Ukraine, Irpin | Bild: picture alliance / Hans Lucas | Fiora Garenzi

Zukunftsaussichten eines zerstörten Landes

Der Krieg in der Ukraine dauert wahrscheinlich noch Jahre. Die russische Armee wird danach mindestens die südlichen und östlichen Regionen des Landes kontrollieren. Noch zehntausende Menschen werden sterben und weite Teile der ukrainischen Infrastruktur zerstört. Viele Flüchtlinge – vor allem die jungen Menschen – werden unter diesen Bedingungen nicht zurückkehren. Die realistischen Optionen für die politische Zukunft des Staates haben sich nach den ersten Kriegswochen deutlich reduziert. Sicher ist: Die Ukraine, wie sie bis zum 24. Februar 2022 existierte, wird es nicht mehr geben.

STEFAN KORINTH, 16. Mai 2022, 8 Kommentare, PDF

„Wer Kijew hat, kann Moskau zwingen!“ – Paul Rohrbach, 1915 (1)

Westlichen Geostrategen ist die überragende Bedeutung der Ukraine für die russischen Macht- und Sicherheitsinteressen seit mehr als 100 Jahren klar. Dazu ist es gar nicht nötig, Bezug auf angelsächsische Polit-Einflüsterer wie Halford Mackinder, Zbigniew Brzezinski oder George Friedman zu nehmen – auch deutsche Regierungen hatten solche Ratgeber. Der anti-russische Publizist Paul Rohrbach beispielsweise, der während des Ersten Weltkriegs im Auswärtigen Amt tätig war, warb für die Schwächung Russlands durch Heraustrennen damals neuer Nationalstaaten – wie der Ukraine.

Man könne das Russische Reich „wie eine Apfelsine“ in seine Bestandteile zerlegen und ein System neuer osteuropäischer Staaten schaffen, argumentierte Rohrbach. (2) Russlands Macht und Möglichkeiten würden dadurch massiv eingeschränkt.

„Wer Kijew hat, der hat auch die Küste und die Häfen am Schwarzen Meer. Ohne die Kohle der Ukraina können die Eisenbahnen nicht fahren, ohne ihr Eisenerz können keine Pflugscharen geschmiedet, keine Kanonen gegossen werden, und ohne ihr Getreide hat das übrige Rußland nicht genug Nahrung. (…) Alles große Leben in Rußland muss versiegen, wenn ein Feind die Ukraina packt.“ (3)

Auch wenn diese Zwänge für Russland so heute nicht mehr bestehen, ist die geopolitische Relevanz der Ukraine wegen anderer Faktoren unverändert hoch. Die Bedeutung eines privilegierten Schwarzmeer-Zugangs für Russland wurde bereits 2014 mit der raschen Besetzung und Wiedereingliederung der Krim deutlich. Vor allem jedoch geht es um die existenzielle militärische Bedrohung des russischen Kernlandes, die von der Ukraine aus möglich ist. Das macht das Land auch so bedeutsam für die NATO.

Russische Sicherheitsinteressen definieren Zukunft der Ukraine

Wladimir Putin ist sich dieser Bedeutung bewusst, wie er in seiner Rede am 24. Februar 2022 deutlich machte. Klar wird darin: Die russische Staatsführung hat den Angriff auf die Ukraine aufgrund eigener staatlicher Sicherheitsinteressen beschlossen. Viele Politiker und Leitmedien in NATO-Ländern sind zu dieser Einsicht nicht gewillt oder nicht in der Lage. Dabei machte der russische Präsident sehr deutlich, worum es Moskau geht:

„Die militärische Entwicklung der an unsere Grenzen stoßenden Gebiete wird, wenn wir sie zulassen, noch jahrzehntelang, vielleicht für immer, bestehen bleiben und eine ständig wachsende, völlig inakzeptable Bedrohung für Russland darstellen. Schon jetzt, in dem Maße, wie sich die NATO nach Osten ausdehnt, wird die Situation für unser Land von Jahr zu Jahr schlechter und gefährlicher. Darüber hinaus hat die NATO-Führung in den letzten Tagen ausdrücklich von der Notwendigkeit gesprochen, das Vorrücken der Infrastruktur des Bündnisses in Richtung der russischen Grenzen zu forcieren. Mit anderen Worten: Sie verschärfen ihre Haltung. Wir können nicht länger nur zusehen, was passiert.“

Die USA haben die Ukraine in den vergangenen Jahren in ein „Anti-Russland“ verwandelt und das Land mit modernen Waffen vollgepumpt, betonte Putin. Nun strebe die ukrainische Führung sogar nach Atomwaffen. Russland könne sich nicht sicher fühlen, wenn eine ständige Bedrohung aus dem Gebiet der Ukraine möglich sei.

„Für die USA und ihre Verbündeten ist die sogenannte Politik der Eindämmung Russlands, eine offensichtliche geopolitische Dividende. Für unser Land ist es jedoch letztlich eine Frage von Leben und Tod, eine Frage unserer historischen Zukunft als Nation. Und das ist keine Übertreibung – so ist es nun einmal. Das ist eine echte Bedrohung nicht nur für unsere Interessen, sondern für die Existenz unseres Staates und seine Souveränität. Das ist die rote Linie, über die immer wieder gesprochen wurde.“

Putin bekräftigte diese Erklärung nochmal in seiner Rede zum Tag des Sieges am 9. Mai. Die russische Motivation zu verstehen, ist entscheidend, um abschätzen zu können, was aus dem ukrainischen Staat werden könnte. Denn es sind genau diese russischen Sicherheitsinteressen, die das maßgeblich definieren werden.

Militärische Mathematik

Die detaillierten militärischen Entwicklungen vor Ort an den Fronten können hier nicht näher analysiert werden. Grob überblickt, herrscht folgende Lage: Die russische Armee hat große Teile im Süden und Osten der Ukraine unter ihrer Kontrolle. Trotz aller ukrainischen Stärkebekundungen und westlicher Unterstützungsleistungen verliert die ukrainische Armee im Donbass, da wo ihre stärksten Kräfte stehen, täglich Raum. Große Teile des restlichen Landes – darunter Autobahnen und Schienenwege – liegen zudem unter russischer Feuerhoheit. Die ukrainische Rüstungsindustrie ist stark zerstört. Russlands Militär beherrscht große Teile des Luftraums und nahezu vollständig die Küsten der Ukraine. Einzelne Achtungserfolge der Verteidiger ändern an dieser Lage nichts.

Es sei Ergebnis einfacher militärische Mathematik, dass die ukrainische Armee unterliegen werde, sagt der frühere US-Marine und UNO-Waffenkontrolleur Scott Ritter. Auch andere westliche Militärexperten kommen zu dieser Einschätzung. Die ukrainische Armee wird sich – solange ihre Strukturen noch halbwegs intakt sind – hartnäckig verteidigen. Jedoch wird sich die russische Armee langsam aber stetig durchsetzen und in einigen Monaten, nach dem Sieg über die ukrainischen Hauptstreitkräfte im östlichen Landesteil, vorrücken und immer größere Teile der Ukraine unter Kontrolle bringen.

Auch wenn die NATO-Länder ihre Rüstungslieferungen weiter aufstocken und schwere Waffensysteme tatsächlich in relevanter Weise in den Kampfhandlungen eingesetzt werden könnten, würde Russland seinen technischen, personellen und materiellen Einsatz ebenfalls um das Nötige erhöhen, so dass es die militärische Auseinandersetzung trotzdem für sich entscheidet. Ausschlaggebend ist: Russland kann sich in einem Konflikt, den Wladimir Putin selbst als „existenziell“ definiert, keine Niederlage erlauben.

Nun, da die russische Staatsführung die schwerwiegende Entscheidung zum Einmarsch in die Ukraine einmal getroffen hat, wird sie diesen Krieg auch solange führen, bis die eigenen Vorstellungen von militärstrategischer Sicherheit erfüllt sind. Diese These ist der Ausgangspunkt der folgenden Annahmen über die Zukunft der Ukraine. Blicken wir zuerst auf die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen.

