Das neue Wahrheitsregime
MICHAEL MEYEN, 18. Mai 2021, 6 Kommentare, PDFWahrheit: In der Erkenntnistheorie ist das ganz einfach. Wahr ist eine Aussage dann, wenn sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt – mit Phänomenen, die ohne unser Wollen da sind. Das Wetter, das Haus da drüben, ein Virus. Das Problem beginnt dann, wenn sich zwei Aussagen widersprechen. Ist SARS-CoV-2 ein Killer oder hätten wir ohne diesen Test gar nichts davon gemerkt? Es gibt keine Aussage ohne uns, ohne einen Menschen. Es gibt auch keine ›Fakten‹ ohne einen Menschen. Die Sprache hat das nicht vergessen. Im Wort ›factum‹ stecken ›machen‹, ›tun‹ und ›handeln‹. Lateinisch: facere. Manufaktur. Handarbeit.
Selbst eine Zahl ist eine Zahl und nicht die Wirklichkeit. Das weiß jeder, der selbst Daten erhoben hat. Was immer wir messen, wird sozial hergestellt. Menschen legen fest, dass sie Schritte zählen, um ihre Existenz zu legitimieren (zehntausend am Tag!). Menschen legen fest, nach welchem Virus sie suchen und was passieren muss, damit sie ›Gefunden!‹ rufen dürfen. Hinter jeder Zahl steht ein Interesse, und sei es nur das eines Herstellers, der seine Geräte loswerden will. Daraus folgt immer: Es hätte auch anders sein können (1).
Zahlen und ›Fakten‹ sind nicht die Wirklichkeit
Das klingt banal, ist es aber offenkundig nicht. Sonst würden die Redaktionen der Leitmedien nicht behaupten, dass sie ›Fakt‹ und ›Meinung‹ trennen können. Sonst hätten wir ab März 2020 nicht beobachten können, wie Zahlen alles umbauen, was wir vorher kannten. Wir haben gelernt: Zahlen und ›Fakten‹ sind nicht die Wirklichkeit. Sie erzeugen sie erst. Inzidenz soundso hoch, und schon zapft der Wirt selbst dann kein Bier mehr, wenn draußen die Sonne scheint. Die Redaktionen der Leitmedien wissen um dieses Prinzip.
Sagen, was ist: Das berühmte Motto von Spiegel-Gründer Rudolf Augstein lässt sich leicht in die Zukunft verlängern. Wir sagen, was sein wird. Wir dürfen das, weil wir mehr wissen als die meisten anderen. Nicht nur der öffentlich-rechtliche Rundfunk sendet deshalb allzu oft eine Wahrheit, die ein kleines bisschen mehr ist als nur die Wirklichkeit. ›Wahr‹ wird hier das, was die Redaktionen für ›gut‹ halten und für ›erstrebenswert‹. Was die gebildeten Schichten in Großstädten für ›gut‹ halten und für ›erstrebenswert‹. Die Leitmedien verkaufen dann ›Wahrheiten‹, die die Welt ein wenig besser machen sollen – für ihre Klientel.
Eine Aussage, die mit der Wirklichkeit übereinstimmt: Hannah Arendt hat daraus eine schöne Definition gemacht. Wahrheit ist bei ihr »das, was der Mensch nicht ändern kann«. Belgien zum Beispiel, sagt Arendt, ist eben 1914 nicht in Deutschland eingefallen. Man muss diese Analogie sacken lassen. Wahrheit ist das, was der Mensch nicht ändern kann. Es genügt, sich dafür die eigene Familie vorzustellen und all die Geschichten, die dort kursieren. Irgendwann erfahren wir, wie das mit Tante Gisela und Onkel Kurt ›wirklich‹ war und mit wem ihre Tochter über Ostern etwas hatte. Vielleicht.
