Clade X: Eine Biowaffe zur Bevölkerungsreduktion
PAUL SCHREYER, 27. Oktober 2020, 2 KommentareHinweis: Dieser Beitrag ist auch auf Englisch sowie in deutscher Sprache als Podcast verfügbar.
Nachdem in den Jahren 1998 bis 2005, geprägt vom Kontext des "Kriegs gegen den Terror", im raschen Stakkato immer apokalyptischere Pandemie-Übungen ins Werk gesetzt worden waren, ließ die Intensität in der Folge nach. Mehr als zehn Jahre passierte wenig. Das große Weltthema Finanzkrise bot ab 2008 offenbar wenig Anknüpfungspunkte für Pockenmanöver. Und auch das Schweinegrippe-Fiasko von 2009 musste wohl erst einmal verdaut werden.
Die Situation änderte sich mit dem Auftauchen von Donald Trump, einem Ereignis, das symbolhaft für den sichtbaren Niedergang des US-geführten Weltsystems stand. Kurz nach seiner Wahl zum US-Präsidenten im November 2016, die vielen Beobachtern zunächst unglaublich erschien und die Schockwellen rund um den Globus sandte, startete das Übungsgeschehen neu.
Zu dieser Zeit intensivierten sich die Bemühungen von Bill Gates, die Themen Impfstoffe, internationale Sicherheit und Bioterrorismus miteinander zu verknüpfen. Im Januar 2017 reiste er zum Treffen des World Economic Forum nach Davos und erklärte dort, es müsse "ernsthaft darüber diskutiert werden, wie die Vorbereitung auf einen möglichen Anschlag mit biologischen Waffen aussehen soll". Gates kündigte an, dieses Thema auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar jenen Jahres noch vertiefen zu wollen. Anlass war der Start der von ihm gemeinsam mit der Pharmaindustrie und mehreren Regierungen gegründeten Impfstoffforschungsinitiative CEPI (Coalition for Epidemic Preparedness Innovations – Koalition für Innovationen in der Epidemievorbeugung). Diese zielte darauf ab, Impfstoffe weitaus schneller als bisher zu entwickeln – statt innerhalb von zehn Jahren in unter zwölf Monaten – und dafür eine öffentlich-private Finanzierung zu sichern.
Die Münchner Sicherheitskonferenz, wo Gates anschließend auftrat, stand 2017 völlig im Schatten des wenige Wochen zurückliegenden Einzugs von Donald Trump ins Weiße Haus. Die FAZ berichtete von einer "eigentümlichen Atmosphäre auf den Gängen und in den Hinterzimmern" des Tagungsortes:
"Selten – vielleicht noch nie – waren die Mienen der angereisten Staatschefs, Minister, Adlaten und Experten so von Fragezeichen geprägt. Wachsende Ungewissheit, Unsicherheit und Misstrauen beschäftigten die Teilnehmer und überlagerten alle Gespräche: Werden die Amerikaner die Europäer im Stich lassen? Zerfasert die Nato? Und vor allem: Was hält in Zukunft den Westen zusammen? (...) Es ist, als ob über 20 Regierungschefs, über 80 Minister, Adlaten und Experten, kurz die Elite der Außen- und Sicherheitspolitiker, zusammengekommen sind zur vermutlich größten Gruppentherapie, die dieser Apparat in diesem Jahrhundert erlebt hat. Mit einem unsicheren Ziel: Herauszufinden, was an Gemeinsamkeiten geblieben ist – und ob sie eine westliche Sicherheitsarchitektur noch tragen."
"Ich weigere mich, den Untergang unserer Weltordnung zu akzeptieren"
John McCain, einer der ein ussreichsten Außenpolitiker der USA, traf in seiner Münchner Rede laut FAZ "den Kern der westlichen Seelenkrise": Die Frage, ob der Westen überleben werde, so McCain, hätte man früher als Alarmismus abgetan – nun aber sei sie »tödlicher Ernst«. Der konservative Hardliner (der ein Jahr später verstarb) schloss seine Rede, die vom versammelten Publikum der Staatsführer und Militärs tosenden Beifall erhielt, mit dem markigen Bekenntnis: "Ich weigere mich, den Untergang unserer Weltordnung zu akzeptieren."