Bevölkerungsexodus

Die Ukraine erlebte seit dem Maidan einen massiven Bevölkerungsverlust durch Auswanderung, weil das Land immer stärker verarmte und die Visa-Vereinbarungen mit der EU gelockert wurden. Mit dem Krieg beschleunigt sich dieser Exodus nun extrem. Das UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) spricht – Stand 13. Mai – von mehr als sechs Millionen ins Ausland geflohenen Ukrainern seit dem Beginn des russischen Einmarsches. Das sind rund 15 Prozent der Gesamtbevölkerung. Etwa acht Millionen ukrainische Binnenflüchtlinge, die ihre Wohnorte ebenfalls verlassen haben und etwa bei Verwandten auf dem Lande untergekommen sind, könnten bald ins Ausland folgen.

Vor allem Eltern mit Kindern haben das Land verlassen. (4) Je länger der Krieg in ihrem Heimatland dauert, desto wahrscheinlicher werden sie sich sprachlich, schulisch und beruflich in ihren Zufluchtsländern integrieren. Es ist höchst fraglich, ob die Mehrheit dieser Menschen je wieder dauerhaft in die Ukraine zurückkehren wird, wenn weite Landesteile, darunter womöglich das eigene Zuhause im jetzigen Krieg zerstört werden. Damit verliert die Ukraine einen beträchtlichen Teil ihrer jungen Generation.

Es ist stark anzunehmen, dass die eher wohlhabenderen und gut gebildeten Bevölkerungsschichten geflohen sind, die zum Teil bereits Verbindungen ins Ausland hatten. Die jüngeren Männer aus dieser Schicht hatten auch das nötige Geld, sich an der Grenze vom Militärdienst freizukaufen. Gerade sie haben keine große Motivation als potenzielle Deserteure in ihre Heimat zurückzukehren. Weitere zehntausende junge Männer verliert die Ukraine – getötet oder schwer verwundet – auf den Schlachtfeldern. Das Land blutet buchstäblich aus.

Zerstörtes Land

Da sich die ukrainische Armee in vielen Orten verschanzt, droht noch weiteren Städten das Schicksal Mariupols. Die Großstadt am Asow’schen Meer ist nach zweimonatigen Straßen- und Häuserkämpfen stark zerstört. Auch viele Kleinstädte und Dörfer im umkämpften Donezbecken sehen inzwischen wie Ruinenlandschaften aus. Russland ist dort zu massiven Artilleriebombardements der ukrainischen Stellungen übergegangen.

Gerade in der Ostukraine ist erkennbar, dass die rechtsextremen, oft ortsfremden Teile der ukrainischen Nationalgarde keine Rücksicht auf Zivilbevölkerung und Infrastruktur nehmen. In ukrainischen Medien betonten nationalistische Kämpfer in den vergangenen Jahren immer wieder, dass sie die Einwohner der Ostukraine größtenteils für illoyal und pro-russisch halten. Die Städte der Region sind von diesen Akteuren für eine Zukunft in einem ukrainischen Staat offenbar bereits abgeschrieben. Doch verlorene Ortschaften sollen der russischen Armee nicht kampflos und intakt überlassen werden. Nationalisten drohen jedem, der dies anders handhabt: Ukrainische Bürgermeister, die der russischen Armee keinen Widerstand entgegensetzten, wurden in Kiew als Hochverräter angeklagt und teilweise entführt und ermordet. (5)

Die russische Armee, die sich als Befreier der ost- und südukrainischen Bevölkerungsteile versteht, hat zwar eher kein Interesse an zivilen Opfern und an der Zerstörung dieser Region, die zukünftig womöglich zu Russland gehört. Doch auch von russischer Seite ist kaum Rücksicht auf zivile Einrichtungen zu erkennen, wenn ukrainische Soldaten darin Stellung bezogen haben.

Die ukrainische Armee wiederum vermint zahlreiche Gebiete – etwa die Strände in Odessa oder die Landschaft rund um die Industriestadt Krywyj Rih (russisch: Kriwoi Rog). Politiker beider Seiten wiesen bereits auf das große Problem der Minenräumung nach Kriegsende hin. Im Gebiet Cherson hat die russische Armee schon mit der Minenräumung begonnen. Von ukrainischer Seite hieß es, gut 80.000 Quadratkilometer müssten auf Minen untersucht werden; das wäre ein Sechstel der Fläche der Ukraine.

Zerstörte Brücke zwischen Irpin und Kiew | Bild: picture alliance/dpa/Lehtikuva | Jussi Nukari

Ein weiteres Problem sind die zerstörten Verkehrswege: Allein bis Ende März hatte die ukrainische Armee bereits 127 Brücken gesprengt, teilte das russische Verteidigungsministerium mit. Die russische Armee zerstörte hingegen mehrere west- und zentral-ukrainische Schienenknotenpunkte und Umspannwerke, um Waffen-, Munitions- und Treibstofflieferungen zu unterbinden, und wird dies weiterhin tun. Auch viele Flughäfen sind wegen ihrer militärischen Bedeutung bevorzugtes Angriffsziel. Bei zunehmender Kriegsintensität könnten große Kraftwerke ebenfalls ins Visier geraten.

Die wirtschaftliche Basis des Landes wird durch den Krieg besonders in Mitleidenschaft gezogen. Wesentliche Teile der entwickelten ukrainischen Industrie (Luftfahrt, Rüstung, Auto- und Motorenbau) sind als kriegswichtige Betriebe im Fadenkreuz russischer Raketen. Die ukrainischen Hauptexportgüter Getreide und Stahl können aufgrund des Krieges nur in deutlich geringeren Mengen als früher produziert werden. Auch die Transportmöglichkeiten für den Handel solcher Güter sind stark eingeschränkt. Gerade die Landwirtschaft wird noch für viele Jahre unter der militärischen Verseuchung der Flächen durch Minen, Kriegsschrott, Blindgänger und giftige Munitionsreste – darunter auch abgereichertes Uran panzerbrechender Geschosse – zu leiden haben.

Verrohung und bewaffnete Gesellschaft

Zukünftige staatliche Gebilde auf ukrainischem Boden werden mit einer massiv traumatisierten und verrohten Nachkriegsgesellschaft zu tun haben. Die herrschende Gesetzlosigkeit und Gewaltbereitschaft werden Spuren hinterlassen. Dass dies nicht nur für aktuelle Kampfgebiete gilt, zeigen die Schießereien und die Selbstjustiz in ukrainischen Regionen, die fernab der Front liegen.

Das staatliche Gewaltmonopol ist nicht mehr existent und liegt in vielen dieser Regionen de facto in Händen rechtsradikaler Paramilitärs. Die massenhafte Ausgabe von automatischen Gewehren und die Entlassung zahlreicher Gefängnisinsassen durch ukrainische Autoritäten kurz nach Beginn des russischen Einmarsches verschärft die Situation und könnte die Ukraine auf absehbare Zeit in ein unregierbares Chaos stürzen. Zahlreiche der nun vom Westen in die Ukraine gelieferten Waffen werden auf dem Schwarzmarkt verkauft und in den Händen krimineller und politisch extremer Gruppierungen landen.

All das bedeutet: Nach dem Krieg bleibt eine stark dezimierte, schwer angeschlagene Gesellschaft zurück und es werden riesige Investitionen und jahrzehntelanger Wiederaufbau nötig. Wer Interesse und Mittel hat, dies zu finanzieren, hängt in erster Linie von den staatlichen Nachkriegskonstellationen auf dem jeweiligen Gebiet ab. Blicken wir also auf die kurz-, mittel- und langfristigen politischen Perspektiven der Ukraine.

Wird es eine Verhandlungslösung geben?

Bereits kurz nach Beginn des russischen Einmarschs traten Delegationen beider Seiten in Verhandlungen miteinander – zuerst in Weißrussland, dann in der Türkei, später per Videokonferenz. Bis auf den russischen Teilrückzug aus der Nordukraine, einige Gefangenenaustausche und die Einrichtung von lokalen Fluchtkorridoren für Zivilisten haben diese Gespräche bislang jedoch keine Ergebnisse erzielt.

Konkret verhandelt wird über die Neutralität und militärische Abrüstung der Ukraine, über Sicherheitsgarantien für das Land, über den Status der russischen Sprache, der Krim und des Donbass sowie über die interpretationsoffene Entnazifizierung der Ukraine. Ende März meldeten Medien zwar, beide Verhandlungsparteien stünden kurz vor einer Einigung. Einen entsprechenden Verhandlungsabschluss gab es jedoch bis heute nicht.