Hannah Arendt preist die »Hartnäckigkeit von Tatsachen« und weiß doch, wie schwierig das alles ist. »Wer es unternimmt zu sagen, was ist« (wie die Leitmedien, die Wissenschaft oder der Großvater, der uns in die Geheimnisse von Tante und Onkel einführt), der muss »eine Geschichte« erzählen und »die Fakten« mit Bedeutung aufladen und mit Sinn. »Tatsachenwahrheiten« (etwa: Onkel Kurt mochte Tante Gisela nie) werden dabei schnell »in eine Meinung verwandelt« oder gefälscht (die beste Ehe aller Zeiten). Hannah Arendt: »Was hier auf dem Spiele steht, ist die faktische Wirklichkeit selbst, und dies ist in der Tat ein politisches Problem allererster Ordnung«. Weiter im Text: »Meinungsfreiheit ist eine Farce, wenn die Information über die Tatsachen nicht garantiert ist« (2).
Fakten sind von Menschen gemacht
Die ›Fakten‹, um die es in der Corona-Debatte geht, sind von Menschen gemacht. Manche tragen einen weißen Kittel, manche einen Schlips. Das macht sie nicht automatisch besser. Hannah Arendt wusste, warum es so leicht ist, »Fakten« und »Ereignisse« zu manipulieren oder aus der Welt verschwinden zu lassen (selbst »Tatbestände, die allgemein bekannt sind«) und durch ein Image zu ersetzen, das besser in die herrschende Ideologie passt: »Fakten besitzen keinerlei zwingende Evidenz für den menschlichen Verstand, sie sind zumeist noch nicht einmal einleuchtend«. Oder an anderer Stelle: »Alles, was sich im Bereich menschlicher Angelegenheiten abspielt – jedes Ereignis, jedes Geschehnis, jedes Faktum – könnte auch anders sein, und dieser Kontingenz sind keine Grenzen gesetzt«. Onkel Kurt und Tante Gisela. »Mit der Vernunft« komme die »Täuschung« folglich »nie in Konflikt, weil die Dinge ja tatsächlich so sein könnten, wie der Lügner behauptet« (3).
So viel Unsicherheit können wir offenbar nicht ertragen. Jede Gesellschaft, sagt Michel Foucault, hat und braucht ein »Wahrheitsregime« – Techniken, von denen wir annehmen dürfen, dass sie Wahrheit produzieren, Menschen, die befugt sind, diese Wahrheiten dann zu verkünden, und Mittel, um Abweichler zu sanktionieren (4). Die Wortwahl spart mir einen Ausflug in die Geschichte, um die Parallelen zur Kirche herauszuarbeiten. Die Priester der Gegenwart arbeiten in der Wissenschaft oder im Journalismus und stützen sich gegenseitig. Zu ihren heiligen Schriften gehören Der Spiegel, die Süddeutsche Zeitung und Wikipedia. Und um ein Inquisitionsverfahren einzuleiten, brauchen sie nur einen Tweet. Ich erzähle gleich, wie so ein Angriff aus mir einen Verschwörungstheoretiker gemacht hat und einen Helfershelfer des Antisemitismus und wie schwer es dann ist, im »Wahrheitsregime« noch einen Fuß auf den Boden zu bekommen.
Die Position des Journalismus wackelt
Um diese Geschichte und die neue Eskalationsstufe zu verstehen, die der Kampf um die Wahrheit gerade erreicht, skizziere ich vorher das Schlachtfeld. Die Position des Journalismus im Wahrheitsregime der Gegenwart wackelt. Vorbei die Zeit, in der die Menschen geschluckt haben, was ihnen Tagesschau und Tagesthemen berichten. Das hat auch damit zu tun, was aus diesen Sendungen geworden ist – aber noch mehr damit, dass längst Aussage gegen Aussage steht, wenn man so will. Wer den Aufwand nicht scheut, findet in Windeseile Portale, die die Wirklichkeit ganz anders beschreiben als öffentlich-rechtliche TV-Nachrichten.
In den USA starb der Respekt vor Journalisten, Fachleuten, Insidern (vor all jenen, die bis dahin im Fernsehen die Politik erklärt hatten), als die Soldaten im Irak nichts von den Massenvernichtungswaffen fanden, die sie angeblich sicherstellen sollten (5). In Deutschland hat es den Ukraine-Krieg gebraucht, den Flüchtlingsstrom, die Klimadebatte, Corona. Und der Journalismus? Er verteidigt seine Stellung, indem er nach dem letzten Anker greift.