Auf dieser Konferenz, vor eben jenem Publikum, hielt am Tag darauf Bill Gates seine Rede. Darin klärte er über die Gefahren und möglichen Details einer großen Pandemie auf:
"Die nächste Epidemie könnte auf dem Computerbildschirm eines Terroristen entstehen, der mit Hilfe von Gentechnik eine synthetische Version des Pockenvirus oder einen extrem ansteckenden und tödlichen Grippeerreger erzeugen will. (...) Ob durch eine Laune der Natur oder durch die Hand eines Terroristen, Epidemiologen sagen, dass ein sich schnell verbreitender, durch die Luft übertragener Erreger mehr als 30 Millionen Menschen in weniger als einem Jahr töten könnte. (...) Wir müssen uns auf Epidemien so vorbereiten, wie das Militär auf einen Krieg. Dazu gehören Manöver ('germ games') und andere Notfallübungen, damit wir besser verstehen, wie sich Krankheiten ausbreiten, wie Menschen in einer Panik reagieren und wie wir mit Dingen wie überlasteten Autobahnen und Kommunikationssystemen umgehen."
Drei Monate später begannen im Johns Hopkins Center for Health Security erstmals seit vielen Jahren wieder umfassende Planungen für ein neues Pandemie-Manöver – noch größer und komplexer als die vorhergehenden. Der Titel lautete "Clade X". Die Vorbereitungen starteten im Mai 2017, vier Monate nach Trumps Einzug ins Weiße Haus.
Das Szenario war diesmal anders. Keine Pocken, keine Pest, kein Anthrax, stattdessen eine neuartige Virusmixtur, die laut Drehbuch im Labor einer Biotech-Firma entwickelt worden war: eine genetische Kombination aus einem hochansteckenden Parainfluenza-Virus und dem besonders tödlichen Nipah-Virus. (Das Nipah-Virus brach, nebenbei bemerkt, gleichzeitig mit der Übung real in Indien aus und wurde dort mithilfe eines Forschers des US-Militärs eingedämmt, der einen Impfstoff entwickelt hatte, dessen Herstellerfirmen nach dem Ausbruch Fördermittel in Höhe von 25 Millionen Dollar erhielten.)
"Direkte Maßnahmen, um den ›Reset‹ zu erreichen"
Neu war am Übungsdrehbuch aber nicht nur die Art des Virus, sondern auch, dass man nicht mehr von namen- und biografielosen Terroristen ausging, sondern in einem Be- gleitdokument zum Manöver überraschend ausführlich eine Historie der fiktiven Terrorgruppe namens ABD ("A Brighter Dawn" – "Ein hellerer Morgen") beschrieb. Dort hieß es:
"A Brighter Dawn wurde in den 1990er-Jahren in den Vereinigten Staaten gegründet. Erklärtes Ziel der Gruppe war es, den durch die Überbevölkerung verursachten Verfall des Planeten zu verlangsamen und schließlich umzukehren. Damals war es das Ziel von ABD, der Menschheit zu helfen, zu einem früheren Zustand zurückzukehren. Die Aktivitäten der Gruppe waren zu dieser Zeit allgemein friedlich und umfassten Vorträge und Diskussionsrunden, Basisaktivismus und Öffentlichkeitsarbeit.
Bis 2010 war die Mitgliedschaft von A Brighter Dawn sowohl zahlenmäßig als auch in der geografischen Vielfalt erheblich gewachsen. Es gab Mitglieder und lokale Verbände in vielen Ländern. Etwa zu dieser Zeit scheint es innerhalb von A Brighter Dawn zu einer Spaltung gekommen zu sein. Eine extreme Fraktion der ABD war der Meinung, dass direkte Maßnahmen erforderlich seien, um den ›Reset‹ oder ›Paradigmenwechsel‹ zu erreichen, der erforderlich wäre, um das Gleichgewicht grundlegend zu verändern.
