Buchempfehlungen

Thomas Bernhard

Holzfällen

Der 1984 erschienene Roman des Österreichers wurde nach seiner Veröffentlichung im Zuge eines Rechtsstreits verboten, weil sich frühere Bekannte Bernhards wiedererkannt hatten. Der Autor lässt im Ohrensessel sitzend und auf den Beginn eines „künstlerischen Abendessens“ wartend kein gutes Haar an ihnen. Dabei geht es um mehr als nur Persönliches: um Liebe, Hass, Verrat, Ausbeutung, den Tod und nicht zuletzt die Kunst. Den Erzähler erfasst bei seinem inneren Monolog eine immer größer Erregung, doch der Gang durch seine Stadt Wien versöhnt ihn schließlich: „dass diese Menschen, die ich immer gehasst habe ..., doch die besten Menschen sind, dass ich sie hasse, aber dass sie rührend sind, ... dass ich diese Menschen verfluche und doch lieben muss ... und dass diese Menschen meine Menschen sind und immer meine Menschen sein werden.“

Suhrkamp, 336 Seiten, 12 Euro
Ernest Backes / Denis Robert

Das Schweigen des Geldes

Der Wertpapierverwahrer Clearstream dient Banken zur internationalen Verrechnung ihrer Geschäfte. Einer der Gründer des Vorläufers Cedel packt in diesem vor mehr als 20 Jahren erschienenen Buch darüber aus, wie das Institut für seine Kunden „unsichtbare Konten“ führte, mit denen sich Transaktionen besser verbergen ließen und von deren Existenz nur ein kleiner Kreis von Insidern wusste. Das Buch, das damals eine politische Affäre auslöste, schildert auch einen Machtkampf europäischer und amerikanischer Banken um solche Geheimpraktiken. Mitgründer und Chef Gérard Soisson starb 1983 eines ungeklärten Todes. Nicht im Buch enthalten: Das Nachfolgeunternehmen Clearstream verwaltet bis heute die Zinszahlungen des Deutschen Staates an seine Gläubiger – deren Namen der Öffentlichkeit nicht bekannt sind.

Pendo, 380 Seiten
Hans Erich Nossack

Bereitschaftsdienst

In Deutschland wütet eine Selbstmord-Epidemie. Die Regierung ergreift präventive Maßnahmen; unter anderem werden Schulen geschlossen. Hans Erich Nossacks fiktionaler Bericht aus dem Jahr 1973 erinnert an die Zeit der Corona-Politik, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen. Auch der als Ich-Erzähler auftretende Chronist berichtet rückblickend vom Versagen der Wissenschaft, von der Deutungsmacht „moralisierender Besserwisser“, von manipulativer Berichterstattung und getürkten Statistiken. Der Unterschied: In dem schmalen Literaturwerk ist die Gefahr real, und die Behörden tun alles, um sie herunterzuspielen. „Die Zahlen waren so falsch wie die Zahlen der Wahlergebnisse unter Diktaturen“, heißt es. Vor dem Hintergrund der RKI-Protokolle erweist sich das Buch als geradezu prophetisch.

Suhrkamp, 153 Seiten, 14 Euro
Peter Schneider

Der Mauerspringer

Die 1982 erschienene Erzählung handelt von Menschen im geteilten Berlin und endet mit der Feststellung: „die Stadt da draußen mit ihren Brandmauern, Hinterhofmauern, Grenzmauern – diese Mauern werden noch stehen, wenn niemand mehr da sein wird, der durch sie hindurchgehen könnte.“ Ein Grund dafür ist der wiederkehrende Streit des Ich-Erzählers aus dem Westen mit dem aus dem Osten stammenden Robert. Dieser hat gelernt, „zwischen den Zeilen zu lesen“. Der Ich-Erzähler hält dies für einen Wahn, der den Vorteil hat, „dass an allem, was geschieht, etwas Äußeres Schuld hat“. Dem stellt er seinen eigenen Wahn gegenüber und fragt sich: „Was würde ich anfangen, wenn ich aufhören würde, die Schuld im Prinzip eher bei mir als beim Staat zu suchen, wie ich es gelernt habe?“ Die Antwort gibt er selbst: „Mein Wahn, wenn es denn einer ist, verspricht auf dieser Seite der Mauer jedenfalls eher Erfolg.“

Rowohlt, 128 Seiten, 14 Euro
Barbara Tuchman

Die Torheit der Regierenden

Warum handeln Herrschende trotz Kritik und Warnungen geradezu stur gegen eigene Interessen? Die US-Historikerin Barbara Tuchman untersuchte das gar nicht so seltene Phänomen in diesem 1984 erschienenen Buch anhand von vier konkreten Beispielen von Antike bis Moderne – darunter der Vietnam-Krieg. Sie definiert dazu drei Kriterien, die erfüllt sein müssen, um von „Torheit“ zu sprechen: Die selbstschädigende Politik muss bereits von Zeitgenossen erkannt worden sein, es muss eine praktikable Alternative gegeben haben und es muss mehr als nur eine Person für die selbstschädigende Politik verantwortlich sein. Tuchman identifiziert mehrere erklärende Faktoren. Klar wird aber: Die Engstirnigkeit von Herrschenden, reale Entwicklungen zu ignorieren und stattdessen an vorgefassten falschen Ansichten festzuhalten, spielt eine überragende Rolle.

Fischer, 552 Seiten, 25 Euro
Nikos Kazantzakis

Alexis Sorbas

„Alexis Sorbas“ ist vielen bekannt durch die Verfilmung mit Anthony Quinn und die Musik von Mikis Theodorakis. Weniger bekannt ist, dass das 1946 erschienene Werk des griechischen Autors Nikos Kazantzakis auf einer wahren Begebenheit beruht. Der Roman erzählt die Geschichte einer Freundschaft der besonderen Art. Denn der intellektuelle Schriftsteller, oder die „papierverschlingende Maus“, wie Sorbas seinen „Chef“ nennt, ist der Schüler. Lehrer ist der einfache Mann aus dem Volk voller Lebensweisheit – Alexis Sorbas. Als das gemeinsame Projekt, eine Kohlemine auf Kreta, die Sorbas als Vorarbeiter leitete, sprichwörtlich den Bach runter geht, bittet der „Chef“ ihn um die letzte Lektion: „Lehre mich tanzen!“. Vielleicht die wichtigste überhaupt, denn schon Nietzsche, von dessen Werk Kazantzakis beeinflusst war, meinte, dass man das Leben tanzen muss.

Piper, 352 Seiten, 14 Euro
Sonja Silberhorn

Im Schatten des Waldes

Menschenknochen und ein Mordfall während der Corona-Krise: In ihrem Kriminalroman betraut Sonja Silberhorn nicht nur eine Beamtin mit der Ermittlung, sondern verarbeitet zugleich die gesellschaftlichen Verwerfungen jener Zeit. Eine unrühmliche Rolle spielt dabei ein Journalist, der die Ressentiments gegenüber Maßnahmenkritikern hochkochen lässt. Diese wohnen auf einem Selbstversorgerhof, wo die Menschenknochen gefunden werden. Die meisten Dorfbewohner sind sich sofort sicher, dass nur die „Schwurbler“ den Mord begangen haben konnten. Doch der Fund führt in die NS-Zeit. Silberhorn webt zwei Handlungsstränge und verknüpft sie so geschickt, dass der Subtext die Mordaufklärung überlagert: Die Unterdrückung oppositioneller Stimmen könnte totalitäre Früchte tragen wie in der Vergangenheit.

KaMeRu, 400 Seiten, 19 Euro
Mathias Brodkorb

Gesinnungspolizei im Rechtsstaat?

Der ehemalige SPD-Landesminister Mathias Brodkorb hat sich intensiv mit dem Verfassungsschutz beschäftigt, dem im aktuellen Zensur- und Demokratie-Management eine herausragende Aufgabe zukommt. Die Behörde entscheidet, wen sie als potenziell verfassungsfeindlich überwacht. Brodkorb stellt sechs Fälle vor und schaut dabei zu „Linksextremen“ wie „Rechtsextremen“. Er nimmt den Begriff der „Delegitimierung des Staates“ wie auch des „Extremismus“ als solchen auseinander. Nebenbei arbeitet er noch lehrbuchhaft heraus, welche Volksbegriffe das Grundgesetz hergibt. Der Verfassungsschutz erscheint in seinem Buch als „Verschwörungstheoretiker im Auftrag des Staates“. Er ist aus Sicht des Autors nicht reformierbar und verhindert zudem die echte politische Auseinandersetzung mit Argumenten.

Zu Klampen, 248 Seiten, 25 Euro
Eugen Zentner

Kunst und Kultur gegen den Strom

Das Sachbuch des Literaturwissenschaftlers Eugen Zentner kann auch als Nachschlagewerk der sich in Folge der Corona-Krise neu formierenden Kunstszene gelesen werden. Der Autor erklärt, dass viele neue, zum Teil aber auch bekannte Gesichter die Lücke füllen, die „nach oben buckelnde und nach unten tretende“ etablierte Künstler während Corona hinterlassen haben. Kritische Künstler schwimmen gegen den Strom von Cancel Culture, Kontaktschuld und Sprachregeln, schreibt Zentner, der auch als Journalist tätig ist. Besonders schwer haben es Autoren, einen gesellschaftskritischen Roman zu veröffentlichen, denn sie finden praktisch keinen Verlag. Kabarettisten geht es nicht wesentlich besser, wenn ihre Texte auf Wissenschaftlichkeit geprüft werden, erklärt er. Der Komiker Nikolai Binner bringt sein eigenes Anliegen und das des Buches so auf den Punkt: „Wenn ich als Künstler die Wahrheit im satirischen Modus ausspreche, merken andere, dass sie nicht alleine sind.“

Massel, 196 Seiten, 21,50 Euro
Patrik Baab

Propaganda-Presse

Der Politikwissenschaftler und Journalist Patrik Baab hat lange für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gearbeitet. Erst kürzlich hat er 3sat und dem MDR Forschungsberichte über die Ursachen des Ukraine-Krieges zukommen lassen, mit dem er sich seit Jahren intensiv beschäftigt. Seine Erkenntnisse interessieren bei diesen Sendern jedoch niemanden, schreibt Baab. Vor allem bei der Auslandsberichterstattung prägen wenige westliche Nachrichtenagenturen die Informationsgebung. Eigene Recherchen sparen sich die Sender immer häufiger. Außerdem hoffen ihm zufolge viele Journalisten, die oft aus dem gehobenen Bürgertum stammen, den Aktienfonds der Eltern zu erben. Sie, die selbst nicht an die Front müssen, hätten somit ein finanzielles Interesse am Fortgang des Krieges. Aktuell führe dies dazu, dass „russophobe Schreibtisch-Krieger“ in den Redaktionen „mitverantwortlich für den Tod hunderttausender Menschen in der Ukraine“ sind.