Die Haltung der ukrainischen Staatsführung zu den Verhandlungen hat sich immer weiter verschärft. Präsident Wolodimir Selenskij sei bereit zu Gesprächen über Krim und Donbass, sagte er noch am 8. März. Gegenüber den Außenministern Polens, Tschechiens und Sloweniens versicherte er später schon, die Ukraine werde so lange kämpfen, bis Putin bessere Bedingungen anbiete. Ende April drohte Selenskij, aus den Verhandlungen auszusteigen, wenn seine Landsleute in Mariupol "weiter vernichtet" würden. Anfang Mai machte er einen russischen Truppenabzug zur Vorbedingung für ein Friedensabkommen. Im italienischen Fernsehen sagte er am 12. Mai, Kiew werde die Krim und den Donbass nie als Teil Russlands anerkennen.

Olexij Danilow vom Nationalen Sicherheitsrat der Ukraine erklärte am 2. Mai im ukrainischen Fernsehen sogar, dass es nichts zu verhandeln gebe: „Mit Russland können wir nur dessen Kapitulation unterzeichnen.“ Und Vizeministerpräsidentin Olga Stefanischyna betonte, selbstverständlich halte Kiew weiter am Ziel der NATO-Mitgliedschaft fest.

Auch die russische Seite scheint von den Verhandlungen vorerst nichts mehr zu erwarten. Die Sprecherin des Außenministeriums Maria Sacharowa informierte am 20. April: Russland habe das Vertrauen in die ukrainischen Unterhändler verloren. Wladimir Putin äußerte sich später ganz ähnlich. Für Moskau ist aufgrund der militärischen Lage allerdings auch keine schnelle Verhandlungslösung notwendig.

Die ukrainische Verschleppungstaktik bei den Gesprächen erscheint wegen der sich täglich verschlechternden Situation im Land unlogisch, lässt sich aber vor allem mit externen Faktoren erklären. Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu erläuterte am 20. April:

"Es gibt Länder innerhalb der NATO, die wollen, dass der Krieg in der Ukraine weitergeht. Sie sehen in der Fortsetzung des Krieges eine Schwächung Russlands. Die Lage in der Ukraine ist ihnen ziemlich egal."

Kurzfristige Perspektive: Kein Interesse an Kompromissen

Es ist davon auszugehen, dass die Verhandlungen auf absehbare Zeit zu keinem Friedensschluss führen werden. So befremdlich es klingt, aber keine der beiden Seiten kann sich derzeit eine Verhandlungslösung leisten.

Nach den negativen Erfahrungen mit den Maidan- und Minsk-Abkommen kann niemand in Moskau erwarten, dass die ukrainische Staatsführung ehrlich bereit wäre, irgendeine ausgehandelte Übereinkunft umzusetzen. Zudem ist es unwahrscheinlich, dass ein Abkommen mit großen ukrainischen Zugeständnissen im Westen anerkannt würde. Russland wird deshalb keine Vereinbarung unterzeichnen, die die Umsetzung zentraler Punkte in den Händen einer extrem vom Westen abhängigen ukrainischen Regierung belässt. Den russischen Sicherheitsinteressen, die ausschlaggebend für diesen Angriff waren, wäre damit nicht gedient.

Da mehrere westliche Staatsführer inzwischen erklärt haben, dass der Krieg in einer Niederlage Russlands enden müsse und sie sich immer stärker in die militärische Unterstützung der Ukraine hineinsteigern, kann auch die pro-westliche Regierung in Kiew derzeit kein Friedensabkommen unterschreiben. Bundeskanzler Olaf Scholz bekräftigte die westliche Verweigerungshaltung in seiner Rede am 8. Mai mit den Worten:

"Einen russischen Diktatfrieden soll es nicht geben. Den werden die Ukrainerinnen und Ukrainer nicht akzeptieren – und wir auch nicht."

Für Präsident Selenskij persönlich kommt noch ein bedrohlicher interner Faktor hinzu: Die militanten Nationalisten in seinem Land würden ebenfalls keine Verhandlungslösung anerkennen – außer einer bedingungslosen Kapitulation Moskaus inklusive Rückgabe der Krim. Jedes ukrainische Zugeständnis würden sie als Verrat definieren, zumal in der Ukraine seit Kriegsbeginn massiv Siegeshoffnungen geschürt werden. Eine Verhandlungslösung wäre eine ideale Vorlage für ukrainische Rechtsextreme, eine Art Dolchstoßlegende zu konstruieren und die verräterischen Politiker zu entmachten und umzubringen. Da die militanten Nationalisten und ihre Ideologie, den ukrainischen staatlichen Sicherheitsapparat inzwischen auf allen Ebenen durchdrungen haben, wären sie zu solchen Taten in der Lage.

Bleibt Selenskij Präsident?

Für Wolodimir Selenskij geht es also nicht nur um sein Amt, sondern um sein Leben. Dmitro Jarosch, Gründer des Rechten Sektors, drohte in einem Interview 2019 kurz vor Selenskijs Amtseinführung:

„Seine Aussagen über den Frieden um jeden Preis sind gefährlich für uns. (…) Er wird sein Leben verlieren, er wird an einem Baum auf dem Kreschtschatik [zentrale Straße in Kiew] aufgehängt, wenn er die Ukraine und die Menschen betrügt, die in Revolution und Krieg gestorben sind.“

Aller Erfahrung nach würde Russland für solch ein Attentat verantwortlich gemacht werden. Laut Scott Ritter sei es vor allem in russischem Interesse, dass Präsident Selenskij überlebt und im Amt bleibt, denn nur er als legitimer und im Westen inzwischen höchst populärer ukrainischer Staatsführer könne später einen Vertrag mit Moskau unterzeichnen, dem der Westen nicht widersprechen kann. Stirbt Selenskij vorher, würde Ritter zufolge eine ukrainische Exilregierung im Westen gebildet, die alle russischen Vorschläge ablehnen würde.

Der russische Außenminister Lawrow betonte in einem Interview im italienischen Fernsehen:

„Unser Ziel ist nicht der Regime Change in der Ukraine. Das ist die Spezialität der USA.“

Das russische Vorgehen hat sich geändert – die Ziele nicht

Aus der Art des militärischen Vorgehens und den politischen Aussagen zu Beginn des Einmarsches lässt sich ableiten, dass die russische Staatsführung versuchte, ähnlich wie 2008 in Georgien, durch einen überwältigenden, großflächigen Angriff zügig vorzurücken, das bedrohliche, ukrainische Militärpotenzial zu zerstören und mittels dieses Schockmoments schnelle Kapitulationsverhandlungen mit Kiew zu erzwingen. Möglicherweise setzte man in Moskau auf einen raschen Zusammenbruch der ukrainischen Armee, auf eine Art Erhebung der russlandfreundlichen Ostukrainer und auf eine Flucht Selenskis. „Unsere Pläne sehen nicht die Besetzung ukrainischer Gebiete vor“, sagte Wladimir Putin am 24. Februar.

Da die vermeintlichen Annahmen nicht eintrafen und die Ziele in den ersten Kriegswochen nicht erreicht wurden, hat Russlands Führung die Methoden zur Zielerreichung nun offenbar angepasst – sowohl administrativ als auch militärisch. Eine Besetzung der eroberten ukrainischen Gebiete ist aus Sicht Moskaus offenbar unumgänglich geworden.

In den eroberten südukrainischen Oblasten (vergleichbar mit Bundesländern) Cherson und Teilen Saporoschjes wurden russische Besatzungsverwaltungen eingerichtet. Bezahlt wird dort nun neben dem ukrainischen Griwna auch mit dem Rubel. Einwohner können russische Pässe beantragen, die Internetversorgung läuft jetzt über russische Provider, zudem wird derzeit ein Register für Rentenzahlungen und andere Sozialleistungen aufgebaut. Die Versorgung mit Lebensmitteln läuft über die Krim und Südrussland. In den Schulen wird nun der russische Lehrplan eingeführt. Die Regionen Donezk und Lugansk, in denen vieles davon schon länger so gehandhabt wird, haben ihr Telefonsystem auf die russische Vorwahl umgestellt.