Diese Splittergruppe bestand aus nicht mehr als 30 Personen. Ein charismatischer Führer übernahm die Führung und arbeitete eng mit etwa 25 anderen ABD-Mitgliedern in der Gruppe zusammen, die eine biowissenschaftliche Ausbildung hatten, darunter auch Virologen. Nach der Spaltung gründete die Splittergruppe ein Labor in der Nähe von Zürich und gab sich als kleine Biotech-Start-up-Firma aus. Sie richtete ein hochentwickeltes biowissenschaftliches Labor mit frei im Handel erhältlicher Ausrüstung ein und konzentrierte sich auf die Entwicklung einer biologischen Waffe, die eine weltweite Wirkung haben sollte. Die Führer der ABD scheinen auch von der Vorstellung einer biblischen Plage als Korrektiv für die Exzesse der Menschheit geleitet worden zu sein. Die Finanzierung der Splittergruppe stammte von Mitgliedern, gleichgesinnten privaten Spendern und der Beteiligung an illegalen Aktivitäten. (...)
Nachdem der Clade-X-Erreger erfolgreich entwickelt und hergestellt worden war, reisten Freiwillige der ABD, die bereit waren, das Risiko einer Ansteckung einzugehen, mit kleinen Mengen des flüssigen Erregers um die Welt und verbreiteten die Viren mit handelsüblichen Sprühflaschen an überfüllten öffentlichen Plätzen. Die zahlreichen Angriffe waren relativ ineffizient, da bei fast der Hälfte niemand infiziert wurde; bei den anderen Angriffen wurden im Durchschnitt nur 50 Menschen krank. Das reichte jedoch aus, um die Clade-X-Pandemie auszulösen."
Die Übung fand am 15. Mai 2018 in Washington statt, erneut im Luxushotel Mandarin Oriental. Der geprobte Ausbruch begann in Deutschland. Durchgespielt wurde eine Reihe von Sitzungen des Nationalen Sicherheitsrates der USA, die Spieler waren wieder hochrangige amerikanische Politiker, die teils ähnliche oder gleiche Regierungs- und Parlamentsfunktionen auch schon in der Realität bekleidet hatten. (1) (Eine Liste der Teilnehmer findet sich am Ende dieses Textes.)
Eines der ersten Ereignisse nach dem Ausbruch war laut Drehbuch die Entwicklung eines PCR-Tests zum Nachweis des Virus. (PDF, S. 11) Die Debatte kreiste dann zum großen Teil um Reisebeschränkungen und Lockdown (damals noch Quarantäne genannt). Man sprach über das eventuell zu erlaubende "Maß der Gewalt zur Aufrechterhaltung der Quarantäne". (PDF, S. 31) Es müsse, so schloss man, noch mehr "Rechtsklarheit" geschaffen werden "in Fragen der Übertragung von Befugnissen während der Quarantäne". Auch sollten von der Regierung mögliche negative Auswirkungen dieser Art von Quarantäne "einschließlich des öffentlichen Widerstands gegen ihre Durchführung" in die Pläne mit einbezogen werden. (2)
150 Millionen Tote
In der Übung wurde die Krise im Zeitraffer durchlebt. Das zu regulierende Ausbruchsgeschehen umfasste einen Zeitraum von vielen Monaten. Laut dem Szenario häufte sich die Zahl der Toten am Ende auf 150 Millionen weltweit, davon 15 Millionen in den USA. Den Autoren zufolge waren das noch niedrige Zahlen, nur dadurch ermöglicht, dass man die Impfstoffherstellung extrem beschleunigt habe.
Am Ende der Übung stand daher auch an erster Stelle die Forderung an die Regierung, umgehend die nötigen Mittel bereitzustellen, um neue Impfstoffe "innerhalb von Monaten und nicht Jahren" entwickeln zu können. (3) Insbesondere erwähnte man dabei neuartige RNA-Impfstoffe (wie sie auch von Bill Gates gefördert wurden) – die den Menschen gentechnisch verändern und die in der Corona-Krise eine große Rolle spielen. In den Empfehlungen der Planer der Übung an die Regierung hieß es:
"Jüngste Entwicklungen in der synthetischen Biologie (...) eröffnen neue Möglichkeiten für die schnelle Entdeckung wirksamer Medikamente und Impfstoffe. Ebenso sind neue Ansätze für Gegenmaßnahmen, wie selbstverstärkende mRNA-Impfstoffe (...) vielversprechende Plattformen, die im Notfall eine schnelle Entwicklung ermöglichen. (...) All dies könnte in verteilter Form geschehen, sodass mehr Menschen an mehr Orten Gegenmittel in großem Maßstab produzieren könnten."