Die Wissenschaft ist heute das, was vor gar nicht so langer Zeit Tradition und Religion waren. Das »letzte Fundament«, auf das sich eine zerfaserte, zerstrittene, auseinanderbrechende Gesellschaft »noch verständigen« kann. »Viele Gesetze, Regelungen oder Richtlinien brauchen heute zwingend eine Begründung durch die Wissenschaft« (6). Das Problem: Die Wissenschaft, die sich nur für die Wahrheit interessiert und für sonst nichts, ist eine Schimäre. Die Idee, dass wir es hier mit Menschen zu tun haben, die »uneigennützig« und womöglich sogar »unentgeltlich« arbeiten: Das ist die illusio des akademischen Feldes (7).
Wissenschaft am Pol der Macht
Dieses Feld ist längst gekapert worden von den Imperativen der Wirtschaft (Geld!), der Politik (Macht!) und der Medien (Aufmerksamkeit!) und außerdem ein Ort, an dem sich Menschen begegnen. Das heißt: Woran in diesem Feld gearbeitet wird, hängt von Beziehungen ab und vor allem davon, was der Machtpol gerade goutiert. Mit Pierre Bourdieu formuliert: »Es ist die Struktur der objektiven Beziehungen zwischen den Akteuren, die festlegt, was sie tun können und was nicht«. Damit ist nicht »unmittelbarer Zwang« gemeint, sondern ein Belohnungssystem. Bourdieu: Im »Wissenschaftsbetrieb (legen) die herrschenden Forscher oder Forschungen zu jedem Augenblick eine Gesamtheit der bedeutenden Gegenstände fest, der Fragen, die für alle anderen Wissenschaftler Bedeutung haben, denen sie ihre Anstrengungen widmen und deren Verfolgung sich schließlich ›bezahlt‹ macht« (8). Übersetzt: Welche Themen versprechen Verträge, die über das Jahresende hinausgehen, mit welchen Methoden muss ich forschen, um einen Lehrstuhl zu bekommen oder gar den Chefposten in einem großen Institut?
Das alles war schon so, bevor Drittmittel zur Leitwährung aufgestiegen sind (Extragelder vom Staat oder aus der Wirtschaft, die dem Feld diktieren, woran es zu arbeiten hat, und so seine Autonomie unterlaufen) und bevor auch hier die Gier nach Prominenz oder wenigstens nach öffentlicher (medialer) Legitimation durchschlug. Wissenschaftler wollen (wie alle anderen auch) ihre Position verbessern. Virologie gegen Soziologie gegen Geschichte. Das sagt noch nichts gegen den Inhalt, wohl aber etwas gegen jeden blinden Glauben an alles, was uns Menschen in Laborklamotten und mit akademischen Titeln erzählen. Jede Medizin-Professur hat pro Jahr knapp 600.000 Euro Drittmittel (9). Das Gehalt des Lehrstuhlinhabers kostet den Staat etwa ein Sechstel. Man sollte sich deshalb nicht wundern, wenn Mediziner vor der Kamera erzählen, dass Autoabgase ungefährlich sind oder dass uns alle nur eine Impfung retten kann. Der Volksmund sagt: Wer zahlt, schafft an.
Wer beherrscht das Wahrheitsregime?
Michel Foucault hat von »Wahrheitsspielen« gesprochen, als er kurz vor seinem Tod den »Gebrauch der Lüste« sezieren und verstehen wollte, wie die »Wahrheit« entsteht, die wir uns über die Sexualität erzählen (10). Das Bild vom Spiel ist schön und Foucaults Thema sicher angemessen, verniedlicht aber, um was es geht. Es ist nicht egal, wer gewinnt und wer verliert, weil das »Spiel« um die »Wahrheit« über die Wirklichkeit entscheidet, in der wir leben.