Dass Russland mit all dem erst mehr als einen Monat nach Beginn des Einmarsches begann, ist ein Indiz dafür, dass es ursprünglich nicht vor hatte, diese Regionen zu besetzen. Für Teile der Bevölkerung ist es nichts anderes als eine Befreiung. Dieser Schritt verringert nun jedoch die Zahl der politischen Zukunftsoptionen. Mehrere örtliche Funktionäre sagten bereits, dass es kein Zurück zur Ukraine geben werde. Zuletzt erklärte das am 8. Mai beim Besuch in Cherson auch ein hoher russischer Politiker – der Stellvertretende Vorsitzende des Föderationsrates Andrei Turtschak:

„Russland wird hier für immer sein. Darüber sollten keine Zweifel aufkommen. Eine Rückkehr in die Vergangenheit wird es nicht geben.“

Es ist stark anzunehmen, dass Russland in weiteren neu eroberten Gebieten ebenfalls militärisch-zivile Administrationen einrichtet – und das so lange tun wird, bis die beiden Kriegsziele, Schutz der russlandfreundlichen Bevölkerung und Schutz der russischen Sprache, auch ohne Vertrag erreicht sind.

Mittelfristige Perspektive I: Waffenstillstand und geteiltes Land

Wann stoppt Russland den Vormarsch? Dies könnte in diesem oder im nächsten Jahr geschehen, wenn die russische Armee ein Gebiet eingenommen hat, das das Potenzial hat, wirtschaftlich allein lebensfähig zu sein und politisch von einer eher russlandfreundlichen Bevölkerung dominiert wird. Dieses Gebiet würde von West nach Ost die Oblaste Odessa, Nikolajew, Cherson, Saporoschje, Dnjepropetrowsk, Charkow, Donezk und Lugansk umfassen. Es entspräche ungefähr der historischen Siedlungsregion Neurussland (Noworossija), die im Verlauf des 18. Jahrhunderts vom Russischen Reich gegen Krimtataren und Osmanen erobert und von Russen sowie speziell ins Land geholten Kolonisten, darunter viele Deutsche, besiedelt und im 19./20. Jahrhundert industrialisiert wurde.

In dieser Region befindet sich der Großteil der entwickelten ukrainischen Wirtschaft, die bis zum Maidan-Staatsstreich 2014 sehr eng mit der russischen Ökonomie verzahnt war. Auch alle Handels- und Industriehäfen der Ukraine liegen dort. In diesem Gebiet lebt nicht nur ein sehr großer Anteil russischer Muttersprachler, sondern dort wählten die Menschen seit dem Ende der Sowjetunion und bis 2014 mehrheitlich russlandfreundliche Parteien. Ukrainisch-nationalistische Parteien hatten dort nie eine Chance. Besonders deutlich wurde die politische Spaltung des Landes bei den Präsidentschaftswahlen 2010 und bei den Parlamentswahlen 2012. Nach dem prowestlichen Umsturz 2014 sank die Wahlbeteiligung in den südlichen und östlichen Oblasten der Ukraine auf nur noch 30 bis 50 Prozent.

Ergebnisse der ukrainischen Präsidentschaftswahlen 2010 | Bild: Wikipedia / Vasyl` Babych / CC BY 3.0

Die Region wäre auch militärstrategisch für Russland attraktiv, denn sie würde die verbliebene Restukraine komplett vom Schwarzen Meer abtrennen und eine direkte Landverbindung von Russland bis zur abtrünnigen moldawischen Region Transnistrien herstellen.

Trotz aller Plausibilität wäre ein solches russisches Vorgehen jedoch mit der Eroberung der Millionenstadt Charkow und mehrerer Großstädte wie Odessa und Dnjepropetrowsk verbunden. Gerade in diese drei Orte wurden nationalistische Bataillone als Garnisonen entsandt, die die Städte genauso „verteidigen“ wollen, wie das Asow-Regiment Mariupol. Diese Eroberungen würden nicht nur unzählige Leben kosten, sondern die Großstädte auch von positiven Wirtschaftsfaktoren in rauchende Trümmerlandschaften verwandeln. Bevor es dazu kommt, bestünde die vorerst letzte Gelegenheit zu ernsthaften Verhandlungen.

Angebot mit Zuckerbrot denkbar

Russland könnte – sobald die Region „Noworossija“ militärisch besetzt und deren Großstädte umstellt sind – seinen Vormarsch und Raketenbeschuss stoppen und Kiew ein letztes Verhandlungsangebot machen. Dies würde einen sofortigen Waffenstillstand, den Austausch aller regulären Kriegsgefangenen sowie einen Evakuierungskorridor für ukrainische Soldaten aus den umstellten Großstädten beinhalten.

Die verbliebene Rumpfukraine, deren Hauptstadt weiterhin Kiew wäre, müsste im Gegenzug jedoch anerkennen, dass die besetzten bisherigen ukrainischen Gebiete vorerst unter russischer Kontrolle verbleiben und auch die bisherigen Verhandlungsinhalte kämen wieder auf den Tisch. Falls sich Kiew dazu bereit erklärt, auf eine NATO-Mitgliedschaft zu verzichten, keine westlichen Soldaten im eigenen Land zu stationieren, sich einer internationalen Abrüstungskontrolle zu unterwerfen und die Krim als russisches Staatsgebiet anzuerkennen, würde solch ein vorläufiger Friedensvertrag zu Stande kommen.

Russland könnte das Angebot ergänzen mit Wiederaufbaukrediten und einem langfristigen Liefervertrag von stark verbilligtem Gas an die Ukraine durch die bestehenden Pipelines. Kiew wiederum hätte die Option, einen Teil dieses Gases zu hohen Preisen als „Freiheitsgas“ an den Westen weiterzuverkaufen und sich dadurch neue Staatseinnahmen in Milliardenhöhe zu verschaffen. Viele dann bereits krisengeschüttelte EU-Staaten dürften solch eine Regelung begrüßen – das Gas könnten sie als „Ukrainisch“ deklarieren und ihre Russland-Sanktionen formell aufrechterhalten.

Vorstellbar wäre zudem, dass die Bevölkerung der russisch besetzten Region, in der sich eine Art Ostukrainische Volksrepublik konstituiert, in einem Referendum nach einem festgelegten Zeitraum (vergleichbar dem Saarland 1935) über seine zukünftige staatliche Zugehörigkeit abstimmt. Bis dahin könnte das besetzte Gebiet formell unter UN-Mandat und faktisch unter militärischen Schutz der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) gestellt werden.

Egal wie solch ein russisches Friedensangebot konkret aussieht, es wird für dessen Erfolg darauf ankommen, wie konstruktiv westliche Regierungen, vor allem die US-Führung, damit umgehen. Allerdings ist es aus weiter oben genannten Gründen nicht realistisch, dass solch ein Angebot von Seiten Washingtons und Kiews in absehbarer Zeit angenommen würde. Dazu müsste der wirtschaftliche, soziale und politische Leidensdruck auf westliche Regierungen wahrscheinlich noch stark ansteigen. Auch wären die sicherheitspolitischen Motive Moskaus mit solch einem Vertrag nur ungenügend erfüllt, da in der Rumpfukraine noch immer militante Russlandfeinde agieren und verdeckt von der NATO aufgerüstet werden könnten.

Mittelfristige Perspektive II: Fortsetzung des Krieges

Deutlich wahrscheinlicher ist deshalb, dass der Krieg in der Ukraine sich noch über Jahre hinziehen wird. Dessen weiterer Verlauf ist aus heutiger Sicht jedoch kaum zu kalkulieren. Anzunehmen ist: Russland wird in der Fläche vorrücken, weitere Großstädte umstellen und die kriegswichtige ukrainische Infrastruktur im Hinterland mit Raketen zerstören. Die NATO-Staaten werden die Ukraine weiterhin mit zahlreichen militärischen und logistischen Tätigkeiten unterstützen, um Russland maximal zu schaden und die Ukraine als Testfeld für eigene militärische Entwicklungen (wie bestimmte neuartige Drohnen) zu nutzen. Zudem benötigen westliche Regierungen weiterhin das Feindbild Russland, um eigene innenpolitische Absichten zu rechtfertigen.

Je länger dieser Zustand andauert, desto wahrscheinlicher ist es, dass es zu einer Eskalation und Ausweitung des Krieges auf andere Länder – wie Moldawien, Polen oder Weißrussland – und letztlich zu einem neuen Weltkrieg kommt. Eine offizielle Beteiligung der NATO mit eigenen Truppen in der Ukraine ist zwar nicht auszuschließen, aber noch eher unwahrscheinlich und würde den Fortgang absolut unkalkulierbar machen.