Alles in allem schien die Übung den Veranstaltern ein Erfolg. So resümierten sie im Anschluss, man habe eine große Öffentlichkeit erreicht und das Bewusstsein für die Auswirkungen von Pandemien geschärft. Die Washington Post hatte gleich dreimal über das Manöver berichtet. Auch war man zur Fachwelt und zur Politik durchgedrungen: "Clade X führte zu einer Reihe von Folgepräsentationen und Veranstaltungen beim US-Kongress, dem Expertentreffen der Biowaffen-Konvention, der CDC, dem Aspen-Institut und anderen Organisationen." (4)
Das Thema stand also auf mehreren Ebenen wieder neu auf der Agenda. (...) Als das Team vom Johns Hopkins Center for Health Security im Anschluss eine noch größere, noch komplexere Nachfolgeübung konzipierte ("Event 201"), kam die Oberliga der Sponsoren mit an Bord: die Bill und Melinda Gates Foundation und das World Economic Forum (WEF). (...) Diese Übung unterschied sich insofern grundlegend von den vorhergehenden, als es diesmal nicht um zu probende Debatten und Abstimmungen innerhalb der Regierung ging, sondern ausdrücklich um ein Training der Zusammenarbeit von Regierungen mit den globalen Konzernen während einer Pandemie. In einer Beschreibung des Johns Hopkins Center for Health Security hieß es dazu:
"In den letzten Jahren hat die Welt eine wachsende Zahl von Epidemien erlebt, die sich jährlich auf etwa 200 Ereignisse beläuft. Diese Ereignisse nehmen zu, und sie wirken sich auf Gesundheit, Wirtschaft und Gesellschaft störend aus. Die Bewältigung dieser Ereignisse belastet bereits jetzt die globalen Kapazitäten, selbst wenn keine Pandemiegefahr besteht. Experten sind sich einig, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis eine dieser Epidemien global wird – eine Pandemie mit potenziell katastrophalen Folgen. Eine schwere Pandemie, die zum 'Event 201' wird, würde eine verlässliche Zusammenarbeit zwischen Branchen, Regierungen und wichtigen internationalen Institutionen erfordern. (...) Ähnlich wie bei den drei vorangegangenen Übungen des Centers – Clade X, Dark Winter und Atlantic Storm – zielte Event 201 darauf ab, Führungskräfte auf der höchsten Ebene der US-Regierung, anderer Regierungen und Konzerne zu informieren und weiterzubilden."
Die Übung "Event 201" fand am 18. Oktober 2019 statt, zwei Monate vor dem Auftauchen des Coronavirus, und simulierte irritierenderweise auch tatsächlich den Ausbruch einer globalen Coronavirus-Pandemie.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch "Chronik einer angekündigten Krise – Wie ein Virus die Welt verändern konnte", Westend Verlag, 176 Seiten, 15 Euro.
Anmerkungen:
(1) Es spielten: Secretary of State: John Bellinger, Former Legal Adviser for the US Department of State and the National Security Council; Secretary of Defense: James Talent, Former US Senator; Attorney General: Jamie Gorelick, Former Deputy Attorney General of the United States, Commissioner on the 9/11 Commission; Secretary of Health and Human Services: Margaret (Peggy) Hamburg, Former Commissioner of the FDA, Former Commissioner of the New York City Department of Health and Mental Hygiene; Secretary of Homeland Security: Tara O’Toole, Executive Vice President and Senior Fellow, In-Q-Tel, Former Under Secretary for Science and Technology; CIA Director: Jeffrey Smith, Former General Counsel of the CIA; Senate Majority Leader: Tom Daschle, Former US Senator, Senate Majority Leader; Speaker of the House of Representatives: Susan Brooks, Congresswoman, Former US Attorney for the Southern District of Indiana; CDC Director: Julie Gerberding, Former CDC Director.
(2) Crystal Watson et al.: "Clade X: A Pandemic Exercise", Health Security, Vol. 17, No. 5, 7. Oktober 2019, S. 415
(3) Ebd., S. 414
(4) Ebd., S. 417
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