Hintergrund, 128 Seiten, 14,80 Euro
Ingrid Robeyns

Limitarismus: Warum Reichtum begrenzt werden muss

„Alle, die Ungleichheit für ungerecht und unerwünscht halten, müssen die Einführung irgendeiner Form von Vermögensobergrenze unterstützen,“ betont die niederländische Philosophin und Ökonomin Ingrid Robeyns. Sie argumentiert, dass extremer Reichtum aus moralischer, politischer, ökonomischer, sozialer, ökologischer und psychologischer Hinsicht nicht zu rechtfertigen ist und allen Menschen – auch den Superreichen – schadet. Nicht zuletzt führe ein schrankenloser Reichtum zu Plutokratie und sei Gift für die Demokratie. In ihrem leidenschaftlichen Plädoyer erläutert Robeyns, dass die Begrenzung von Einkommen und Vermögen komplementär zum Mindestlohn ein wichtiges Werkzeug für die Reduzierung der Ungleichheit sei.

S. Fischer, 384 Seiten, 26 Euro
Klaus Gietinger

November 1918

In der Endphase des Ersten Weltkrieges brachen mehrere europäische Monarchien zusammen – in Deutschland war dies wesentlich Folge von Soldaten- und Arbeiteraufständen. Ziele der Aufständischen waren u.a. die Zerschlagung des preußischen Militarismus, das allgemeine Wahlrecht und die Vergesellschaftung von Unternehmen. Letztlich wurde wenig davon erreicht, denn die Revolutionäre trafen im Bürgerkrieg von 1918 bis 1920 auf eine völlig enthemmte Soldateska. Klaus Gietingers Buch ist auch eine Anklage gegen die damalige SPD-Führung um Friedrich Ebert, die keine Skrupel hatte, militante Rechtsextreme, von denen viele später in SA und SS aktiv waren, auf die Arbeiterschicht loszulassen. Der Schießbefehl des sozialdemokratischen Reichswehrministers Gustav Noske sei für die Freikorps nicht nur Blankoscheck für Terror und Massenmord im eigenen Land gewesen sondern auch Vorbild für Befehle Hitlers ab 1933.

Nautilus, 272 Seiten, 20 Euro
Eric Hoffer

Die Angst vor dem Neuen

Der US-amerikanische Autor und Autodidakt Eric Hoffer (1902-1983), der viele Jahre als Wanderarbeiter verschiedenste Berufe ausübte und so sein Selbststudium finanzierte, untersucht in diesem 1963 erschienenen Essayband (im Original: „The Ordeal of Change“) die Muster und Einflüsse sozialer und kultureller Veränderungen, etwa in China und der Sowjetunion. Besonders interessiert ihn, was ein Volk dazu bringt, sich gegen seine Regierung zu erheben und was es dazu treibt, passiv zu bleiben. Hoffer fragt auch nach dem Motiv der Menschen für ihren Hang zur Arbeit, das er in der „Angst vor dem Neuen“ sieht. Im Neuen trete das Unbekannte und damit die Freiheit vor den Menschen und bringe ihn aus dem Gleichgewicht. „Niemand wird behaupten wollen, die Mehrzahl der Menschen in der westlichen Welt ... finde in ihrer Arbeit Erfüllung. Was sich in ihr findet, das ist eine Rechtfertigung ihrer Existenz“, so Hoffer.

Rowohlt, 138 Seiten
Günter Verheugen, Petra Erler

Der lange Weg zum Krieg

Diese gut lesbare Analyse der Vorgeschichte des Ukraine-Krieges von Günter Verheugen, Urgestein der deutschen Politik mit jahrzehntelanger Erfahrung in der Außenpolitik, und Petra Erler, Kabinettschefin Verheugens in seiner Zeit als EU-Kommissar, lässt an einer russischen Kriegsschuld keinen Zweifel, kritisiert aber auch die westliche Politik massiv. Die verbreitete Überzeugung, das Konzept gemeinsamer Sicherheit sei falsch gewesen, ist nach Meinung der beiden Autoren „die falscheste Behauptung von allen“. Sie plädieren in ihrem ausgesprochen gut recherchierten Buch, das eine Reihe kaum bekannter Dokumente präsentiert, daher für Entspannung statt Eskalation. Denn „die Entspannung ist kein gescheitertes politisches Konzept. Gescheitert ist vielmehr eine Politik, die glaubt, auf Entspannung verzichten zu können und es notfalls auch auf einen Krieg ankommen zu lassen.“

Heyne, 336 Seiten, 24 Euro
Susan Neiman

Links ist nicht woke

Susan Neiman, US-amerikanische Philosophin und Direktorin des Einstein-Forums, hat jahrzehntelang gegen Diskriminierung und Rassismus gekämpft. Sie betont ausdrücklich, sie teile diese Ziele mit der woken Bewegung, kritisiert aber: „Woke haben sich vom linken Prinzip des Universalismus verabschiedet und einem rechten Tribalismus zugewandt.“ Die Aufklärung und ihre Denker wie Kant, Diderot und Voltaire sind Zielscheibe woker Kritik, weil diese nicht frei von Rassismus sind. Für Neiman wird damit das Kind aber mit dem Bade ausgeschüttet, denn es war gerade die Aufklärung, die sich im Widerstand gegen den herrschenden Geist gegen Rassismus und Diskriminierung ausgesprochen und hierfür das geistige Rüstzeug erarbeitet haben: „Ohne Universalismus gebe es überhaupt keine Argumente gegen Rassismus. Woke untergräbt das eigene Fundament.“ Neiman schließt mit dem Wunsch: „Heute ist nichts absurder als das Zerwürfnis zwischen Progressiven und Gleichgesinnten.“

Hanser Berlin, 176 Seiten, 22 Euro
Raymond Unger

Habe ich genug getan?

Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklung der vergangenen Jahre beschreibt der Autor den Weg seines Freundes Gunnar Kaiser (1976-2023) vom – in der Wahrnehmung vieler Medien – geschätzten Philosophen zum vermeintlichen Verschwörungstheoretiker. Kaiser, Autor der Spiegel-Bestseller „Der Kult – Über die Viralität des Bösen“ und „Die Ethik des Impfens“, war im vergangenen Jahr mit nur 47 Jahren an Krebs verstorben. Unger treibt die Frage um, inwieweit die Beschäftigung mit „toxischen Themen“ nicht nur Kaiser, sondern auch ihn selbst krank gemacht hat. Er benennt in diesem Zusammenhang Kaisers „blinden Fleck“: Es sei dem „brillanten Analytiker“ auf der persönlichen Ebene nicht gelungen, „zu einer Befriedung seiner verinnerlichten Schuld- und Leistungsgedanken“ vorzudringen.

Europa Verlag, 192 Seiten, 17 Euro
Margarete Daiber-Helmbold

Kind sein in Zeiten der Pandemie

„Was diese Zeit an seelischen Wunden hinterlassen wird, werden wir wohl in den nächsten Jahren erleben (…) Die Kleinsten werden uns jedenfalls niemals sagen können, was sie erlebt haben“, so Margarete Daiber-Helmbold, eine Kinderärztin und siebenfache Mutter, in diesem schmalen Büchlein, das die Corona-Zeit aus Sicht der Kinder Revue passieren lässt. Kurze reflektierende Texte und Briefe der Ärztin an Behörden lassen noch einmal das Ausmaß der Brutalität und in vielen Fällen auch des Wahns der „Maßnahmen“ deutlich werden. „Vergeben – nicht vergessen“, lautet der Untertitel – und das scheint auch dringend nötig, angesichts von Beobachtungen wie dieser: „Die enorme Zunahme der Suizidversuche auch jüngerer Kinder sind nur eine logische Schlussfolgerung der Ausweglosigkeit, in der sich viele Kinder befinden“.

BoD, 90 Seiten, 8,90 Euro
Ulrike & Tom Lausen

Die Untersuchung

Ein neuer Weg zur Aufarbeitung der Corona-Zeit: Die Autoren dieses Buches führen ein Gespräch mit der „künstlichen Intelligenz“ ChatGPT und fordern dabei im knappen und präzisen Stil eines Staatsanwalts, der einen sachkundigen Zeugen vernimmt, ihr (eloquentes) Gegenüber immer wieder heraus, indem sie es mit amtlich ermittelten Zahlen (oder auch deren Fehlen) konfrontieren. Die KI, die offensichtlich darauf trainiert ist, die Corona-Maßnahmen für richtig zu halten, rückt im Laufe des Gesprächs von ihrer Ursprungsposition ab. Das Buch kann damit als Vorlage einer Aufarbeitung dienen. Vorangestellt ist ein Essay der Autoren zur Spaltung der Gesellschaft, dessen besondere – und seltene – Qualität darin liegt, so formuliert zu sein, dass er weder Maßnahmenbefürworter noch -gegner vor den Kopf stößt. Damit eignet sich dieses Buch auch als Geschenk für Menschen mit anderer Ansicht und kann den Weg zu einem Dialog erleichtern.