Selbst im günstigsten Fall (also ohne NATO-Eingreifen und Weltkrieg), muss sich die russische Staatsführung bewusst sein, dass ihr Vorrücken in die Westukraine zu einem lang anhaltenden, verbissenen Krieg zwischen dem russischen Militär und ukrainischen Nationalisten wie von 1945 bis 1955 führen wird, der immer mehr den Charakter eines Partisanenkrieges annimmt. Anders als in großen Teilen der Süd- und Ostukraine würde Russland in der Westukraine – vor allem in der historischen Region Ostgalizien – von der Bevölkerung nicht wohlwollend begrüßt werden.

Das Dilemma Moskaus: Russland kann kein Interesse daran haben, die westliche Ukraine zu besetzen, da der eigene Schaden sehr groß wäre. Es kann sie aber aus eigenen sicherheitspolitischen Überlegungen auch weder nationalistischen ukrainischen Militärs noch selbsternannten Schutztruppen aus NATO-Ländern überlassen. Hierbei geht es neben der möglichen Stationierung von Mittelstreckenraketen, die auf Moskau zielen, auch um biologische und atomare Bedrohungspotenziale. In den westukrainischen Städten Riwne und Chmelnyzkyj befinden sich beispielsweise Atomkraftwerke. In Lwiw gibt es US-Biolabore. Die militanten Nationalisten müssten klassisch entwaffnet werden, doch es gibt niemanden weder innerhalb noch außerhalb der Ukraine, der das tun würde – außer Russland.

Die Zukunft des gesamten ukrainischen Landesteils zwischen Uschgorod in den Karpaten und Poltawa östlich von Kiew bliebe ein einziges riesiges Fragezeichen.

Langfristige Perspektive: Neuaufteilung bis zum Staatszerfall?

Dementsprechend spekulativ ist es, langfristige Prognosen zur ukrainischen Staatlichkeit zu treffen. Dass es eine Art Neuaufteilung des Staates geben wird, scheint unausweichlich. Derzeit kaum vorstellbar ist allerdings eine Komplettauflösung etwa durch die Einverleibung westukrainischer Gebiete durch Polen, Ungarn oder Rumänien, die zuletzt von verschiedenen Seiten kolportiert wurde. Auch deren Armeen würden von ukrainischen Nationalisten feindselig empfangen werden, langfristige ethnische Konflikte wären vorprogrammiert und die EU-Mitglieder würden dann genau das tun, was man Russland vorwirft. Nicht zuletzt könnte es dadurch zum Dritten Weltkrieg kommen.

Die langfristige Neuaufteilung wird sich wie oben dargelegt eher in den östlichen und südlichen Regionen manifestieren. Eine russische Rückgabe des blutig eroberten Gebietes ist – genauso wie eine innerukrainische Föderalisierung – realpolitisch kaum noch denkbar. All die Zerstörungen, das Leid und die Verluste des Krieges wären weder den Menschen in Russland noch den russlandfreundlichen Bewohnern in der Ukraine vermittelbar, wenn sich die Armee wieder zurückzieht und Kiew das Feld überlässt.

Ob aus dem verbliebenen ukrainischen Binnenstaat ein permanentes Kriegsgebiet oder ein neutraler, entmilitarisierter Pufferstaat mit teilsouveräner Zukunft wird, hängt auch von der Bereitschaft des Westens ab, die russischen Sicherheitsinteressen anzuerkennen und in der Ukraine nicht mehr militärisch und geheimdienstlich aktiv zu sein. Dazu müssten allerdings die EU-Europäer den US-Einfluss auf dem Kontinent zurückdrängen und selbstbestimmt in Verhandlungen mit Moskau eintreten. Dies erscheint jedoch höchst illusorisch. Derzeit geschieht das genaue Gegenteil.

Kommt es in den kommenden Jahren zu keiner friedensvertraglichen Einigung bleibt nach langen Kämpfen ein russischer Vormarsch in der Ukraine bis zur NATO-Grenze denkbar. Einige ukrainische Publizisten wie der russlandfreundliche Politblogger Juri Podoljaka, der den Krieg im Februar voraussagte, gehen davon aus, dass Wladimir Putin die Ukraine in die Eurasische Zollunion integrieren möchte – und zwar die gesamte Ukraine.

Anzunehmen ist jedenfalls, dass Russland nicht bereit sein wird, dem Westen aktive Gestaltungsmacht über die Zukunft der Ukraine einzuräumen. Das verbieten die russischen Sicherheitsinteressen und die historischen Erfahrungen neuerer und älterer Art. Zuletzt als Russland sich die Neuordnung der Region von einer westlichen Macht diktieren lassen musste – im Friedensvertrag von Brest-Litowsk (Anfang 1918) – wurden die Ideen des zu Beginn zitierten Paul Rohrbach teilweise umgesetzt. Die Ukrainer traten bei den damaligen Verhandlungen übrigens ähnlich forsch und undiplomatisch auf wie der heutige ukrainische Botschafter in Deutschland. (6)

Möglicherweise erleben wir jetzt, wie Russland die damalige Neugestaltung der Region, die bis heute grundsätzlich bestehen blieb, nun teilweise rückgängig macht. Vor diesen langfristigen Effekten warnten andere geopolitische Publizisten übrigens auch schon im Ersten Weltkrieg. So argumentierte der deutsch-österreichische Offizier und Schriftsteller Albert Ritter in einer Denkschrift (7):

„Jeder Politiker wäre auf dem Irrwege, der die östliche Gefahr zu bannen oder zu verringern vermeinte durch Wegnahme russischer Gebiete (…). Jede Abtrennung eines großen Stückes schüfe einen unhaltbaren Zustand, da Rußland es heimholen müßte. Jeder Auflösung des Reiches würde nach furchtbaren Stürmen wieder ein Zusammenschluß in irgend einer Form folgen.“


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Anmerkungen

(1) Zitiert nach Frank Golczewski: Deutsche und Ukrainer 1914 – 1939. (Paderborn, 2010), Seite 43.

(2) Siehe Jörg Kronauer: Meinst Du, die Russen wollen Krieg? Russland, der Westen und der zweite Kalte Krieg. (Köln, 2018), Seite 27ff.

(3) Zitiert nach Golczewski, Seite 44. Im Ersten Weltkrieg riet Rohrbach dazu, die ukrainische Nationalbewegung zu nutzen, um Russland zu „zertrümmern“. (47) Der österreichische Konsul Emanuel Urbas schlug bereits im August 1914 vor, einen ukrainischen Staat bis zum Don zu schaffen, um Russlands Macht zu brechen und Österreich zu sichern. (87) Die finanzielle Unterstützung der ukrainischen Nationalbewegung begann ebenfalls in dieser Zeit: Im September 1914 zahlten Wien und Berlin gemeinsam eine Million Reichsmark für ukrainische Propagandamittel. (71)

(4) Nicht zu vergessen ist dabei, dass nach russischen Angaben bereits mehr als eine Million Ukrainer nach Russland geflüchtet sind. Dieser Beitrag der Krim-Nachrichten zeigt Kinder aus Donezk, die nach Sewastopol kommen, um endlich wieder ohne Raketenbeschuss in die Schule gehen zu können. Nach wie vor werden die Donbassflüchtlinge in westlichen Leitmedien ignoriert. Für diese Menschen dauert der Krieg bereits acht Jahre. Viele der Kinder und Jugendlichen aus dieser Region können sich an eine Zeit ohne Krieg gar nicht erinnern.

(5) Wolodimir Strok, Bürgermeister der Kleinstadt Kreminna, wurde aus seinem Haus entführt und erschossen. Zuvor hatte er seine Kollegen in anderen Städten zu Verhandlungen mit der russischen Armee aufgefordert. Wenige Tage später wurde Juri Prylipko der Bürgermeister des Kiewer Vororts Hostomel ermordet, da er mit dem russischen Militär über einen Fluchtkorridor für die Bürger seiner Stadt verhandelt hatte. Elf weitere „pro-russische“ Bürgermeister seien vermisst, berichtete das Magazin The Grayzone. Die Bürgermeister Gennadi Mazegora (Kupjansk) und Iwan Stolowoi (Balaklija) wurden von ukrainischen Staatsanwaltschaften wegen Hochverrats angeklagt, da sie die russische Armee kampflos durch ihre Kleinstädte bei Charkow hatten fahren lassen – nachdem das ukrainische Militär bereits geflüchtet war.

