. Sie schrieb zuletzt:

„Es gibt hier nur 24 Plätze für Journalisten und 16 für die Öffentlichkeit, deshalb war ich bereits im Morgengrauen gekommen. Die italienische Journalistin Stefania Maurizi stand schon am Eingang. Sie hat, als einzige Vertreterin der Presse überhaupt, die Verfahrensdokumente des Assange-Falles aus Schweden (hier ging es um den Vorwurf der Vergewaltigung) angefordert und erhalten. Damit hat sie dem UN-Sonderbeauftragten für Folter, Nils Melzer, genaue Akteneinsicht ermöglicht.“

Das heißt: Die Tatsache, dass zumindest ein kleiner Teil der Öffentlichkeit inzwischen, vermittelt über Nils Melzer, erfahren konnte, mit welch illegalen Methoden der Vergewaltigungsvorwurf von den schwedischen Behörden konstruiert wurde (was bei der Tagesschau immer noch nicht angekommen ist), verdankt sich der privaten Initiative einer italienischen Journalistin.

Anders gesagt: Die tatsächliche Übermittlung der Wahrheit in diesem Fall liegt in den Händen einer winzigen Gruppe von Engagierten aus verschiedenen Ländern, die nur ausnahmsweise im Mainstream Gehör finden. Das ist der Zustand der Medien 2020.

M. KRAHE, 6. März 2020, 13:25 UHR

ARD und SZ haben offenbar einfach dieselbe Agenturmeldung kopiert.

ARD: "Assange hatte sich aus Angst vor einer Auslieferung an die USA 2012 in die ecuadorianische Botschaft in London geflüchtet. Damals lag gegen ihn ein europäischer Haftbefehl wegen Vergewaltigungsvorwürfen in Schweden vor. Die Ermittlungen wurden eingestellt. [...]"

SZ: "Assange hatte sich aus Angst vor einer Auslieferung an die USA 2012 in die ecuadorianische Botschaft in London geflüchtet. Damals lag gegen ihn ein europäischer Haftbefehl wegen Vergewaltigungsvorwürfen in Schweden vor. Die Ermittlungen wurden aber später eingestellt. [...]"

Dem ZDF muss man zugute halten, dass es dort im Vorfeld des Prozesses einige kritische Berichte zu sehen gab, sowie ein Interview mit Prof. Melzer. Aber auch in Bezug auf Melzers Vorwürfe ist es ja so, dass der Mainstream lange weggeschaut hat und die journalistische Arbeit von kleinen Online-Zeitungen wie z.B. Republik.ch gemacht wurde.

BERNHARD MÜNSTERMANN, 6. März 2020, 14:00 UHR

Die Verhältnisse haben sich auf bizarre Weise verschoben, der Markenkern von Medienmarken, Parteien und NGOs etc. wurde nicht selten sinnentleert und auf perfide Weise ins Gegenteil verkehrt. Die Beispiele für diese Art manipulativer Sozialtechnik, für diese Spielart von Social Engineering sind kaum zu zählen. Psychologische Kriegsführung auch an der Heimatfront. Dazu passt, dass die FAZ mal einen Artikel von Gina Thomas publiziert, den man in den 1970igern eher in der TAZ zu lesen erwartet hätte.

Die TAZ aber publiziert längst lieber neben allerlei dümmlicher Propaganda und den Mächtigen dienlichen Feindbildern ein fare thee well ihres Autors Jan Feddersen auf den TAZ-Mitgründer Mathias Bröckers. Freilich nicht ohne einfließen zu lassen, dass Mathias Bröckers wegen seiner Publikationen zum Thema 9/11 oder wegen seiner Auftritte auf der Plattform von Ken Jebsen ein Mann der Verschwörungskomplexe sei. Uns tröstet aber, dass die Auflagen von Mathias Bröckers Büchern die Auflage der TAZ doch merklich überschreitet. Bröckers hat damit sein redlich verdientes finanzielles Auskommen, aus welchen Quellen die ehemals zur Gegenöffentlichkeit zählende TAZ heute noch finanziell über Wasser gehalten wird, das wäre eine spannende Frage, deren Klärung noch aussteht.

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