Achgut Edition, 240 Seiten, 24 Euro
Florian Schwinn

Die Klima-Kuh

Dass die Kuh ein Klimakiller sei, weil sie das Treibhausgas Methan ausscheidet, ist für Autor und Journalist Florian Schwinn ein falsches Narrativ. Denn das Mehr an Methan in der Atmosphäre stamme „nicht von unseren Nutztieren, sondern von fossilen Brennstoffen.“ Von „Methanmilch“ könne keine Rede sein, insbesondere nicht bei Weidehaltung, wo die Menge an erzeugtem Methan viermal geringer sei als bei der Stallhaltung. Die 15.000 Liter Wasser, die für die Produktion eines Kilos Rindfleisch verbraucht würden, hält Schwinn für einen „neuen Mythos“. Zu diesem Verbrauch werde auch das Wasser im Gras gerechnet, das Kühe auf der Weide fressen. Rinder, mit denen der Mensch seit fast 12.000 Jahren zusammen lebt, seien alles andere als Klimakiller – sie könnten vielmehr im Zentrum einer umfassenden Agrarwende stehen, so der Autor.

Westend, 256 Seiten, 24 Euro
Kohei Saito

Systemsturz

Der japanische Philosoph Kohei Saito schlägt angesichts der Klimakrise radikal kapitalismus-kritische Lösungen vor. Nachdem er grünes Wachstum und technische Neuerungen als mögliche Antworten überzeugend widerlegt hat, findet er in den Notizheften des späten Marx Ideen: Dessen Kommunismus „war eine egalitäre und nachhaltige Degrowth-Wirtschaft.“ Dabei besteht Saitos Lösungsvorschlag aus fünf Punkten: „Wandel zur Gebrauchswertwirtschaft“, „Verkürzung der Arbeitszeit“, „Aufhebung uniformer Arbeitsteilung“, „Demokratisierung des Produktionsprozesses“ sowie „Fokus auf systemrelevante Arbeit“. Im Zentrum soll hierbei Marx’ Idee der öffentlichen Güter stehen, die von Menschen demokratisch verwaltet werden. Saitos erklärtes Ziel: „Mit diesem »Systemsturz« könnten unsere Fantasie und Vorstellungskraft befreit werden, damit wir im Zeitalter der Klimakrise eine bessere Gesellschaft erschaffen.“

dtv, 320 Seiten, 25 Euro
Michael Meyen

Cancel Culture

„Ich bestreite, dass es eine Cancel Culture gibt“, zitiert Meyen einen renommierten Soziologen – und setzt in diesem Buch zur Widerlegung an, analytisch wie anekdotisch. Meyen spricht von einer „Zensur ohne Zensor“. Das Phänomen gehe „von denen aus, die gerade die Deutungshoheit haben“, weshalb es auch eher diejenigen sehen würden, „die nicht dazugehören“. Nebenbei erläutert der Autor, dass es sich bei der Idee einer „vierten Gewalt“, also der Vorstellung, dass Leitmedien (früher einmal) als Gegenpart zur Macht agierten, von jeher um eine Illusion handle, popularisiert in den 1950er Jahren durch des Hausanwalt des westdeutschen Verlegerverbandes. Meyen kritisiert in seinem kompakten und faktenreichen Buch außerdem neue journalistische Ideale („konstruktiver“ und „transformativer“ Journalismus), „die den Keim der Belehrung“ in sich trügen, sowie einen „Gestus der Überlegenheit“, was beides „Treiber der Cancel Culture“ seien.

Hintergrund, 88 Seiten, 10,90 Euro
Josef Winkler

Die Ukrainerin Njetotschka Iljaschenko erzählt ihre Geschichte

Ein Buch über das schwere Dasein eines unglücklichen Volkes. 1981 schrieb der österreichische Schriftsteller Josef Winkler die Erinnerungen einer Bäuerin auf, die als Jugendliche 1943 zusammen mit ihrer Schwester von den Nazis aus der Ukraine zur Zwangsarbeit nach Kärnten verschleppt wurde und dort blieb. Tatsächlich ist es nicht die Geschichte einer Frau sondern zweier Frauen, um die sich das Buch dreht. Njetotschka, die in Wirklichkeit Valentina hieß, erzählt ganz wesentlich auch die Geschichte ihrer Mutter Hapka, die in der Ukraine blieb und keine der beiden Töchter bis zu ihrem Tod 1974 wieder sah. Hapkas Foto ist vorn auf dem Buch abgebildet, ihre emotionalen Briefe an die Tochter in Österreich beschließen es. Leser begreifen durch die intensiven Erzählungen vom Leben am Dnjepr in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das traumatische Schicksal einfacher Ukrainer.

Suhrkamp, 332 Seiten, 14 Euro
Donn R. Grand Pre

Confessions of an Arms Peddler

Donn Grand Pre (1926-2009), Ex-Oberst der US Army, wurde 2004 durch ein Interview bekannt, in dem er erklärte, die am 11. September 2001 entführten Flugzeuge seien in einer komplexen Militäroperation ferngesteuert worden – 9/11 stünde in einem Kontext mit einer damals drohenden Finanzkrise. Grand Pre kannte das Pentagon von innen. Bis in die 1970er Jahre hatte der Militär in hoher Position für die US-Regierung weltweit Waffen verkauft, die das Pentagon nicht mehr benötigte, bevor er seinem Leben eine Wendung gab und den Dienst quittierte. Seine damaligen Erfahrungen verarbeitete er in diesem 1979 erschienenen Roman, in dem die Welt eines elitären Waffenhändler-Jetsets und dessen korrumpierender Macht, die ihn selbst lange in ihren Bann zog, farbig und authentisch beschrieben wird.

Chosen Books, 202 Seiten
Thomas Asbridge

Die Kreuzzüge

Der erste Kreuzzug (von 1096 bis 1099) erschuf ein geopolitisch interessantes Phänomen: Die Kreuzfahrerstaaten des 12. und 13. Jahrhunderts waren eine religiöse und ethnische Exklave im Nahen Osten, die von Muslimen umringt, letztlich nur durch militärische Stärke und Versorgung aus dem Abendland existieren konnten. In diesem Standardwerk beschreibt der britische Mittelalter-Historiker Thomas Asbridge das mehr als 200 Jahre existierende Phänomen der Kreuzzüge mit seinen machtpolitischen, religiösen und finanziellen Hintergründen. Die muslimische Perspektive spielt im Buch eine ebenso große Rolle wie die christliche. Es geht nicht nur um militärische Entwicklungen, sondern auch um die Lebensbedingungen in der Region. Die Lateiner herrschten als elitäre Minderheit über die ortsansässige Bevölkerung. Sie wollten und konnten keine friedliche Koexistenz mit den Einheimischen aufbauen und wurden von muslimischen Armeen Schritt für Schritt wieder aus dem Heiligen Land geworfen.

Pantheon, 813 Seiten, 20 Euro
Katja Hoyer

Diesseits der Mauer

Von Spiegel bis SZ schäumten die Leitmedien über dieses Buch einer jungen deutschen Historikerin, die in England lebt. Es beschönige das Leben in der DDR, so einer von mehreren Vorwürfen. Dabei verschweigt Katja Hoyer die negativen Seiten überhaupt nicht: Mauertote, Stasi-Aktivitäten, Mangelwirtschaft – das alles und noch mehr wird umfassend behandelt. Was die westdeutschen Medien wirklich stört, ist, dass Hoyer ebenso aufzeigt, wo die DDR der BRD voraus war. Die höchste Frauenbeschäftigungsquote weltweit, ein Drittel Arbeiterkinder an Universitäten, ein Leben ohne materielle Existenzängste, höchst erfolgreiche Entwicklungshilfeprojekte in der „Dritten Welt“. Zudem erklärt die Autorin die Gründe für den Mangel, die oft in westlichen Blockaden oder sowjetischen Kürzungen bestanden – und wie die DDR-Führung dies zu beheben suchte. Darüber hinaus kommen viele normale Menschen zu Wort, die ihre Lebensumstände in der DDR schildern und das Buch deshalb lesenswerter machen als die üblichen Abhandlungen aus der West-Perspektive.

Hoffmann und Campe, 576 Seiten, 28 Euro
Daniil Granin

Das Gemälde

Ein Bürokrat mit hoher Leitungsverantwortung, geradlinig, dynamisch und voller Schaffenskraft, aber ohne jeden Sinn für Kunst, gerät bei einem Arbeitsbesuch in der Hauptstadt zufällig aufgrund heftigen Regens in eine Gemäldegalerie. Für ihn selbst schwer begreiflich rührt ihn eines der Bilder emotional stark an. Seine darauf folgende Verwirrung krempelt nach und nach sein gesamtes Leben um. Er stellt Nachforschungen an, will das Bild für seine Stadt erwerben, verstrickt sich in Diskussionen, später Kämpfe und setzt schließlich seine politische Karriere aufs Spiel. Granins 1980 in der Sowjetunion erschienener, elegant aufgebauter Roman ist von zeitloser Kraft und Brillanz – eine Parabel über das Wesen der Kunst und die Folgen ihrer Negierung, aber auch ihrer politischen Instrumentalisierung, geschrieben mit Wärme und Sympathie für die Figuren.

Volk und Welt, 466 Seiten
Vejas Gabriel Liulevicius

Kriegsland im Osten

„Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“: Dieses Buch ist eine Fallstudie über einen sehr intensiven Versuch, einem anderen Volk das deutsche Wesen aufzuzwingen. Das Werk des US-Historikers Liulevicius handelt vom Gebiet „Ober Ost“, das Litauen sowie Teile Lettlands und Weißrusslands umfasste, und während des Ersten Weltkriegs vom Deutschen Reich annektiert worden war. Hier trafen deutsche Angst und Abscheu vor Osteuropa mit dem Bedürfnis zusammen, die Region auszubeuten und die Einwohner zu beherrschen. Das Besondere dabei war die Einführung eines umfassenden Kontrollsystems aus Verboten, Verordnungen, Strafen, Pässen und Zwangsimpfungen. Man wollte „den Osten“ reinigen und ordnen – und baute darauf die später wirksamen Konzepte von Raum und Rasse auf. Lehrreich zudem sind die Erläuterungen des Autors zur Entwicklung der Geopolitik als deutscher Disziplin.

