Kujat: „Diesen Krieg kann niemand gewinnen“
15. September 2024Der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, warnt vor einer weiteren Eskalation des Ukraine-Krieges. In einem Expertentalk mit Michael Clasen von der Neuen Osnabrücker Zeitung beantwortete Kujat am Donnerstagabend (12. September) live die Fragen der Leser und Zuschauer. Dabei ging er auch auf die mögliche Aufhebung der Reichweitebegrenzung von Raketen durch die USA und Großbritannien ein. Diese wird vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskij gefordert und derzeit diskutiert. Kujat, der bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses war, sieht darin einen „erheblichen Eskalationsschritt zur Erhöhung der Kampfhandlungen“.
Eskalationen seien nie einseitig. Wenn der Druck auf Russland erhöht werde, dann werde Russland den Druck auf die Ukraine erhöhen. So hatte Russlands Präsident Wladimir Putin bereits Gegenmaßnahmen angekündigt, sollten Raketen mit westlicher Unterstützung sein Land angreifen. Kujat stellte einer weiteren Eskalation die Notwendigkeit von Verhandlungen entgegen. Die Frage sei, wer in die Eskalationsspirale eingreift. Der Luftwaffengeneral a.D. verwies auf den Vorschlag Chinas, die Verhandlungen dort fortzuführen, wo sie 2022 in Istanbul abgebrochen worden waren. Dies sei schwierig aber immerhin ein Anfang.
Kujat richtete sein Augenmerk auf die Kriegsziele der beiden beteiligten Großmächte USA und Russland, denn: „Einen Krieg gewinnt man dann, wenn man die politischen Ziele erreicht, derentwegen man diesen Krieg führt.“ Die ursprünglichen Kriegsziele beider Seiten seien nicht mehr realistisch. Russland sei dabei gescheitert, die weitere Ausdehnung der NATO zu stoppen und eine Pufferzone zu schaffen – dies zeige der Beitritt Schwedens und Finnlands. Der Westen sei aber seinerseits dabei gescheitert, Russland zu schwächen. Kujat verwies auf den Aufschwung der Wirtschaft und die Stärkung der Streitkräfte in Russland. „Diesen Krieg kann niemand gewinnen“, sagte Kujat, der immer wieder auf die Notwendigkeit von Realismus und Verhandlungen hinwies. Dies bedeute nicht, die Unterstützung der Ukraine aufzugeben oder die Aggression Russlands zu negieren. Auch bei Verhandlungen müsse der Westen die Ukraine unterstützen.
Laut Kujat sind von beiden Seiten hohe Hürden für neue Verhandlungen aufgerichtet worden. Auf russischer Seite sei dies die Annexion von Teilen der Ukraine, auf ukrainischer Seite das Verbot von Verhandlungen mit Russland. „Entscheidend ist deshalb, dass diese Vorbedingungen nicht aufrecht erhalten werden“, sagte Kujat. Ein Ergebnis wie in Istanbul im April 2022 könne nicht mehr erzielt werden. Grund hierfür sind für Kujat vor allem die Erfolge Russlands auf dem Schlachtfeld. Angesichts der militärischen Lage sei der „10-Punkte-Friedensplan“ Selenskijs illusorisch. Wenn Bundeskanzler Scholz sich dafür ausspreche, sei das ein „Irrweg“, sagte Kujat. Scholz sollte wie Indien und andere Staaten den chinesischen Vorschlag unterstützen, den Selenskij diese Woche erneut abgelehnt hat.
Kommt es nicht zu Verhandlungen, erwartet Kujat eine „katastrophale militärische Niederlage“, zu der auch der Westen einen Beitrag geleistet habe. Außerdem könne es für die Unterstützung der Ukraine durch die USA ein Verfallsdatum geben, wenn im November Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wird. Die Russen marschierten auf dem Schlachtfeld immer weiter vor. Ihr Ziel sei die Einnahme der vier Donbass-Regionen.
Kujat zufolge versucht die Ukraine im Gegenzug, auf russisches Gebiet vorzudringen und jetzt mit Raketen mit größerer Reichweite den Krieg noch weiter nach Russland zu tragen. Ziel sei es, die russische Bevölkerung gegen den Krieg aufzubringen. Dies sei eine Möglichkeit, die drohende Niederlage abzuwenden. Die zweite wäre gewesen, den Gegner von wichtigen Nachschublinien abzuschneiden, wie es die Ukraine im vergangenen Jahr versucht hat. Dies sei aber gescheitert. Kujat machte deutlich, dass der Krieg der ukrainischen Bevölkerung viel abverlangt. Aus ihrer Sicht seien Verhandlungen unabdingbar. Andernfalls sieht er die Gefahr einer weiteren Eskalation bis hin zu einem „Point of no return“ zwischen den Großmächten und damit letztlich einem Dritten Weltkrieg.
Kujat erinnerte auch an die Vorgeschichte, an der er als Vorsitzender des NATO-Russland-Rates beteiligt war. Damals habe man versucht, einen Ausgleich zwischen dem Westen und Russland zu erzielen. Als Wendepunkte bezeichnete er zwei Daten. Zum einen die Kündigung des ABM-Vertrags durch die USA im Jahr 2002 und zum anderen den Versuch von Präsident George W. Bush 2008, die Ukraine und Georgien mit „Brachialgewalt“ in die NATO zu holen. Bis heute sei keine Einladung an die Ukraine ausgesprochen worden, dem Bündnis beizutreten, erklärte Kujat. Dafür ist ein einstimmiges Votum aller Mitgliedstaaten erforderlich.
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