Foucaults »Wahrheitsspiele«: Nach welchen Regeln werden bestimmte ›Fakten‹ zu Corona, Behandlung oder Impfung ›wahr‹ und andere ›Fakten‹ gleichzeitig ›falsch‹? Wer entscheidet nach welchen Kriterien, dass die eine Expertin gehört wird und die andere nicht? Dass die eine Studie gepriesen wird und die andere verrissen?
Wer das Wahrheitsregime beherrscht, kann Grenzen markieren (was darf gesagt werden und was nicht) und diejenigen bestrafen (lassen), die diese Grenzen überschreiten. O-Ton Foucault: »Es ist immer möglich, dass man im Raum eines wilden Außen die Wahrheit sagt; aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer ›diskursiven Polizei‹ gehorcht«. Überwacht werden dabei nicht nur Inhalt und Form. Zur »Kontrolle der Diskurse« gehört bei Foucault die »Verknappung« der »sprechenden Subjekte« (11).
Das heißt: Es genügt, die Überbringer zu diskreditieren, um den Raum des Sagbaren freizuhalten von der Botschaft. Journalismus und Politik können inzwischen auf ein ganzes Arsenal an Waffen zurückgreifen, wenn ihr Wahrheitsregime angegriffen wird. Fake News, Hate Speech und asoziale Medien, Populismus und Extremismus, Querdenkerin, Antisemit und Verschwörungstheoretikerin. Jede Tageszeitung hat einen Ratgeber gedruckt, der uns sagt, was man tun muss, wenn es Familie und Freunde erwischt und wir all die bösen Gedanken plötzlich beim Geburtstagskaffee diskutieren müssen. Auf der Webseite der Bundesregierung wird das zu einer Didaktik für Kleinkinder oder für den dementen Großvater. »Sich selbst gut informieren«, »sprechen statt schreiben«, »Fragen stellen, Angebote machen«, »Hilfe holen« (12). Motto: Wir fühlen mit euch und drücken ganz sehr die Daumen.
Es geht um Definitionsmacht
Die Bundesregierung und ihre Propagandisten sorgen sich allerdings nicht um uns oder um unsere Liebsten, sondern um ihr Wahrheitsregime. Es geht um Definitionsmacht: Wer darf sagen, was wir für ›wahr‹ halten sollen? Bei den ›Fake News‹ verrät das schon der Begriff. Wo es ›Fake News‹ gibt, muss es ›richtige‹ News geben. Die ›Wahrheit‹ sozusagen, nicht gefälscht und nicht in Mazedonien ausgedacht (wo Computerfreaks so den US-Wahlkampf 2016 torpediert haben sollen) oder gar in Moskau, sondern da zu finden, wo ›News‹ draufsteht.
Die Politik, der Journalismus und die Wissenschaft haben mitgeholfen, dass viele heute sofort an Facebook, an Twitter oder an Youtube denken, wenn sie ›Fake News‹ hören, und nicht an Informationen der Regierungen. Ein Beispiel: Im Irakkrieg 2003 haben US-Behörden lokale und regionale Fernsehstationen mit Jubelbildern versorgt und die Öffentlichkeit so beschwichtigt. Seht her, die Menschen im Irak feiern unsere Jungs und ihre Uniformen. Billig, aktuell, aber kein Journalismus. Fake News, geliefert direkt aus dem Zentrum der Macht (13).
Das Schimpfwort ›Fake News‹ sagt zunächst nur: Ich habe Recht. Basta. Genauso funktioniert das Etikett Verschwörungstheorie – noch so ein Begriff, der nicht das bedeutet, »was er zu meinen vorgibt«. Es geht weder um irgendwelche Intrigen, zu denen sich »Menschen im Geheimen« verabreden, noch um »eine kriminalistische Ermittlungshypothese«. Es geht nicht »um Wahr oder Falsch oder überhaupt um eine ergebnisoffene Beweissuche« (14). Der Begriff Verschwörungstheorie steht für mindestens dummes, wahrscheinlich krankhaftes und in jedem Fall gefährliches Denken. Dieser Begriff funktioniert wie ein Dopingvorwurf vor Olympia. Person und Thema sind sofort für die »Wahrheitsspiele« disqualifiziert.