Hamburger Edition, 374 Seiten, 20 Euro
Lion Feuchtwanger

Die Jüdin von Toledo

Im späten 12. Jahrhundert holt Alfonso VIII., König von Kastilien, den jüdischen Politiker und Geschäftsmann Jehuda Ibn Esra aus dem damals noch muslimischen Süden Spaniens an seinen Hof nach Toledo. Der neue Kanzler bringt seine beiden Kinder mit: der Sohn wird Page und die jugendliche Tochter bald Geliebte des ehrgeizigen, kriegslüsternen Königs. Feuchtwangers Buch ist weit mehr als eine historische Liebesgeschichte – sie zeigt den tragischen Verlauf verzweifelter Friedensbemühungen vorausschauender Menschen im Spannungsfeld religiöser Dispute, militärischer Machtexpansion und mörderischer Intrigen. Ebenfalls hervorragend: das Nachwort Feuchtwangers von 1955, in welchem er vor der Heldenverehrung als Säule moderner, westlicher Gesellschaften warnt. Ritter und andere militärische Falken seien keine glänzenden Helden, sondern „närrische Zerstörer“.

Aufbau, 511 Seiten, 16 Euro
Richard Overy

Weltenbrand – Der große imperiale Krieg 1931–1945

Der Zweite Weltkrieg als das letzte Aufbäumen des Imperialismus – das ist die große These des Historikers Richard Overy. Er zeichnet ein globales Bild des Kriegs, in dem die Achsenmächte ebenso wie die Alliierten danach strebten, Imperien zu festigen, zu verteidigen, zu erweitern oder auch erst zu schaffen. Das begann schon vor 1939: mit dem japanischen Einfall in die Mandschurei, der italienischen Expansion nach Ostafrika, dem Spanischen Bürgerkrieg. Der Krieg im Pazifik gerät bei Overy deutlich stärker in den Blick als in vielen anderen Darstellungen. Ein neuer Ansatz, zu dem Overy in einem Interview sagt: „Die meisten Geschichten des Zweiten Weltkriegs sind zu eurozentrisch, ja zu deutschzentrisch. Man muss das Zeitalter aber als ein globales System betrachten, das von den 30er-Jahren an in eine Krise gerät und zusammenbricht. Diese Krise wird 1945 durch den alliierten Sieg beendet, und dann beginnt der Aufbau einer neuen Weltordnung.“

Rowohlt Berlin, 1520 Seiten, 48 Euro
Benny Morris

1948 – Der erste arabisch-israelische Krieg

In den1980er Jahren – verbunden mit der Öffnung heimischer und internationaler Archive – traten in Israel Historiker auf den Plan, die der vielfach mythologisierten Geschichte des Landes einen klaren und dokumentarischen Blick entgegensetzten. Man nannte sie die „neuen Historiker“, obwohl sie nie eine homogene Gruppe bildeten und untereinander erhebliche Differenzen hatten und Kontroversen austrugen. Gemeinsam war ihnen das Ziel, die Geschichte Israels und des Zionismus einer Revision zu unterziehen. Zu ihnen zähl(t)en u.a. Tom Segev, Avi Shlaim, Ilan Pappe – und Benny Morris. Letzterer – bislang kaum ins Deutsche übersetzt – sticht durch seine rigorose Quellenorientierung und seine nuancierten Argumentationen hervor. In „1948“ beleuchtet Morris die Hintergründe und Ereignisse, die zum Ende des Britischen Mandats in Palästina, zur Zersplitterung der arabisch-palästinensischen Gesellschaft und schließlich zur Geburt des Staates Israel führten.

Hentrich & Hentrich, 620 Seiten, 30 Euro
Ilan Pappe

Die ethnische Säuberung Palästinas

Jeder Konflikt hat eine Vorgeschichte: 1948 vertrieben jüdische Streitkräfte systematisch 800.000 Palästinenser, zerstörten 531 Dörfer und entvölkerten 11 bis dahin palästinensische Stadtteile von Haifa bis Jerusalem. Die Gründer Israels wollten einen Staat mit mindestens 80 Prozent jüdischer Bevölkerungsmehrheit schaffen. Das Buch des israelischen Historikers Ilan Pappe beginnt und endet mit der Fassungslosigkeit darüber, dass dieses Verbrechen vollständig aus unserer Erinnerung getilgt wurde. Die Vertreibungen gingen einher mit Massenhinrichtungen palästinensischer Männer nach vorbereiteten Listen, auch mehrere Massaker an Frauen, Kindern und Greisen, beschreibt Pappe. Die ethnische Säuberung, die in arabischen Ländern als „Nakba“ bezeichnet wird, zeigt einige Parallelen zu heute: die Entmenschlichung der Palästinenser, die Instrumentalisierung des Holocaust, das Versagen der UN und das bereitwillige Augenschließen des Westens.

Westend, 416 Seiten, 20 Euro
Philip Shenon

The Commission

Bücher über „Deep Events“ – geopolitische Ereignisse mit Langzeitwirkung, bei denen staatliche Strukturen im Verdacht der Täterschaft stehen – fallen meist in zwei Kategorien: „amtliche Darstellungen“ oder (von den Medien gemiedene) „Verschwörungstheorien“. Auch die gut 50 Sachbücher zu 9/11 lassen sich so einteilen. Das 2008 erschienene „The Commission“ des New York Times-Journalisten Philip Shenon ist eine Ausnahme. Dieses Buch, das sich auf eine Darstellung der Arbeit der offiziellen Untersuchungskommission zu den Anschlägen beschränkt, ist „kritischer Mainstream“ in der inzwischen nahezu ausgestorbenen Journalismustradition eines Seymour Hersh: Sachlich, fleißig, tiefgründig, solide. Shenon hat zahllose Beteiligte interviewt, sein Buch ist eine Fundgrube an relevanten, bis heute nahezu unbekannten Fakten, die man sonst nirgendwo findet. Die 9/11 Commission, soviel wird klar, war eine Farce. Eine Lektüreempfehlung insbesondere für Journalisten.

Twelve, 464 Seiten
David Talbot

Das Schachbrett des Teufels

Allen Dulles war CIA-Chef von 1953 bis 1961. Buchautor David Talbot beschreibt ihn als einen der „durchtriebensten Meister verborgener Machtausübung, die Amerika je hervorgebracht hat“. Dulles war nicht nur einer der Väter des Kalten Krieges, der viele Ziele der Nazis teilte und einen Spionagekrieg gegen die Sowjetunion führte. Er war auch verantwortlich für zahlreiche der bekanntesten CIA-Verbrechen der Geschichte: Putsch im Iran, Mord an Patrice Lumumba, Menschenversuche mit Drogen, Landung in der Schweinebucht. Dulles hinterging jeden US-Präsidenten, dem er diente. Viele halten ihn auch für den Drahtzieher hinter den Kennedy-Morden. Das Buch beleuchtet Dulles’ Lebensgeschichte – vom empathielosen Elitezögling, zum Nazi-nahen Wallstreet-Anwalt bis zum Geheimdienstchef, der die CIA als Folter- und Mordmaschine aufbaute. Er repräsentierte einen Teil der US-Machtelite, den es bis heute gibt.

Westend, 608 Seiten, 24 Euro
Joseph Roth

Reisen in die Ukraine und nach Russland

„Manchmal wird eine Nation modern. Griechen und Polen und Russen waren es eine Zeitlang. Nun sind es die Ukrainer. (…) Berlin, das Barometer westlicher Operettenmode, zeigt andauernd auf ‚Ukrainertum‘.“ 1920 schrieb der Schriftsteller Joseph Roth diese Sätze in einer Berliner Zeitung. Sie sind der Auftakt einer Serie kurzweiliger Reportagen von Reisen, die er in den 20er Jahren nach Lemberg (damals Polen) und in die Sowjetunion unternahm. Roth, der aus einer westukrainischen Kleinstadt stammte (damals Österreich-Ungarn), berichtet u.a. von der ethnischen Vielfalt der Region, die rund 20 Jahre später von Nazis und ukrainischen Nationalisten ausgerottet werden sollte, oder von einem Aufmarsch tausender Kriegsinvaliden in Lemberg – eine Parade wie eine „furchtbare Höllenphantasie“ derjenigen, „die am Heldentum zu Grunde gehen“. Und man fragt sich: Wird die Menschheit je aus der Geschichte lernen?

C.H. Beck, 136 Seiten, 14,95 Euro
Hermann Kant

Der Aufenthalt

Kurz vor Weihnachten 1944 wird der 18-jährige Drucker Mark Niebuhr zur Wehrmacht eingezogen und nach schneller Ausbildung an die Ostfront nach Polen geschickt. Nach wenigen Wochen wird er von der Roten Armee gefangen genommen. Als eine Frau in ihm fälschlicherweise den SS-Mann und Mörder ihrer Tochter erblickt, wird Niebuhr in ein Warschauer Gefängnis verfrachtet – ohne dass er wüsste, warum. Im Knast begreift der intelligente, aber naive junge Mann Schritt für Schritt wie mörderisch SS, Gestapo und Wehrmacht in Polen gewütet haben. Erlebnisse bei Arbeitseinsätzen sowie Gespräche mit polnischen Häftlingen, Verhörern und deutschen Kriegsverbrechern in der Gruppenzelle öffnen ihm die Augen über das Geschehene. Hermann Kant verwebt all dies mit Rückblicken Niebuhrs auf seine eher unpolitische Familie und Herkunft aus einem norddeutschen Dorf. Ohne Pathos und erzählerisch hochinteressant.

Aufbau, 600 Seiten, 14,99 Euro
Thomas A. Seidel/Sebastian Kleinschmidt (Hrsg.)

Angst, Politik, Zivilcourage – Rückschau auf die Corona-Krise

Gute Politik erkennt Gefahren, analysiert sie sachgerecht, ergreift angemessene Gegenmaßnahmen, die allgemeinverständlich kommuniziert und fortlaufend geprüft werden. Doch was passiert, wenn die Analyse fehlerhaft ist? Wenn Gegenmaßnahmen überzogen oder gefährlich sind? Wenn mediale Kommunikation die Angst noch befeuert? Wenn die notwendige Evaluation mangelhaft ist und folgenlos bleibt? 18 Autorinnen und Autoren blicken zurück auf die Krisenjahre. Sie schreiben über die Angst und ihre Profiteure – und über die Kraft und Bedeutung von Furchtlosigkeit und Zivilcourage.