(6) Die Führung der Ukrainischen Volksrepublik, die sich erst wenige Tage zuvor unabhängig von Moskau erklärt hatte, schickte zwei Studenten nach Brest-Litowsk, um ein separates Abkommen mit den Mittelmächten auszuhandeln. Den Aussagen der deutschen und österreichischen Delegationsmitglieder zufolge traten die Ukrainer sehr fordernd und selbstbewusst auf. Sie hätten die Verhandlungen geführt, als wären sie die Siegerpartei und forderten Landgewinne für den ukrainischen Staat auf Kosten Polens gegen Getreidelieferungen ein. Der österreichische Außenminister Ottokar Graf Czernin schrieb: „Die Ukrainer verhandeln nicht mehr, sie diktieren!“ (zitiert nach Golczewski, Seite 187)

(7) Zitiert nach Golczewski, Seite 223.

LEO HOHENSEE, 17. Mai 2022, 18:10 UHR

Die Abläufe und Zusammenhänge einfach nur zusammengefasst, machen Sie, sehr geehrter Herr Korinth, doch gleichzeitig die deprimierende Lage der Ukraine deutlich.

Es mag ja Militärs geben, die hier ein Spielfeld sehen für Strategiespiele und für ein Kräftemessen. Entscheidend ist aber, Krieg schafft keinerlei Werte, er zerstört nur! Er zerstört Menschenleben, Seelen und Zukunftsperspektiven, er zerstört Industrie und Wohlstand. Man muss auch die Frage stellen, wie wollen die beteiligten Menschen denn jemals wieder Frieden miteinander finden wenn sie sich gegenseitig verstümmeln. Ich spiele an auf die grausamen Verletzungen, die an Gefangenen und Andersdenkenden begangen werden.

Und ganz grundsätzlich: es betrifft das Land eines Gemischtvölkerstaates. Einflüsse aus den direkten Nachbarstaaten leben in den Menschen entsprechend ihrer Herkunft fort. Ein friedliches Miteinander darf nicht von staatlicher Seite konterkariert werden. Mir sei auch die Frage erlaubt, was haben Politiker der USA denn für ein Recht und für ein Motiv, sich in diesem fernen Land einzumischen?

Sie mischen sich ja nicht erst seit Kriegsausbruch ein, sondern sie tun es schon lange. W. Putin spricht von einer Bedrohungslage, geschaffen erst durch den amerikanischen Einfluss. Mit welchem Recht und mit welchem Ziel findet in der fernen Ukraine überhaupt eine Einmischung statt? Was haben insbesondere Joe und Hunter Biden für Interessen in der Ukraine?

Entspricht es der Wahrheit, dass der Präsident der USA zur Tarnung eigener Verstrickungen ein persönliches Interesse hat an der Fortführung und Ausweitung der kriegerischen Auseinandersetzung in der Ukraine? Mit welchem Recht und mit welchem Ziel verpflichtet / nötigt die amerikanische Regierung europäische Staaten dazu, selbstschädigend und auch kriegsfördernd tätig zu sein? Wie selbstverständlich wird erwartet, dass eine erhebliche Selbstbeschädigung der mitteleuropäischen Völker von deren Regierungen begangen und billigend in Kauf genommen werden muss.

Warum ist das so? Mit welchem Recht ist das so?

BERNHARD MÜNSTERMANN, 17. Mai 2022, 18:20 UHR

Danke für die nach meiner Auffassung um Ausgewogenheit bemühte Darstellung des Geschehens in der Ukraine. Die NATO-gemäße Perspektive beginnt mit der russischen Militärintervention. Warum verharrt die Sichtweise von Regierenden der westlichen Welt so unbeirrbar und ausschließlich auf der Bedeutungsebene des aktuellen Ereignisses? Der französische Historiker Fernand Paul Braudel (1902-1985) prägte den nachstehenden Dreiklang von Begriffen für verschiedene Zeitebenen: Longue durée, moyenne durée, événement (dt. das Ereignis). Und das kurzatmige Betonen vom événement Ukraine-Konflikt ist mit Blick auf die Motive der Konfliktparteien in diesem Stellvertreterkonflikt verräterisch.

Und da Stefan Korinth zum Ende seines Artikels den Autor und Offizier Albert Ritter in der Epoche nach dem ersten Weltkrieg erwähnt, die auch das Ende des Habsburger Vielvölkerstaates bedeutete, will ich, wenigstens schlappe 100 Jahre weiter zurückschauend, den Wiener Kongress erwähnen. Der, nach dem Ende des napoleonischen Empire, einen neuen Interessenausgleich als Ordnung der europäischen Mächte suchte, um militärische Konflikte vorausschauend zu vermeiden.

Und da bewundere ich Dr. Karin Kneissl, aus deren Feder und Mund man immer wieder auf RT Einschätzungen hören und lesen kann. Die wurde zwar später mächtig dafür angefeindet und lebt heute in Frankreich, steht aber im besten Sinne für die alte Kunst der Diplomatie der Habsburger. „Bella gerant alii, tu felix Austria nube.“ – „Kriege führen mögen andere, du, glückliches Österreich, heirate.“. Die erfahrene Diplomatin wagte anlässlich ihrer eigenen Hochzeitsfeier 2018 ein Walzer-Tänzchen mit Herrn Putin, der ein Gast auf ihrer Hochzeitsfeier war.

https://www.youtube.com/watch?v=KJprFlHnA08
https://www.youtube.com/watch?v=0IYqkyD7sV0

Die Braut war jenseits ihrer Zwanziger und statt ganz in Weiß in steierischem Landhausstil zu sehen. Wer würde da nicht an den Diplomaten aus den Österreichischen Niederlanden denken: Le congrès danse beaucoup, mais il ne marche pas. Der Fürst von Ligne im damals habsburgerischen Hennegau sah das vielleicht so, weil er Ende 1814 in Wien starb und als alter Diplomat etwas ungeduldig war. Er korrespondierte auch mit Talleyrand-Périgord und wollte den diplomatischen Gesprächsfaden auch mit Frankreich nicht abreißen lassen, wollte das militärisch besiegte Frankreich nicht demütigen oder düpieren.

Ob Frau Baerbock Walzer tanzen kann, das weiß ich nicht. Aber Putin würde vielleicht hilfsweise auch eine Einladung zum Trampolinhüpfen wahrnehmen. Besser als die Zerstörungen und Verheerungen der Ukraine, auch mit aus Deutschland gelieferten Waffen, wäre das allemal. Wie immer werden die normalen Menschen hier wie in der Ukraine aber nicht gefragt, die den Preis und die Risiken dieses Stellvertreterkrieges zu zahlen haben. Ein Krieg, in dem auch Deutschland faktisch Kriegspartei geworden ist. Die bigotte Erregung über den militärischen Einmarsch ist schwer erträglich, wenn man die einschlägigen vielen Verletzungen des Völkerrechts durch die NATO Staaten bedenkt. Zweierlei Maß und völkerrechtlich rechtsfreier Raum also auch hier.

MICHAEL M, 17. Mai 2022, 21:50 UHR

Beim ersten Lesen war ich doch bass erstaunt, wie der Autor derzeitige Tendenzen mit dem Lineal bis "mehrere Jahre" in die Zukunft verlängert. (Und keine 30 Minuten später lese ich von der - etwas überraschenden - vollständigen Kapitulation von Asovstahl.)

Doch schon vorher war mir klar: Bloß, weil die ukrainische Armee sich 2 Monate hat aufreiben lassen, bedeutet das nicht, dass sie es 12 weitere Monate tun wird, egal wie viele Waffen der Westen noch liefert. Europa wird währenddessen in einem Jahr einem ökonomischen Trümmerfeld gleichen, und so wie die Dinge laufen, können wir schon froh sein, wenn in Deutschland niemand im nächsten Winter erfriert oder verhungert.

Ich erachte es als unwahrscheinlich, dass Scholz im nächsten April noch Kanzler ist, aber falls doch, können wir gespannt sein, an welchem Punkt er die "vollständige Befreiung der Ukraine" als unwichtig, um nicht zu sagen "lächerlich" deklarieren wird. Dies alles aber wäre Stoff für einen zweiten Artikel "Zukunftsaussichten eines sich selbst zerstörenden Landes".

PS. Schauen Sie doch auch mal nach, wie viel Bevölkerung die baltischen Staaten prozentual verloren haben. 2000 bis 2020.

RIPPLE, 17. Mai 2022, 23:10 UHR

"Europa wird währenddessen in einem Jahr einem ökonomischen Trümmerfeld gleichen, und so wie die Dinge laufen, können wir schon froh sein, wenn in Deutschland niemand im nächsten Winter erfriert oder verhungert."