Die Kontrolleure (um im Bild zu bleiben) nutzen dafür ein billiges Mittel: Sie vermengen das, was sie ausschließen wollen, mit offenkundigem Blödsinn. Listen mit Verschwörungstheorien, die angeblich populär sind, gibt es wie Sand am Meer. Dort stehen Groteskes (Bielefeld ist eine Erfindung) und Rassismus (es gab keinen Holocaust) neben Aussagen über mögliche Regierungs- oder Geheimdienstverbrechen und Interpretationen, die das Wahrheitsregime ausblendet (15). Willi Winkler, der im Mai 2020 für die Süddeutsche Zeitung auf »Hygienedemos« in Berlin war, brachte in seiner Seite-3-Geschichte sogar Angela Merkel als »natürliche Tochter Adolf Hitlers« unter. »Sie wurde, falls Sie‘s nicht wussten, mit dem vorsichtshalber tiefgefrorenen Sperma des 1945 tragisch hingeschiedenen Führers gezeugt« (16).
Das ist nicht lustig, leider. Die »Wahrheitsspiele« der Gegenwart erinnern eher an die Hunger Games von Suzanne Collins (und damit an ein gnadenloses Ringen um Leben und Tod) als an Olympia. Das haben die Hüter der ›Wahrheit‹ in den folgenden Monaten unmissverständlich klargemacht. Verwarnungen und Sperrungen für alle, die auf den digitalen Plattformen das Corona-Wahrheitsregime in Frage stellen wollten. Daumen hoch in den Leitmedien, Meinungsfreiheit hin oder her. Als Youtube den Kanal von Ken Jebsen am 22. Januar 2021 endgültig abschaltete, wurde noch einmal das ganze Repertoire aufgerufen. Corona-Leugner, Falschinformationen zur Pandemie, Verstoß gegen ›Community-Richtlinien‹, Verschwörungserzähler, Antisemit, 9/11. In der entsprechenden Meldung der Deutschen Presseagentur (und damit auf den allermeisten Nachrichtenseiten) hieß es, dass Youtube in der Vergangenheit bereits mehrere »rechtsextreme Kanäle« gesperrt habe, darunter auch Martin Sellner von der Identitären Bewegung. Viel mehr muss man offenbar in Deutschland nicht sagen, um jeden öffentlichen Aufschrei zu unterdrücken.
Michael Butter, einer der Wissenschaftler im Streitwagen der Macht, schaffte es in einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit sogar, »Freedom of Speech« und »Freedom of Spread« (Freiheit der Verbreitung) zu trennen und so die Zensur über Suchmaschinen und Plattformen zu legitimieren (17). Soll doch jeder sagen dürfen, was er will, solange ihn keiner hören kann. Butter, ein Amerikanist, hat sich via Suhrkamp-Verlag für ein Sprecheramt im Wahrheitsregime angeboten – mit der Behauptung, dass Verschwörungstheorien immer »falsch sind« (»noch nie« habe sich »eine Verschwörungstheorie im Nachhinein als wahr herausgestellt«) (18). Der Zeit gab er im Januar 2021 einen Tipp, wie das Fernsehen die Impfskepsis abbauen könnte: »Das ist nicht ganz mein Metier, aber vielleicht muss man auch einfach mal Christian Drosten, Sandra Ciesek und anderen Experten um 20.15 Uhr auf allen Kanälen 30 Minuten geben und erklären lassen, wie die Impfungen funktionieren«. Fehlt nur noch, dass niemand mehr seinen ›Teleschirm‹ abstellen kann, und schon sind wir mittendrin im Jahr 1984 von George Orwell.