Evangelische Verlagsanstalt, 309 Seiten, 38 Euro
Stefan Zweig

Die Welt von Gestern

Stefan Zweigs Generation musste in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Zeit andauernder Katastrophen durchmachen. Der österreichische Schriftsteller, der sich 1942 das Leben nahm, versammelt in diesem, seinem letzten großen Buch zahlreiche persönliche Erlebnisse, Analysen und Eindrücke dieser Jahrzehnte. Er schildert gesellschaftliche Normen und das Leben in verschiedenen Städten ebenso wie seine Begegnungen mit Politikern und Künstlern sowie Kriegserlebnisse, staatliche Zusammenbrüche und den Nazi-Aufstieg aus nächster Nähe. Über die kriegsbegeisterten Intellektuellen 1914 schreibt er: „Sie haben ehrlich gefühlt und meinten ehrlich zu handeln, diese Dichter, diese Professoren, diese plötzlichen Patrioten von damals (…). Aber schon nach kürzester Zeit wurde erkennbar, welches fürchterliche Unheil sie mit ihrer Lobpreisung des Krieges und ihren Haßorgien anstifteten.“

Fischer, 704 Seiten, 16 Euro
Didier Eribon

Rückkehr nach Reims

Als dieses Buch 2016 auf Deutsch erschien, ergingen sich die Leitmedien in berechtigten Lobeshymnen. Doch aus den politischen Erkenntnissen gelernt hat man in diesen Gesellschaftskreisen offenbar wenig – dass zeigt auch der Aufstieg der AfD. Eribon, ein Soziologie-Professor, berichtet in dem autobiografischen Werk über die Verwandlung des einst kommunistischen Arbeitermilieus seiner Heimatstadt. Seit den 1980ern wählen die Menschen dieser Schicht immer stärker den rechten Front National, da sie von linken Politikern konsequent enttäuscht werden. Der Gesellschaftsforscher ist wegen seiner eigenen Herkunft aus einer Arbeiterfamilie und wegen seiner Vertrautheit mit dem elitären Bürgertum, dem er nun angehört, die ideale Person für eine starke Analyse gespickt mit persönlichen Erlebnissen. Auch wenn der Verlag von einem „Rechtsruck“ der Arbeiterklasse spricht, wird im Buch doch viel eher klar: Verändert hat sich vor allem die politische Linke.

Suhrkamp, 237 Seiten, 18 Euro
Michael Hartmann

Der Mythos von den Leistungseliten

Dass Themen wie steigende Lebensmittel- und Heizkosten für Regierung und Leitmedien kaum von Interesse sind, liegt auch daran dass deren Akteure mit den Alltagsproblemen einfacher Menschen wenig zu tun haben. Die Entscheider stammen aus Oberschicht und gehobenem Bürgertum. Vor gut 20 Jahren hatte der Soziologe Michael Hartmann in dieser Studie gezeigt, mit welchen Mitteln die Oberschicht ihre Herrschaftspositionen von Generation zu Generation reproduziert. Damals, zu Zeiten von Agenda 2010 auf der einen und Eliteförderung auf der anderen Seite, noch ein diskutiertes Thema. Heute nahezu verschwunden. Hartmann untersucht Spitzenkarrieren in Wirtschaft, Verbänden, Politik und Justiz – und belegt: In Deutschland „lässt sich die Existenz einer herrschenden Klasse kaum leugnen“.

Campus, 208 Seiten, 29,95 Euro
Günter Kampf

Pandemiemanagement auf dem Prüfstand: Maskenpflicht

Günter Kampf, außerplanmäßiger Professor für Hygiene und Umweltmedizin an der Universität Greifswald, hat nach seiner Untersuchung zu 2G nun ein weiteres Buch vorgelegt, dass diesmal nahezu sämtliche Aspekte der Maskenpflicht einer kritischen und um wissenschaftliche Neutralität bemühten Prüfung unterzieht. Sein Fazit, auf Basis von Erkenntnissen aus randomisierten kontrollierten Studien: „medizinische Masken sind nicht geeignet, im öffentlichen Raum Übertragungen viraler Atemwegsinfektionen wirksam zu verhindern. (…) FFP2-Masken sind (…) nicht überzeugend wirksam. (…) Die Anwendung der Kriterien für evidenzbasierte Medizin hätte normalerweise nicht für eine Maskenpflicht in öffentlichen Bereichen ausgereicht.“

BoD, 204 Seiten, 18 Euro
Sven Brajer

Die (Selbst)Zerstörung der deutschen Linken

Bei der Bundestagswahl 2009 holte die Linke knapp 12 Prozent der Stimmen und lag noch vor den Grünen. Seitdem gelang es der Parteiführung, die Linke nahezu überflüssig zu machen, da sie sich immer stärker SPD und Grünen anglich, so lautet die Hauptthese des Historikers Sven Brajer in diesem Buch. Die soziale Frage spielt kaum noch eine Rolle. Farblose Berufspolitiker orientieren sich eher an der urbanen, akademischen Klientel als an Arbeiterschicht und Prekariat. Der Hinweis auf die AfD wurde zum Totschlagargument der Parteiführung, um linke Kernthemen zu meiden. Bei Corona präsentierte sich die Linke noch autoritärer als der „starke Staat“. In einem chronologischen Überblick ab 1990 beschreibt und analysiert Brajer, wie es soweit kommen konnte.

Promedia, 232 Seiten, 22 Euro
Bianca Kellner-Zotz / Michael Meyen

Wir sind die anderen

Welche Rolle spielt die eigene ostdeutsche Herkunft für Medienschaffende mehr als 30 Jahre nach dem Ende der DDR? Die Medienforscher Bianca Kellner-Zotz und Michael Meyen haben dazu 20 Interviews geführt, von René Schlott (einem der wenigen Corona-Maßnahmenkritiker der ersten Stunde mit Zugang zu Leitmedien) und Wiebke Müller (BILD-Zeitung) bis Katrin Huß (Ex-MDR) und Jens Wernicke (Rubikon). Befragt wurden auch Multipolar-Mitherausgeber Paul Schreyer und der Grafiker Robert Schumann, der das Multipolar-Layout entworfen hat sowie Dutzende Bestseller-Buchcover für Westend und Rubikon – und dessen Vater in der DDR Ressortchef bei der Zeitung Junge Welt war. Darum geht es im Buch: Herkunft, Familie und Prägung – sowie die Ursachen der andauernden Teilung des Landes.

Herbert von Halem Verlag, 552 Seiten, 37 Euro
Tom Burgis

Der Fluch des Reichtums

Armut trotz Rohstoffreichtum – klingt paradox, ist aber erklärbar. Tom Burgis legt am Beispiel von Ländern wie Angola, dem Kongo, Nigeria oder Guinea die politischen und ökonomischen Ursachen dar. Das Buch hat allerdings noch eine zweite Qualität: Es zeigt, wie China mit dem Geschäft Infrastruktur gegen Rohstoffe in immer mehr afrikanischen Ländern Fuß fasst und zum größten Handelspartner des Kontinents aufstieg. Der Journalist der Financial Times verzichtet dabei auf die übliche Doppelmoral vieler europäischer Publizisten und ist gegenüber westlichen Ländern und Konzernen genauso kritisch wie gegenüber chinesischen Akteuren. Im Gegensatz zum westlichen Eigennutz in Afrika seien chinesische Projekte oft sogar nützlich, um den Kontinent potenziell aus der Armut zu führen.

Westend, 352 Seiten, 12 Euro
Shoshana Zuboff

Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus

Es ist umfangreich und nicht immer leicht zu lesen, doch die Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff hat mit ihrem Werk zum Überwachungskapitalismus eines der wichtigsten Bücher dieses Jahrhunderts geschrieben. Zentrale Erkenntnis: Es geht nicht nur um die digitale Nutzung des Menschen als Rohstoff für Gewinnung und Verkauf von Verhaltensdaten, sondern um die Vorhersage und Lenkung menschlichen Verhaltens durch Künstliche Intelligenz. Laut Zuboff hat Google dieses neuartige System erfunden, Facebook, Microsoft und Amazon sind aufgesprungen; US-Regierung und Geheimdienste machen mit. Das Problem sei nicht die Technologie selbst, sondern die kontrollierende und manipulative Logik dahinter, die uns allen noch große Sorgen bereiten wird. Der Überwachungskapitalismus ist ein Putsch von oben, ein Umsturz gegen die menschliche Souveränität.

Campus, 727 Seiten, 29,95 Euro
Jewgeni Samjatin

Wir

Vor Huxley und Orwell war Samjatin. 1920 veröffentlichte der russische Schriftsteller die Dystopie „Wir“, die Vorbild für „Schöne neue Welt“ und „1984“ wurde. Ein Wendepunkt der Literaturgeschichte, denn hier wurde die Zukunft erstmals düster und verstörend dargestellt. In Samjatins Geschichte leben die Menschen in einer völlig gläsernen Stadt. Ihr Leben ist zeitlich komplett reglementiert: vom Essen, übers Schlafen bis zum Sex. Es herrscht ein wissenschaftlich-technokratischer Überwachungsstaat, der Träume und Emotionen als gefährliche psychische Krankheiten bekämpft. Durch die Liebe zu einer Frau, die der Widerstandsbewegung angehört, wird der Ich-Erzähler sich nicht nur Schritt für Schritt seiner Individualität bewusst, sondern auch zum Staatsfeind.