Lauterbach hat letzthin die Sinnlosigkeit von Lockdowns und "Einsperrmaßnahmen" eingeräumt. Im Rahmen der Coronaaktion des Kapitals waren das die Maßnahmen, die die Wirtschaft zerstören sollten. Da dies nun im Rahmen der Ukraineaktion des Kapitals durch die "Putinmaßnahmen" viel effizienter und gründlicher erreicht wird, kann Lauterbach die Einsperrmaßnahmen aufgeben.

Das Hauptziel der ganzen Coronaaktion des Kapitals war aber von Anfang an das Einspritzen dieses Serums in alle Menschen dieses Planeten (Vorbereitung zum Transhumanismus) und die damit verbundene Einführung und Akzeptanz der Totalüberwachung und -steuerung (Teil des Great Reset / Social Credit Points / Internet der Körper etc). Und genau das bereitet Lauterbach für den kommenden Herbst vor, wenn der von Bill Gates angekündigte noch viel gefährlichere Virus freigesetzt wird: "Kein Lockdown und nichts anderes wird helfen, sondern ausschließlich nur die Spritze!"

Einen Positionswechsel, wie so oft geunkt, hat es bei dem ungebremsten Exekutor des Kapitalwillens Lauterbach also nur bei einem Spieler gegeben, der durch einen weit wirkungsvolleren Spieler, den Ukrainekrieg, ersetzt worden ist. Die Gesamttaktik wurde dadurch nur noch weiter verstärkt und präzisiert: "Wir haben jetzt nichts anderes mehr, das gegen das neue Virus hilft, als nur die Spritze. Wer sich jetzt noch immer verweigert..."

Und die Zerstörung unserer Wirtschaft, jetzt eben durch die Ukraineaktion des Kapitals, ist eine notwendige Vorraussetzung, um den Great Reset als die Erlösung aus dem vorsätzlich geschaffenen Elend verkaufen zu können. Und alle 7,5 Milliarden Menschen braucht das Kapital für seinen neu einzuführenden 4. Hauptweg zur Sicherstellung seines Selbsterhalts sowieso nicht.

Näheres hier:
https://multipolar-magazin.de/artikel/der-dollar-schluckt-den-euro#diskussion

STEFAN KORINTH, 18. Mai 2022, 14:25 UHR

„Bloß, weil die ukrainische Armee sich 2 Monate hat aufreiben lassen, bedeutet das nicht, dass sie es 12 weitere Monate tun wird.“

Das habe ich so auch nicht behauptet. Es kommt dabei vermutlich weniger auf die ukrainische Armee sondern mehr darauf an, wie viel Russland bereit ist, militärisch einzusetzen. Der Vormarsch in der Ostukraine könnte sicher auch deutlich schneller vonstatten gehen, wenn die russische Führung sich zu einer Intensivierung entschließen würde. Das könnte natürlich morgen schon passieren und die ukrainische Verteidigung bricht dann völlig zusammen.

Da Russland den Truppeneinsatz seit Beginn des Einmarschs vor knapp drei Monaten aber nicht erhöht hat (vielleicht weil es ausreichend Kräfte für einen potenziellen Krieg mit der NATO zurückhält), könnte es aber auch überhaupt keine Intensivierung der Kriegführung geben und man setzt auf einen langsamen, stetigen Vormarsch mit der jetzigen Truppengröße. Als Autor, der eine Prognose abgibt, muss man beide Möglichkeiten einkalkulieren. Deshalb habe ich im Artikel vorsichtig formuliert:

„Wann stoppt Russland den Vormarsch? Dies könnte in diesem oder im nächsten Jahr geschehen.“

Die Meinung, Kriege seien in wenigen Wochen oder gar Tagen entschieden, hat sich in der Geschichte jedenfalls schon öfter als falsch herausgestellt. Sie schreiben:

„Beim ersten Lesen war ich doch bass erstaunt, wie der Autor derzeitige Tendenzen mit dem Lineal bis "mehrere Jahre" in die Zukunft verlängert.“

Da wo ich von diesen Zeiträumen spreche, geht es aber um die Westukraine. Das ist ein ganz anderer Fall als die Region, in der jetzt gekämpft wird und ist erst recht etwas anderes als Asowstahl.

CORINNA, 18. Mai 2022, 14:00 UHR

(Nur am Rande: Was für eine Wohltat, endlich wieder von geflohenen statt geflüchteten Menschen zu lesen. Natürlich nur rein sprachlich gemeint.)

Ansonsten eine informative Zusammenfassung, vielen Dank! Vor allem was die Perspektiven angeht, scheint die Mehrheit hier im Land aber blind zu sein. Wer weiterhin ernsthaft glaubt, dass die Menschen in der Süd-Ost-Ukraine jemals wieder eine ukrainische Regierung akzeptieren, nach allem, was von 2014 bis jetzt passiert ist, ist entweder unglaublich naiv oder realitätsfremd oder ausreichend mit der Propaganda der deutschen Hauptmedien gefüttert worden.

CARSTEN FORBERGER, 19. Mai 2022, 19:10 UHR

Im Artikel wird die besondere Rolle der Westukraine erwähnt und ich möchte hieran noch ein paar Gedanken anfügen. Zunächst erscheint es mir für das Verständnis dessen, was die Ukraine als Nationalstaat ausmacht, von essentieller Bedeutung, dass die Westukraine mit dem Zentrum Lwiw nie unter zaristischer Herrschaft stand. Galizien gehörte zur polnisch-litauischen Krone und fiel infolge der 1795 abgeschlossenen polnischen Teilungen an das Habsburger Reich. Mit dessen Zerfall im Jahre 1918 wurde Galizien dann (wieder) Teil der Republik Polen.

Erst 1939 fiel die Westukraine als Folge des Hitler-Stalin-Paktes unter sowjetische Herrschaft und wurde nun erstmals, im rein kulturellen Sinne, russisch dominiert. Bis 1939 richtete sich der nationale Widerstand der vorwiegend ländlich lebenden Ukrainer in der Westukraine jedoch gegen die polnische Oberschicht in den Städten und die Unterdrückung entlud sich nach unten gegen die noch schwächere jüdische Bevölkerung. Von daher speiste sich - grob vereinfacht - der westukrainische Nationalismus aus folgenden Quellen: Freiheitsdrang gegenüber der Herrschaft einer polnischen Minderheit, kulturelle Fremdheit gegenüber allem Russischen, Wunsch nach Befreiung der unter zaristischer bzw. sowjetischer Herrschaft stehenden Ukrainer im Osten sowie Antisemitismus gegenüber den noch schwächeren Juden als Kompensation für die eigene Unterdrückung.

Für die ukrainische Bevölkerung im Osten wechselte ab 1917 „nur“ die Herrschaft. Sie wurden nun nicht mehr vom Zaren in St. Petersburg, sondern vom Politbüro in Moskau regiert. Für die Westukrainer war das 1939 anders. Für sie wechselte nicht bloß die Herrschaft, sondern sie wurden von einer bis dato fremden Macht annektiert.

Wenn also Putin davon spricht, dass es sich bei der Ukraine um ein Brudervolk der Russen handele, dass die ukrainische Sprache nur so etwas wie ein unkultivierter Dialekt des Russischen sei und dass die Entstehung einer ukrainischen Staatlichkeit nur auf einer politischen Entscheidung Lenins beruht habe, ist dies jedenfalls in Bezug auf das Gebiet, welches erst 1939 sowjetisch wurde, schlichtweg Unsinn.

Allerdings bin ich mir sicher, dass Putin sich der gravierenden und bis heute wirkenden geschichtlichen Unterschiede zwischen Ost- und Westukraine gleichwohl sehr bewusst ist. Er weiß, dass es auf eine von der Bevölkerung verhasste Fremdherrschaft hinausliefe, wenn er die Westukraine besetzen würde. An dieser Stelle kommt nun ein bislang wenig beachteter Akteur ins Spiel: Polen. In Polen wird mehr oder minder offen darüber phantasiert, das verlorene Galizien quasi heim ins Reich zu holen. Erstmals habe ich über diese zunächst grotesk anmutende Idee bei Thomas Röper gelesen:

https://www.anti-spiegel.ru/2022/polens-praesident-spricht-offen-ueber-annektierung-der-westukraine/

Vor dem genannten geschichtlichen Hintergrund macht es allerdings wieder Sinn. Und Thomas Röper wirft deshalb die berechtigte Frage auf, wer hier in wessen Falle geht. Russland in die Falle des Westens oder der Westen in die russische?

https://www.anti-spiegel.ru/2022/ist-russland-in-die-falle-des-westens-gegangen-oder-umgekehrt/

Russland wird den Fehler, den die Sowjetunion in Afghanistan beging, nicht wiederholen. Das langsame Vorankommen ist bei dieser Betrachtung kein Zeichen von Schwäche, sondern von bewusster Planung und Geduld. Das strategische Ziel Russlands könnte also darauf hinauslaufen, sich langsam, aber stetig in der Süd- und Ostukraine gegen eine von selbst zerfallende ukrainische Armee vorzuarbeiten und gleichzeitig ein Eingreifen Polens zur „Hilfe“ der Westukraine zu provozieren.