Wikipedia als Teil des Wahrheitsregimes
Dem Wahrheitsregime aus Wissenschaft und Journalismus ist in den letzten Jahren ein neuer Kopf gewachsen: Wikipedia. Wer bestimmen kann, »was dort steht, der legt fest, was allgemein als wahr akzeptiert wird«. Es gibt keine Konkurrenz mehr, und Google listet Wikipedia ganz weit oben. Ich vermeide das Wort ›Online-Enzyklopädie‹, weil es verschleiert, dass hier »ideologisch motivierte Bloggernetzwerke« und »erstaunlich viele freie Journalisten« genauso an der ›Wirklichkeit‹ schrauben wie »Unternehmen, Lobbyorganisationen und PR-Firmen« (19). Etwas verkürzt: Den Kampf um die Wikipedia-Wahrheit gewinnen die, die am meisten Zeit haben, am wenigsten Skrupel oder die größten Sponsoren. Dies gilt natürlich zunächst nur für die Einträge, die irgendwie ›umstritten‹ sind. Personen, Themen. Der Nahost-Konflikt, Impfen, Homöopathie. Die Liste ist lang.
Dass auch ein Journalismus, der jede Glaubwürdigkeit verloren hat, über den Umweg Wikipedia Wahrheit produziert, habe ich selbst erlebt. Ob die Redaktionen nur instrumentalisiert oder selbst aktiv werden, tut dabei nichts zur Sache. Zum Prinzip von Wikipedia gehört, dass Pressetexte und TV-Beiträge dort als legitime Quelle gelten – vor allem dann, wenn sie in den Leitmedien veröffentlicht wurden. Das Oberbayerische Volksblatt aus der Region Rosenheim zum Beispiel (Auflage: um die 50.000 Exemplare) stößt in der Community auf Skepsis und ein gedruckter Leserbrief erst recht.
Sie merken: Ich bin schon mitten in meiner ganz persönlichen Geschichte, bei der Wahrheit, die Wikipedia über mich erzählt. Lange konnte man dort gar nichts lesen. Ein Professor aus einer eher unbedeutenden akademischen Disziplin, okay. Davon gibt es viele. Geändert hat sich das erst, als ich im November 2018 in meiner Veranstaltungsreihe Medienrealität live Andreas Zumach zu Gast hatte. Thema: Israel, Palästina und die Grenzen des Sagbaren (20). Ein Stich ins Wespennest sozusagen. Seitdem wächst mein Wikipedia-Eintrag – vor allem die Teile mit den Überschriften »Positionen« und »Kontroversen«.
Für eine neue Wahrheit genügt dabei eine anonyme Attacke – über Twitter etwa oder auf Blogs, die unter Pseudonym oder ganz ohne Unterschrift mit Dreck um sich werfen. Das kann absurd sein oder offenkundig Unfug. Völlig egal. Wichtig ist einzig und allein, dass die Leitmedien etwas davon aufnehmen. Dafür braucht es Nachrichtenwert. Im Mai 2020 haben es die Moralapostel via Twitter geschafft, dass sich Kolleginnen und Kollegen an meinem Institut öffentlich von mir distanziert haben. Der Süddeutschen Zeitung war das eine Notiz wert. Ein Konflikt unter Gelehrten: Darüber kann man schreiben. Über den Ausgang des Konflikts wurde nicht mehr berichtet. So bleibt die Distanzierung genauso ›wahr‹ wie die Behauptung, dass ich in meinem Blog Medienrealität »fragwürdigen Ansichten ein Forum« geboten und Ken Jebsen »als professionellen Journalisten kennengelernt« hätte. Wikipedia weiß auch (weil ich es der Bayerischen Staatszeitung gesagt habe), dass meine Klage gegen den SZ-Artikel erfolglos war. Dieses Verfahren wäre eine eigene Analyse wert. Ich habe dabei gelernt, dass sinnentstellende Paraphrasen offenbar nicht justiziabel sind.
»Meyen duldet in seinem Blog fragwürdige Thesen zu Bill Gates«
Am Tag nach der Veröffentlichung, das ist viel interessanter, wurde im Bayerischen Verwaltungsgerichtshof über eine Klage verhandelt, bei der es um den Münchener BDS-Beschluss ging. In Kurzform: In städtischen Einrichtungen darf man seit Dezember 2017 nicht mehr über die Kampagne ›Boycott, Divestment and Sanctions‹ sprechen. Vor Gericht ging es um ein Podium (»Wie sehr schränkt München die Meinungsfreiheit ein? Der Stadtratsbeschluss vom 13.12.2017 und seine Folgen«), das nicht stattfinden konnte, weil der Saal im Stadtmuseum nicht gemietet werden durfte.