Ganymed, 220 Seiten, 14 Euro
Günter Kampf

Pandemiemanagement auf dem Prüfstand: 2G

Günter Kampf, außerplanmäßiger Professor für Hygiene und Umweltmedizin an der Universität Greifswald, hat ein kompaktes Buch über 2G geschrieben. Er überprüft darin detailliert und ohne Polemik die wissenschaftlichen Behauptungen, die bei der Einführung dieser flächendeckenden Diskriminierung Ungeimpfter Ende 2021 gemacht wurden. Er schließt: „Immer wieder wird auch von Ethikern als Argument für 2G aufgeführt, dass von Ungeimpften ein höheres Übertragungsrisiko ausgeht und Geimpfte die Gesundheit ihrer Mitmenschen besser schützen. Dieses Argument wurde von Politik, Medien und einzelnen Wissenschaftlern fortwährend öffentlich genutzt und hat offenbar viele Köpfe erreicht. Doch es bleibt im Großen und Ganzen falsch“.

BoD, 98 Seiten, 12 Euro
Adam Zamoyski

1812. Napoleons Feldzug in Russland

Der unbeschränkte Herrschaftsanspruch Frankreichs auf dem europäischen Kontinent führte 1812 zum Einmarsch der Grande Armée in Russland. Die Invasionsstreitmacht aus Franzosen, Deutschen, Italienern, Polen und zahlreichen weiteren europäischen Truppenkontingenten plünderte das Land, zog bis nach Moskau und ging in einem katastrophalen Rückzug unter. Der Historiker Adam Zamoyski beschreibt die bündnis- und geopolitischen Verwicklungen dieser Zeit genauso wie die Erlebnisse und Empfindungen einfacher Soldaten. Er stellt die Perspektiven Napoleons, Zar Alexanders und weiterer Akteure dar und nutzt aufgrund seiner sprachlichen Fähigkeiten die Forschungsarbeiten der Historiker beider Seiten. Ergebnis der Invasion: rund eine Million Tote, Zusammenbruch der französischen Hegemonie und ein auf Jahrzehnte dominantes Russland.

dtv, 720 Seiten, 17 Euro
Felix Schnell

Räume des Schreckens

Die ukrainische Bevölkerung wird seit Generationen von Katastrophen- und Gewaltausbrüchen heimgesucht. Kriege, Pogrome, Hungersnöte, Wirtschaftskrisen und unzählige Machtwechsel sorgten in den vergangenen Generationen für viel Leid und hinterließen tiefe, traumatische Spuren. Der Osteuropahistoriker Felix Schnell untersucht die gewalttätigen Vorgänge in der Ukraine von 1905 bis 1933. Er charakterisiert beteiligte Gruppierungen und erläutert die „Logik“ ihrer Gewaltkultur in einer Art endlosem Bürgerkrieg. Immer wieder gelang es wenigen, aber extrem brutalen Akteuren der Gesellschaft ein Klima der Gewalt aufzuzwingen. Das Buch führt in eine Welt, die in der westlichen Geschichtsschreibung kaum beachtet wird und zeigt letztlich, dass die mentale Vorgeschichte des heutigen Krieges in der Ukraine weit in die Vergangenheit zurückreicht.

Hamburger Edition, 575 Seiten, 28 Euro
Kees van der Pijl

Die belagerte Welt

„Dies ist die erste Pandemie in der Geschichte, die nicht für jedermann offensichtlich ist, sondern eine Massenindoktri-nation erfordert“, schreibt der Politikwissenschaftler Kees van der Pijl in seiner Analyse der Corona-Krise. Die globale Oligarchie benutzte Corona, um einen zukünftigen, demokratischen Wandel durch Einführung des Ausnahme-zustands zu verhindern, so die Hauptthese. Der Kapitalismus kann keinen Klassenkompro-miss mehr erzeugen und muss sich durch Angst an der Macht halten. Zahlreiche, vor allem westliche Regierungen verlängerten die „Pandemie“ künstlich, um den Überwachungsstaat auszubauen. Van der Pijl spricht von einem „Informationskrieg“ der Regierungen gegen ihre Bevölkerungen. Der Niederländer führt in diesem Buch politische, medizinische, ökonomische und geheimdienstliche Hintergründe der Krise zusammen.

Politikchronist, 325 Seiten, 19 Euro
Mathias Bröckers

Vom Ende der unipolaren Welt

„Auch die andere Seite zu hören, um ihre Absichten zu verstehen und sich ein realistisches Bild der Lage zu machen – dieses Fundament jeder rationalen, angemessenen Entscheidung ist in den Fluten eines Propaganda-Tsunamis untergegangen, wie ich ihn noch nie erlebt habe. (…) Noch fehlt mir die Altersgelassenheit, nach bald 50 Berufsjahren dem Verschwinden der letzten verbliebenen Standards des Journalismus entspannt zuzuschauen“ – so Mathias Bröckers im Epilog seines Tagebuchs zum Ukraine-Krieg, das er von Februar bis Juni 2022 führte – und das mit präziser Sprache, Witz und 598 Fußnoten viel Raum für das Überprüfen eigener Ansichten bietet.

Fifty-Fifty, 288 Seiten, 20 Euro
Gabriele Krone-Schmalz

Eiszeit

Seit vielen Jahren fordert Gabriele Krone-Schmalz die deutsche Öffentlichkeit auf, nicht ausschließlich die transatlantische sondern auch die russische Perspektive in politischen Fragen ernsthaft wahrzunehmen. Dazu liefert die Journalistik-Professorin und frühere ARD-Moskau-Korrespondentin regelmäßig detaillierte Informationen – so wie auch in diesem Buch etwa zur Vorgeschichte des Georgien- und Ukraine-Krieges oder zur Nato-Osterweiterung. Wer die aktuelle Konfliktlage ernsthaft verstehen will, kommt um dieses Wissen und die daraus resultierenden Standpunkte nicht herum. Trotzdem kündigte der Beck-Verlag im März 2022 an, das Buch nicht mehr nachzudrucken. Der Titel „Eiszeit“ scheint heute noch viel treffender als im Erscheinungsjahr 2017.

Beck, 304 Seiten, 16,95 Euro
Ivo Andrić

Die Brücke über die Drina

Visegrad ist eine kleine bosnische Stadt nah der serbischen Grenze am Fluss Drina. Der 1892 geborene Schriftsteller Ivo Andrić wuchs dort auf und widmete den menschlichen Schicksalen des Vielvölkerstädtchens seinen wohl berühmtesten Roman. Zentrum der Chronik ist die Brücke – vom Bau im 17. Jahrhundert durch die Osmanen bis zur Sprengung im Ersten Weltkrieg durch die Österreicher. Andrić porträtiert Einwohner verschiedener Jahrhunderte, erzählt ihre Geschichten und zeigt die Auswirkungen der Weltpolitik auf das Leben in der Stadt. Die zwischenmenschlichen, ganz beiläufige Einsichten des Buches gelten bis heute. Andrić selbst sagte: „Ich wäre glücklich, könnte ich durch meine Arbeit ein Brückenbauer zwischen Ost und West sein.“

dtv, 496 Seiten, 13 Euro
Francisco Goldman

Die Kunst des politischen Mordes

30 Jahre währte der Bürgerkrieg in Guatemala. Als er 1996 endete, hatte er 200.000 zivile Opfer gefordert. Bischof Juan Gerardi, Befreiungstheologe und Menschenrechtler, leitete ein Projekt, das die Verbrechen der korrupten und brutalen guatemaltekischen Armee und des militärischen Geheimdienstes aufklären sollte. Der Endbericht „Guatemala: Nie wieder!“ erschien im April 1998. Im selben Monat wurde Bischof Gerardi ermordet. In den Folgejahren zogen die alten Mächte alle Register, um das Mordmotiv zu verschleiern und die Täter zu schützen. Es war dem Mut junger Richter und Anwälte zu verdanken, dass die Wahrheit ans Licht gebracht werden konnte. Francisco Goldmans Buch bietet eine spannende und lehrreiche Rekonstruktion eines schockierenden politischen Mordes.

Rowohlt, 506 Seiten, 18,99 Euro
Hannah Arendt

Wahrheit und Lüge in der Politik

Aufgrund immer ausgefeilterer politischer Propaganda orientieren sich ganze Nationen an Lügen statt an Tatsachen, schreibt Hannah Arendt in diesem Büchlein. Es enthält zwei hellsichtige Essays der, in den USA lebenden, Philosophin aus der Zeit des Vietnamkrieges. Schon damals zählten für die US-Regierung nicht Tatsachen sondern nur der „Sieg in der Reklameschlacht um die Weltmeinung“, erläutert sie. Mächtige Regierungen besäßen die Macht, unbequeme Tatsachen innenpolitisch auszulöschen oder zu bloßen „Meinungen“ zu erklären. Professionelle Lügner, die Arendt vor allem in der Politik am Wirken sieht, sind gesellschaftlich so gefährlich, da sie bald ihre eigenen Lügen glauben und umso überzeugter handeln.

Piper, 92 Seiten, 10 Euro
Lynn Margulis

Der symbiotische Planet

Die 2011 verstorbene Biologin Lynn Margulis richtete Zeit ihres Lebens den wissenschaftlichen Scheinwerfer auf das uralte und doch oft unterschätzte Phänomen der Symbiose. Ohne das gemeinsame Agieren verschiedenartiger Lebewesen zum beidseitigen Vorteil wäre die Entstehung von Arten überhaupt nicht möglich gewesen, erklärt sie. „Symbiosen sind wie Lichtblitze der Evolution.“ Das Ökosystem Erde sei ein sich selbst regulierendes Gesamtkunstwerk Millionen verbunden lebender Arten. Neben verständlichen mikrobiologischen Erläuterungen ihrer Endosymbiontentheorie übt Margulis in diesem, 1998 verfassten und 2017 auf Deutsch erschienen, Buch auch harsche Kritik am realen Wissenschaftsbetrieb und dessen disziplinärer „Apartheid“ sowie an irrigen Vorstellungen von „feindlichen“ Viren.

Westend, 208 Seiten, 12 Euro
Tschingis Aitmatow

Ein Tag länger als ein Leben

1981 erschienen, auch unter dem Titel "Der Tag zieht den Jahrhundertweg“, ist dies eines der Hauptwerke des großen kirgisischen Autors. Der Roman handelt von der Anziehungskraft der Idee einer Weltherrschaft, die in der Hybris und im Verhängnis endet – Vision und Warnung vor einer nicht mehr zu kontrollierenden, Geist, Vernunft und Natur auslöschenden Technik. Eingewoben ist die historisch überlieferte Legende von den Mankurts, willenlos gemachten Sklaven, die ihre Herkunft nicht mehr kennen.