Selbst das völlig unrealistisch erscheinende Ziel, die Westukraine zu „entnazifizieren“ ließe sich damit aus Sicht Putins im weitesten Sinne erreichen, denn der nationale Widerstand würde sich dann nicht mehr gegen Russland, sondern in alter Tradition wieder gegen Polen richten. Übrig bliebe eine kümmerliche Restukraine um Kiew, die so schwach wäre, dass sie für Russland keine Gefahr mehr darstellen würde und die gleichzeitig die erwünschte Pufferfunktion zu den Nato-Nachbarn bieten könnte. Die Nato wiederum würde zwar nicht die ganze Ukraine zu sich holen, aber zumindest die abgetrennte und von Polen einverleibte Westukraine. Aus reiner Sicht der Macht, und nur um diese geht es bei diesem Krieg, wäre dies eine win-win-Situation. Was der Ukraine demnach bevorstehen könnte, wäre ein Schicksal, welches ausgerechnet Polen selbst leidvoll erfahren hat: Die Aufteilung unter seinen Nachbarn.

JAMES B., 23. Mai 2022, 05:45 UHR

Das Aufreiben der ukrainischen Armee, die zunehmend altert und der täglich bis zu 500 Soldaten verlorengehen, geschieht derzeit in Zeitlupe. Deutsche Mainstream-Käseblätter feiern das als "beeindruckenden Widerstand", die Jeder-Schuss-ein-Russ-Drehstuhlgenerale in den Redaktionen werten das als Beweis der Chancenlosigkeit der russischen Kräfte, obwohl man bei nüchterner Betrachtung getrost von einer Verlustquote von 10:1 zulasten der Ukraine ausgehen kann. Die Verdrehung der Tatsachen im Mainstream toppt sogar die Corona-Berichterstattung.

Da ist dieser Artikel mal wieder eine wohltuende Abwechslung, der meines Erachtens aber den zweiten Schritt vor dem Ersten macht, denn das Jetzt kommt mir darin zu kurz und liefert teilweise — sorry — absurde Vorstellungen, etwa die von russischen Ergänzungskrediten. Wofür? Im russischen Netz gilt die Ukraine als 404, als "strana nye naidu", Seite/Land nicht gefunden. "Die Ukraine" wird es nach Operation Z nicht mehr geben.

Offene Fragen, die dringend beleuchtet werden müssen: Wie lange kann der Westen die sich selbst schädigenden Sanktionen aufrechterhalten, ehe die Wirtschaft irreparable Verluste erleidet? Wie lange kann der Westen die Ukraine am finanziellen Tropf mitversorgen? Ursprünglich hätten beim letzten G7-Treff 30 Mrd. USD herausspringen sollen, geeinigt hat man sich auf gerade mal 19; schwächelt der Westen schon jetzt, nach nur 3 Monaten Sanktionen? Ist der Schmerz so groß, dass mit Blick auf drohende innere Unruhen (wenn es um den Geldbeutel, Essen, Mobilität und ein Dach überm Kopf geht, geht es ganz schnell dahin mit der Ukraine-"Solidarität") das nächste Pandemie-Fass mit den Affenpocken aufgemacht werden muss, um die Bevölkerung mit Angst in Schach zu halten? Die Entwicklung der Aufmacher und Überschriften der letzten Monaten war interessant, die der nächsten Monate wird interessanter.

Auch im Kreml sieht man das. Motto nach Napoleon: Störe den Feind nicht, so lange er Fehler macht. Im Kontext des "heroischen Widerstands" bis zum letzten ukrainischen Soldaten gibt Russland nicht nur die Intensität vor, sondern auch das Tempo der Operation. So lange der Westen so weitermacht, so lange wird auf Zeitlupe gedrosselt, denn jeder weitere Tag kostet die Ukraine Moral, den Westen Milliarden (und Glaubwürdigkeit samt Durchhalteparolen) und spült paradoxerweise weitere Milliarden in die russische Staatskasse — diese werden für Forschung und Entwicklung zum Ausbau der Unabhängigkeit vom Westen gebraucht, aber auch für den Wiederaufbau der befreiten Gebiete, die allein nach russischer Vorgabe unter Berücksichtigung der Wünsche der Bevölkerung erfolgen wird. Da wird der Westen außen vor sein.

So soll in Donezk etwa ein neues Asphaltwerk gebaut werden, aber Asovstal nicht wiederaufgebaut werden, weil es eine Umweltkloake noch und nöcher war — ArcelorMittal darf schon mal auf Steuerzahlerkosten abschreiben, während die Mariupoler entscheiden, ob dort ein Technologiepark oder ein Erholungsgebiet entstehen soll. Der Westen wird sehen dürfen, was er mit der um Lemberg verbliebenen Rumpfukraine macht — Polen denkt laut über eine Annexion nach ("keine Grenze mehr zwischen Polen und der Ukraine"). Doch aus Brüssel hört man über dieses "Neuziehen von Grenzen nach dem Zweiten Weltkrieg" so wenig wie vor 14 Jahren zum Kosovo, denn das darf nur der Westen.

Das Zeitlupentempo im Donbass verschafft übrigens auch China Zeit zur Klärung wichtiger Fragen und zur Generalprobe, etwa:

(-) Ausstieg aus WTO und WHO, synchron mit Russland;
(-) Umgang mit westlichem Intellectual Property / Patente vis-à-vis Sanktionen;
(-) Feinschliff bei Übungen zur Einnahme und Integration von Taiwan.

Letzteres wäre für Russland ein willkommenes Ablenkungsmanöver, um die mit der aufgelösten UdSSR verlorenen Landbrücke nach Kaliningrad wiederherzustellen. Letztlich qualifizieren sich derzeit nicht nur die baltischen Kleinstaaten als Kandidaten zur Denazifizierung — eine kriegsgeile Marie-Agnes Strack-Zimmermann als Lambrecht-Nachfolgerin gepaart mit Schattenkanzler Merz könnte auch Deutschland wieder in seine traditionelle Rolle als Kriegstreiber und -verlierer zurückbefördern.

Artikel:

"Je länger dieser Zustand andauert, desto wahrscheinlicher ist es, dass es zu einer Eskalation und Ausweitung des Krieges auf andere Länder – wie Moldawien, Polen oder Weißrussland – und letztlich zu einem neuen Weltkrieg kommt."

Weißrussland unterliegt bereits dem westlichen Sanktionsregime, da es als Kriegspartei angesehen wird. Der Artikel nimmt fälschlicherweise auch an, von der Leyen und Biden müssten nur die Order aufgeben, und Boeing, Rheinmetall, Saab usw. könnten von jetzt auf gleich ihre Rüstungsproduktion von 1 auf 100 hochfahren, nachdem bereits Jahrzehnte an Produktion in wenigen Monaten in der Ukraine in Luft aufgelöst wurden.

Die geballte NATO war doch schon mit 20 Jahren Afghanistan völlig überfordert und hat auch gar nicht mehr die Kapazität zu einem konventionellen Weltkrieg, außer bei ideologisch gefestigten Traumtänzern wie Sönke Neitzel und anderen Fernsehexperten, die die Zahl der Soldaten, Panzer und Flugzeuge für taugliche Vergleichswerte halten. Wer die Wahrheit sagt, fliegt — siehe Vizeadmiral Kay Schönbach.

P.S. An die Krieg-bringt-nur-Leid-und-Zerstörung-Fraktion der Entsetzten: Wo war euer Entsetzen in den letzten 8 Jahren bei den mehr als 20 Tausend Toten im Donbass durch die ukrainische "Anti-Terror-Operation"?

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