Der Kläger ist nicht mehr ganz jung. In der Gruppe, die ihn unterstützt, reifte irgendwann der Gedanke, die Klägergruppe zu erweitern. Man weiß ja nie, wie lange so ein Prozess dauert. Ich wurde gefragt und habe ja gesagt. Der Antrag wurde zwar auf Rat des Richters noch vor Ort zurückgezogen, aber das wussten weder die Angreifer auf Twitter noch die Süddeutsche Zeitung. Der Gerichtsreporter, der neben mir saß, hat meine Beteiligung am nächsten Tag als Tatsache gemeldet – nicht ohne darauf hinzuweisen, dass dieser Meyen in seinem Blog Medienrealität »fragwürdige Thesen unter anderem zu Bill Gates und dem antisemitischen Verschwörungsideologen Ken Jebsen vertritt oder zumindest duldet« (21).
Diesen Reporter habe ich ein halbes Jahr später wieder in einem Gericht getroffen, auf seine Falschmeldung angesprochen und um Korrektur gebeten – auch wegen der Wahrheitsagentur Wikipedia. Ergebnis? Ein neuer Artikel, der den nächsten anonymen Angriff wahrheitsfähig machte – diesmal einen Text, den ein ›Linkes Bündnis gegen Antisemitismus München‹ gegen mich geschrieben hatte. Dieser Text war so infam, dass ich dagegen geklagt habe – mit dem Erfolg, dass er via Gerichtsbericht der Süddeutschen Zeitung in Wikipedia aufgenommen werden konnte.
Das Wahrheitsregime braucht eine einstimmige Wissenschaft
Warum erzähle ich diese Geschichte? Das Wahrheitsregime aus Journalismus und Politik braucht eine Wissenschaft, die mit einer Stimme spricht. Ein Forscher, der am Mythos der Leitmedien kratzt und vielleicht sogar noch Kampfbegriffe wie Fake News oder Verschwörungstheorie entlarvt? Mmh. Nicht auszudenken, wenn jemand glaubt, dass es mehr als eine Wahrheit gibt.
Diese Wahrheit ist via Wikipedia sehr viel leichter zu steuern als in den klassischen Lexika. Es genügt, in die Leitmedien zu kommen. Das heißt erstens, dass das neue Wahrheitsregime dem Imperativ der Aufmerksamkeit folgt. In einem kommerzgetriebenen Mediensystem wird das gemeldet, was vom Durchschnitt abweicht. Mit keinem meiner ›Erfolge‹ (Bücher, Forschungsverbünde) habe ich es in die Zeitung geschafft. Mein Wikipedia-Leben besteht aus einem Diskussionsabend und einer Prozessbeteiligung, zu der es in der Wirklichkeit gar nicht gekommen ist.
Zweitens, das ist wichtiger, lassen sich solche Wahrheiten heute viel leichter produzieren. Entweder ich bediene die Handlungslogik des Mediensystems und schaffe Anlässe für die Berichterstattung (etwa: persönliche Attacken auf Twitter und in Blogs) oder ich habe Verbündete in den Redaktionen. Zugespitzt: Ein anonymer Wikipedia-Autor mit einer entsprechenden Position in der dortigen Hierarchie kann auf einem anderen Kanal (womöglich wieder anonym) die Lawine lostreten, die ihn in den Edit-Wars um einzelne Einträge zum Sieger macht.