Unionsverlag, 504 Seiten, 12,90 Euro
Pawel Salzman

Erinnerungen an die Blockade

Die Blockade Leningrads durch deutsche Truppen während des Zweiten Weltkriegs zählt zu den ungeheuerlichsten Verbrechen des NS-Regimes und ist im historischen Bewusstsein der Deutschen nach wie vor viel zu wenig präsent. Die Belagerung der Stadt forderte über eine Million Todesopfer. Die meisten Menschen verhungerten. Der Künstler und Literat Pawel Salzman (1912-1985) hat die Blockade zusammen mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter überlebt und seine Beobachtungen in einem bewegenden, später überarbeiteten Tagebuch festgehalten. Die Einträge kreisen um die Frage: Wie bleibt man Mensch unter unmenschlichen Bedingungen?

Friedenauer Presse, 180 Seiten, 18 Euro
Mark Jones

1923 Ein deutsches Trauma

2017 ist der Historiker Mark Jones mit einem fulminanten Buch über die Gewaltexzesse in den Geburtsmonaten der Weimarer Republik auf große Resonanz gestoßen. Nun hat er das nicht minder beeindruckende Nachfolgewerk vorgelegt, in dem er über das Krisenjahr 1923 berichtet: Belgische und französische Truppen besetzen das Ruhrgebiet – die Deutschen organisieren den Widerstand. Das Land leidet unter einer Hyperinflation. Viele Menschen verarmen und hungern. Hitler-Anhänger, Kommunisten oder auch die rheinischen Separatisten glauben die Instabilität nutzen und ihre Ziele mit Gewalt durchsetzen zu können. Am Ende dieses Jahrs der Extreme obsiegen die Demokraten und können die Republik stabilisieren – vorläufig.

Propyläen, 384 Seiten, 26 Euro
Willy Peter Reese

Mir selber seltsam fremd

Willy Peter Reese, ein junger Mann, der davon träumt, als Schriftsteller zu arbeiten, wird 1941 in die Wehrmacht eingezogen und an die Ostfront geschickt. Er schildert, wie seine Kameraden und er ungerührt Frauen und Kindern in der Ostukraine Vorräte und Winterbekleidung nahmen und ihnen auf dem Rückzug noch die Häuser anzündeten. Er beschreibt den Anblick sterbender und toter Soldaten, die Erschießung russischer Gefangener, Stumpfsinn und Verkommenheit im Frontalltag sowie die grausame Realität in Lazaretten. „Ein halbes Jahr, in dem ich Jahrzehnte sah“, resümiert Reese im ersten Heimaturlaub. Er wird zum Pazifisten und stirbt doch 1944 an der Front. Ein Buch – heilsam für alle, die heute wieder die Kriegstrommel rühren.

Ullstein, 304 Seiten, 12,99 Euro
Chiara Valentini

Der eigenartige Genosse Enrico Berlinguer

Als Enrico Berlinguer 1984 bei einer öffentlichen Veranstaltung zusammenbrach und wenige Tage später verstarb, folgten zwei Millionen Italiener seinem Sarg. Berlinguer war seit 1972 Chef der Kommunistischen Partei Italiens, der größten in einem westlichen Land, ein Mann der leisen Töne, mit aristokratischen Zügen, und doch ein charismatischer Führer, von seinen Anhängern verehrt und geliebt. Als Vater des „Eurokommunismus“ und Anwalt des „historischen Kompromisses“ zwischen Christdemokratie und Kommunismus wurde Berlinguer zu einer Schlüsselfigur in der neueren italienischen Geschichte. Chiara Valentini porträtiert ihn zu seinem 100. Geburtstag in einer gut recherchierten, spannenden Biografie und fragt nach seiner Bedeutung für die heutige Zeit.

J.H.W. Dietz Nachf., 480 Seiten, 32 Euro
Benjamin Carter Hett

Der Reichstagsbrand

Adolf Hitler war noch keine vier Wochen an der Macht, als am Abend des 27. Februar 1933 der Reichstag in Flammen aufging. Unmittelbar darauf erließ die Regierung eine Notverordnung, die einen permanenten Ausnahmezustand schuf, die Grundrechte außer Kraft setzte und fortan die Grundlage zur Verfolgung politischer Gegner bildete. Noch am Tatort wurde ein fast völlig blinder Niederländer als vermeintlicher Brandstifter verhaftet. Der Historiker Benjamin Carter Hett zeigt im Buch detailliert, dass die Einzeltäterthese widerlegt ist; diese jedoch seit den 1950er Jahren von Akteuren in Geschichtswissenschaft, Verfassungsschutz und Leitmedien zur dominanten Erklärung aufgebaut wurde.

Rowohlt, 648 Seiten, 29,95 Euro
Thomas Bauer

Die Vereindeutigung der Welt

„Wer Eindeutigkeit erstrebt, wird darauf beharren, dass es stets nur eine einzige Wahrheit geben kann und dass diese Wahrheit auch eindeutig erkennbar ist“ – so der Islamwissenschaftler Thomas Bauer in diesem Buch aus dem Jahr 2018. Bauer spricht von einer „Wahrheitsobsession“ und ergänzt: „Wenn es nur eine einzige Wahrheit gibt, dann muss diese auch überzeitlich gültig sein. (…) Das zweite grundlegende Merkmal des Fundamentalismus besteht also in der Ablehnung der Geschiche.“ Als drittes komme ein „Reinheitsstreben“ dazu: alles Fremdartige und Deutungsbedürftige werde getilgt. Der Corona-Fundamentalismus ist damit schon zwei Jahre vor seinem Ausbruch klar umrissen worden.

Reclam, 104 Seiten, 6 Euro
Marc Elsberg

Blackout

Wie es in Europa aussehen würde, wenn nur zwei Wochen der Strom ausfällt, zeigt dieser gut recherchierte Roman. Eine Gruppe ideologisierter Hacker, die einen globalen Neustart (wörtlich „Reset“) für eine solidarische Welt wollen, legt die Stromversorgung zweier Länder lahm und setzt eine fatale Kettenreaktion im europäischen Energienetz in Gang. Alles fällt aus: Heizungen, Klospülungen, Ampeln, Geldautomaten, Tankstellen. Politik und kritische Infrastruktur sind schlecht vorbereitet. Es kommt zu vielen tödlichen Katastrophen. Die bisherigen Regeln des Zusammenlebens gelten nicht mehr. Lerneffekt: Solch ein Zustand sollte um jeden Preis vermieden werden.

Blanvalet, 832 Seiten, 12 Euro
Bernard E. Harcourt

Gegenrevolution

Je krisenanfälliger politische Systeme werden, je aktiver und auch militanter Protestbewegungen agieren – man denke an die französischen Gelbwesten oder die kanadischen Trucker –, desto rigoroser fällt die Antwort der Staatsmacht aus: Die Protestler werden mittels Propaganda stigmatisiert und von der passiven Mehrheit isoliert. Eine zunehmend militarisierte Polizei tritt auf den Plan. Immer ausgefeiltere Überwachungs- und Kontrolltechniken bringen System in eine „Aufstandsbekämpfung“, wie man sie bislang nur aus der Unterdrückung antikolonialer Bewegungen oder aus dem „Krieg gegen den Terror“ kannte. Es handelt sich um eine „Gegenrevolution“, um den Eintritt in ein autoritäres Zeitalter.

Fischer, 479 Seiten, 26 Euro
Michail Bulgakow

Die weiße Garde

Mit der russischen Revolution begann gegen Ende des Ersten Weltkrieges in Kiew eine Zeit jahrelanger Wirren und ständiger Machtwechsel. In dieser Phase spielt der Roman des Schriftstellers Michail Bulgakow. Protagonist ist der Militärarzt Alexej Turbin, in dem unschwer Bulgakow selbst zu erkennen ist. Turbin und sein zarentreues Umfeld versuchen, mit den instabilen Verhältnissen zurechtzukommen und müssen schließlich um ihr Leben kämpfen. Ein äußerst ernsthaftes Werk des großen sowjetischen Satirikers, das den Leser mitnimmt in eine zerrissene Stadt – hart umkämpft von vielen internationalen und einheimischen Konfliktparteien.

dtv, 544 Seiten, 14,90 Euro
Anna Haag

Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode

Die Stuttgarter Autorin Anna Haag begann 1940 ein Tagebuch und beschrieb darin nicht nur den Alltag in der Nazizeit, sondern vor allem die Einstellungen ihrer Mitmenschen zu Krieg und Führerkult. Erschreckend wenige Leute hätten Probleme mit den Freiheitsbeschränkungen, beklagt sie darin. Selbst die widersprüchlichsten Propagandabehauptungen wurden von vielen Menschen, auch von den Gebildeten, geglaubt. Sogar als Haag und ihre Nachbarn zum Kriegsende ausgebombt in einem Stollen saßen, gab es noch siegessichere Blockwarte. „Manchmal – nein oft – verzweifele ich völlig am deutschen Volk.“

Reclam, 448 Seiten, 35 Euro
Sheldon S. Wolin

Umgekehrter Totalitarismus

Der Politiktheoretiker Sheldon Wolin (1922-2015) sah ein neuartiges politisches und soziales System, den „umgekehrten Totalitarismus“, heraufziehen. Anders als im klassischen Totalitarismus werden die demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen und Verfahren nicht abgeschafft, sondern ausgehöhlt. Nur die Fassaden bleiben stehen. Die Macht liegt bei den großen Industrie- und Dienstleistungskonzernen, bei der Finanzindustrie, beim Militär-, Sicherheits- und Geheimdienstapparat, bei den wuchernden bürokratischen Komplexen. Die Bevölkerung wird in Resignation und Apathie, in Passivität und Entpolitisierung getrieben.

