Juristen kritisieren staatliche Berufung von Meldestelle gegen „Hass“ und „Fake News“

Staatlich geförderte Meldestelle zu erstem „vertrauenswürdigen Hinweisgeber“ ernannt / Verfassungsrechtler fürchten Verstoß gegen Grundgesetz und „Ermutigung für Denunzianten“ / Deutliche Kritik auch in Leitmedien

9. Oktober 2024
Bonn.
(multipolar)

Juristen und Journalisten kritisieren die Zulassung des ersten „vertrauensvollen Hinweisgebers“ („Trusted Flagger“) durch die Bundesnetzagentur. Die Einrichtung von Meldestellen im Rahmen des „Digital Services Act“ (DSA) der Europäischen Union sei nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, sagen sie. Anfang Oktober hat die Bundesnetzagentur als zuständige Behörde die staatlich geförderte „Meldestelle REspect!“ als ersten „Trusted Flagger“ in Deutschland zugelassen. Digitale Plattformen wie etwa YouTube, Facebook, Instagram, Tiktok oder X sind verpflichtet, auf Meldungen der anerkannten Hinweisgeber sofort zu reagieren. Der Präsident der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, sagte anlässlich der Zulassung der Meldestelle: „Illegale Inhalte, Hass und Fake News können sehr schnell und ohne bürokratische Hürde entfernt werden.“

Besonders der Fokus auf „Hass“ und „Fake News“ wird von den Fachleuten kritisch beurteilt. Rechtswissenschaftler Volker Boehme-Neßler bemängelt auf Multipolar-Anfrage, dass die Arbeit der Meldestelle sich nicht auf rechtswidrige Inhalte beschränkt. Boehme-Neßler lehrt öffentliches Recht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und verweist darauf, dass die Meinungsfreiheit vom Bundesverfassungsgericht sehr weit interpretiert werde. Auch verfassungswidrige und verfassungsfeindliche Inhalte seien erlaubt. Wenn nun privatrechtliche Meldestellen etabliert würden, in denen Laien die Inhalte prüfen, dann sehen diese das normalerweise strenger als die Gerichte. „Stückchen für Stückchen wird die Meinungsfreiheit eingeschränkt“, sagt Boehme-Neßler. Er kritisiert zudem, dass mit den Meldestellen zur Denunziation ermutigt werde.

Der Verfassungsrechtler Arnd Diringer von der Hochschule Ludwigsburg sagte dem MDR: „Fake News ist letztlich nichts anderes als ein Kampfbegriff, der dann verwandt wird, wenn man versucht, unliebsame Meinungen aus dem politischen Diskurs zu drängen.“ Die immer wieder formulierte Aussage „Hass ist keine Meinung“ ist in seinen Augen „ganz gefährlicher Blödsinn“. Hass sei ein Gefühl, das in unserer Rechtsordnung geäußert werden kann.

Der ehemalige Richter und Mitglied des Netzwerks Kritische Richter und Staatsanwälte, Manfred Kölsch, verweist im Gespräch mit Multipolar darauf, dass die „Trusted Flagger“ nur ein „kleiner Baustein einer umfassenden Überwachungsorganisation“ seien. Diese werde im „DSA“ umfassend beschrieben. Kölsch hatte Anfang des Jahres in einem Aufsatz das EU-Gesetz ausführlich analysiert.

Der WDR strahlte ein kritisches Interview mit dem Medienjournalisten Peter Welchering aus. Die Tageszeitung „Die Welt“ kritisierte die Entstehung einer Art „Paralleljustiz“ mit Rückendeckung der EU, die „unter Umgehung der zuständigen rechtsstaatlichen Institutionen die Debattenlandschaft aufräumt“. Die Neue Zürcher Zeitung schreibt, Auftrag der „Trusted Flagger“ sei, das Internet „im Auftrag der Bundesregierung nach unliebsamen Meinungen“ zu durchsuchen.

Auf der Plattform „X“ entwickelte sich Anfang der Woche ein Austausch zwischen dem Zeit-Journalisten Jochen Bittner und Bundesnetzagentur-Chef Klaus Müller. Auch Bittner interpretierte Müllers Aussage als verfassungswidrig. Dieser antwortete: „Da wir ‚illegal‘ auf ‚Inhalte, Hass & Fake News‘ bezogen haben, sehen wir keine Verfassungswidrigkeit.“ Bittner überzeugte die Kritik nicht, er unterstelle keine böse Absicht, aber: „Auf einem rechtlich und politisch derart sensiblen Gebiet muss man von einer Regulierungsbehörde Präzision erwarten.“

Die Meldestelle REspect! ist ein Projekt der „Stiftung zur Förderung der Jugend in Baden-Württemberg“. Sie wird durch die Landesregierungen von Baden-Württemberg und Bayern direkt und die Bundesregierung indirekt durch das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ gefördert. Multipolar fragte bei der Meldestelle nach, wie sie „Hass und Fake News“ prüfe und dafür sorge, dass ihr Vorgehen mit dem Grundgesetz übereinstimmt. Eine Antwort gab es nicht. Die Bundesnetzagentur verwies auf Multipolar-Nachfrage darauf, dass die Entfernung von Inhalten durch „eine außergerichtliche Streitbeilegungsstelle und/oder ein Gericht überprüft werden“ könne. Manfred Kölsch entgegnet, dass unklar sei, wer überhaupt für eine juristische Prüfung zuständig ist. Der Weg durch die Instanzen sei in jedem Fall lang und teuer. „Ich sehe nicht, wer das machen wird.“ Volker Boehme-Neßler ergänzt: „Es gibt eine Flut von Meldungen, da kommt kein Gericht hinterher.“

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