Westend, 462 Seiten, 36 Euro
Andreas Elter

Die Kriegsverkäufer

Es macht einen erheblichen Unterschied in der öffentlichen Meinung, ob die USA einen Krieg wegen ökonomischer und geostrategischer Interessen führen oder um die Welt zu retten. Der Historiker und Journalist Andreas Elter analysiert die Geschichte der US-Propaganda vom Ersten Weltkrieg bis zum zweiten Irakkrieg. Dabei blickt er auch immer wieder auf die Einbindung und die oft bereitwillige Mitwirkung heimischer Journalisten bei der Kriegstrommelei. Das bis heute hochaktuelle Buch von 2005 (dritte Auflage: 2015) ist nur noch gebraucht zu bekommen und sogar von der Seite des eigenen Verlags verschwunden – ein Indiz für die politische Relevanz.

Suhrkamp, 369 Seiten, 16 Euro
Franz Fühmann

Das Judenauto

Im Januar 2022 wäre der Schriftsteller Franz Fühmann 100 Jahre alt geworden. Mit dem Erzählzyklus „Das Judenauto“ hatte er 1962 eine Abrechnung mit der eigenen NS-Vergangenheit vorgelegt, die in der deutschen Literatur ihresgleichen sucht – so das Urteil Isabel Fargo Coles. Weiter schreibt sie: „Scharfsichtig und sprachlich virtuos schildert er den Weg von faschistischer Verblendung über Desillusionierung bis hin zur Erlösung durch sozialistische Ideale. Einzige Schwäche des Werkes ist das plumpe Happy-End, von dem sich Fühmann bald wieder distanzierte – der Wandlungsprozess, den er im ‚Judenauto‘ voreilig für abgeschlossen erklärt hatte, war noch längst nicht zu Ende.“

Hinstorff, 185 Seiten, 18 Euro
Laura M. Fabrycky

Schlüssel zu Bonhoeffers Haus

Als die US-Amerikanerin Laura Fabrycky mit ihrer Familie 2016 berufsbedingt für drei Jahre nach Berlin zieht, entdeckt sie Leben und Werk Dietrich Bonhoeffers, des 1945 hingerichteten Exponenten der „Bekennenden Kirche“. Fabrycky beschäftigt sich fortan intensiv mit Bonhoeffer, begibt sich auf Spurensuche, engagiert sich schon bald ehrenamtlich im Bonhoeffer-Haus als Fremdenführerin und veröffentlicht nach ihrer Rückkehr in die USA ein informatives und einfühlsames Buch, in dem sie zeigt, wie das Leben ihres Protagonisten und seine Erkenntnisse uns heute Vorbild sein und bereichern können.

Gütersloher Verlagshaus, 320 Seiten, 22 Euro
Norbert Häring

Endspiel des Kapitalismus

Handelsblatt-Journalist Norbert Häring erklärt das Wesen des modernen Kapitalismus als System, Eigentümern leistungslose Gelder zufließen zu lassen, die der Gesellschaft entzogen werden – organisiert über privilegierte Gelddrucker (Banken), die „darüber bestimmen, wer zum Investieren auf die freien Ressourcen der Gesellschaft zugreifen darf“. Der Autor schildert außerdem, mit welchen Mitteln „die Macht von den Konzernen zurückgeholt“ werden kann – und präsentiert dazu neuartige Eigentumsformen an Unternehmen, die ein solches Aussaugen der Gesellschaft unterbinden oder stark vermindern können.

Quadriga, 382 Seiten, 22 Euro
Rainer Schneider

1989. Alles auf Anfang.

Ein großer Umbruch kommt schneller als man denkt. Der Roman des ostdeutschen Autors und Theatermachers Rainer Schneider folgt den schlingernden Lebenswegen von fünf Menschen aus DDR und BRD in der Wendezeit ab 1989. Vom Berliner Klempner über den bayrischen Treuhand-Ökonomen bis zur jungen Künstlerin sind ganz verschiedene Milieus und Typen vertreten, deren Wege sich auch noch kreuzen. Durch Mauerfall und Wiedervereinigung wurden sie alle in völlig neue Lebenslagen katapultiert, auf die niemand vorbereitet war. Der Roman ist Teil einer ganzen Reihe. Das Ende ist nicht happy, aber realistisch.

Lebenswege, 282 Seiten, 9,99 Euro
Norbert Elias, John L. Scotson

Etablierte und Außenseiter

Von 1958 bis 1961 untersuchten die Soziologen Elias und Scotson einen bemerkenswerten Gruppenkonflikt: In einem Vorort von Leicester wurde ein Teil der Einwohner vom anderen Teil massiv ausgegrenzt und abgewertet, obwohl es keine Unterschiede in Sprache, Ethnie oder Klasse gab. Einzig der Ortsteil war entscheidend. Die alteingesessene Gruppe monopolisierte alle lokale Macht und entwickelte eine Ideologie, warum dies richtig sei und dass ihre Mitglieder die besseren Menschen wären. Sie empfanden die Anderen als Ärgernis und Bedrohung. Eine Studie, die gesellschaftliche Mechanismen der Ausgrenzung beleuchtet.

Suhrkamp, 315 Seiten, 12 Euro
Victor Klemperer

LTI – Notizbuch eines Philologen

„Die Aussagen eines Menschen mögen verlogen sein – im Stil seiner Sprache liegt sein Wesen hüllenlos offen“, schreibt Victor Klemperer in seinem bekanntesten Buch. Dem Dresdener Sprachwissenschaftler blieb – weil er von immer mehr gesellschaftlichen Betätigungen ausgeschlossen wurde – gar nichts übrig, als die Sprache des Dritten Reichs (Abkürzung: LTI) zu analysieren. Das Buch ist keine akademische Abhandlung, sondern vielmehr die Essenz seiner äußerst lesenswerten Tagebücher 1933-1945. An zahlreichen Alltagsbeispielen zeigt er, dass fanatisches und armseliges Reden verbrecherischem Handeln vorangeht.

Reclam, 416 Seiten, 13 Euro
Marlen Haushofer

Himmel, der nirgendwo endet

Was macht Kindheit aus? Die österreichische Schriftstellerin Marlen Haushofer (1920-1970) schildert in diesem Roman die ersten Lebensjahre eines kleinen Mädchens aus der Innenperspektive – unverstellt, feinfühlig und ohne jeden Kitsch. Was macht es mit einem Kind, wenn Erwachsene Druck ausüben, unehrlich sind oder einfach nur überlastet? Wie kommt es, dass ein Kind den ursprünglichen Kontakt zur Welt verliert? Gerade heute, in einer Zeit, in der der Mangel an Empathie für Kinder alle Rekorde zu brechen scheint, vermittelt dieses ebenso poetische wie lebenskluge Buch eine Fülle von Denkanstößen.

Ullstein, 224 Seiten, 10 Euro
Walter Scheidel

Nach dem Krieg sind alle gleich

Wir leben in einer Welt mit enormen und vielfach wachsenden Einkommensdisparitäten. Wie kann man diese Ungleichheit reduzieren? Welche Mittel haben sich – historisch betrachtet – als wirksam erwiesen? Behutsame Reformen? Kluge Umverteilungsspolitik? Nein, sagt der an der Stanford University lehrende Historiker Walter Scheidel. Als große Nivellierer fungierten die "vier apokalytischen Reiter": Kriege, Revolutionen, Staatsversagen und Pandemien – sozialer Ausgleich war das Ergebnis von Gewalt. Ein bedeutendes Geschichtswerk, das beunruhigende Zukunftsperspektiven entwickelt.

wbg Theiss, 687 Seiten, 40 Euro
Julius Fučík

Eine Reise nach München

Im Juli 1934 wandert der tschechische Journalist Julius Fučík ohne Papiere über die grüne Grenze nach Deutschland und fährt mit dem Zug nach München. In dem Büchlein, das ursprünglich als dreiteilige Reportage erschien, berichtet Fučík vom Alltag im Faschismus. Kurz nach der Ermordung der SA-Führung durch die Nazi-Spitzen begegnet der Reporter einer nervösen Stadt voller Uniformträger, die jede Menschenansammlung schnell auflösen. Aufschlussreich ist Fučiks Versuch ein Gästezimmer zu bekommen. Die Wirtin: „Aber nein, mein Herr, ohne Pass dürfen sie jetzt nirgendwo sein. Ich muss das melden.“

Verlag Wiljo Heinen, 64 Seiten, 6 Euro
Dietrich Geyer

Das russische Imperium: Von den Romanows bis zum Ende der Sowjetunion

Dietrich Geyer (geb. 1928) war Professor für Osteuropäische Geschichte in Tübingen und zählt zu den führenden Vertretern seines Fachs. Das Buch dokumentiert seine letzte, sich über vier Semester erstreckende Vorlesung. Mit der ihm eigenen kraftvollen und präzisen Sprache erzählt und analysiert Geyer vier Jahrhunderte russischer Geschichte: von Iwan IV., der herausragenden Herrscherfigur des 16. Jahrhunderts, bis zum Untergang des sowjetischen Imperiums 1991. Eine stets spannende, erhellende, belehrende Lektüre, zugleich ein zuverlässiges Nachschlagewerk.

De Gruyter Oldenbourg, 468 Seiten, 39,95 Euro
Jochen Schilk

Die Wiederbegrünung der Welt

In seinen „50 ansteckenden Geschichten vom Bäumepflanzen“ nimmt Jochen Schilk, Redakteur der Zeitschrift Oya, den Leser mit auf eine Reise von den USA bis Brasilien und von der Inneren Mongolei bis nach Hessen. Vorgestellt werden „Guerilla-Gärtner“ oder „Laien-Aufforster“ – Menschen die sich der Aufgabe verschrieben haben, Bäume zu pflanzen, ohne dass eine große NGO oder eine Behörde dahinter steht. Die Denkanstöße, die der Autor vermittelt und die Menschen, die er porträtiert, weisen dabei weit über das Thema Naturschutz hinaus – es geht um das Potenzial von Eigenverantwortung und Selbstermächtigung.

Drachen Verlag, 272 Seiten, 22,80 Euro