Die Medienforschung ist nicht wirklich wichtig. Man kann sich ausmalen, welche Kräfte hier wirken, wenn es tatsächlich um etwas geht. Geopolitik, Industrieprofite, Impfbereitschaft. Solche Sachen. Der Biologe Clemens Arvay hat das eindrucksvoll beschrieben (22). Zwei Nummern kleiner kann ich das auch bei mir beobachten. Die Presseberichte und der Wikipedia-Eintrag verfolgen mich auf Schritt und Tritt – in Vorlesungen und Seminaren, auf Tagungen oder bei anderen Zusammenkünften im System Wissenschaft, bei öffentlichen Auftritten und selbst in Leserbriefen, die auf Interviews mit mir reagieren. Warum gebt ihr diesem Menschen ein Forum? Lest ihr keine Zeitung? Warum informiert ihr euch vorher nicht? Wer mich für einen Vortrag einlädt, muss mit Druck von innen (aus der Partei, der Schule, der Kultureinrichtung) und von außen rechnen. Auch deshalb gefällt mir der Begriff Wahrheitsregime besser als Foucaults Metapher Wahrheitsspiele.
Noch einmal: Warum habe ich diese Geschichte erzählt? Die Position der Leitmedien im Wahrheitsregime der Gegenwart wackelt zwar, aber die Anonymität der digitalen Plattformen und das Monopol von Wikipedia haben ganz neue Möglichkeiten eröffnet, das gesellschaftliche Wissen über die Wirklichkeit zu manipulieren (über Phänomene, die ohne unser Wollen da sind). Der Journalismus ist in diesem neuen Wahrheitsregime nach wie vor ein zentraler Anker. Hier entscheidet sich immer noch, welche Aussagen wahrheitsfähig werden, auch wenn dazu inzwischen die Wissenschaft (möglichst einstimmig) und ein Online-Lexikon gebraucht werden. Das heißt: Medienkritik bleibt wichtig – muss aber Wissenschaft und Wikipedia einbeziehen.
Über den Autor: Prof. Dr. Michael Meyen, Jahrgang 1967, studierte an der Sektion Journalistik und hat dann in Leipzig alle akademischen Stationen durchlaufen: Diplom (1992), Promotion (1995), Habilitation (2001). Parallel arbeitete er als Journalist (MDR info, Leipziger Volkszeitung, Freie Presse). Seit 2002 ist Meyen Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU München. Seine Forschungsschwerpunkte sind Medienrealitäten, Kommunikations- und Fachgeschichte sowie Journalismus. Er betreibt den Blog Medienrealität.
Weitere Artikel zum Thema:
- Wie die NZZ über Daniele Ganser schreibt (Marcus Klöckner, 11.2.2021)
- Die Mainstream-Blase (Ralf Arnold, 31.1.2021)
- Der heilige Gral der Gegenaufklärung (Ansgar Schneider, 11.9.2020)
- Wenn Fakten zu Verschwörungstheorien werden (Carsten Forberger, 27.5.2020)
- Simulierter Journalismus (Paul Schreyer, 5.3.2020)
Anmerkungen
(1) Vgl. Steffen Mau: Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen. Berlin: Suhrkamp 2017
(2) Hannah Arendt: Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays. 3. Auflage. München: Piper 2016, S. 58, 82, 89, 92
(3) Ebd., S. 10, 63, 75f.
(4) Michel Foucault: Die Regierung der Lebenden. Vorlesungen am Collège de France 1979–1980. Berlin: Suhrkamp 2014, S. 122
(5) Vgl. Jeffrey P. Jones: Entertaining Politics. Satiric Television and Political Engagement. Second Edition. Plymouth: Rowman & Littlefield 2010
(6) Christian Kreiß: Gekaufte Wissenschaft. Wie uns manipulierte Hochschulforschung schadet und was wir dagegen tun können. Hamburg: tredition 2020, S. 25
(7) Pierre Bourdieu: Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes. Konstanz: UVK 1998, S. 27
(8) Ebd., S. 20-22
(9) Walter van Rossum: Meine Pandemie mit Professor Drosten. Vom Tod der Aufklärung unter Laborbedingungen. Neukirchen: Rubikon 2021, S. 71
(10) Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 13
(11) Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Rolf Konersmann. 13. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2014, S. 25f.
(12) Was tun, wenn Familie oder Freunde an Verschwörungsmythen glauben? In: Die Bundesregierung vom 28. September 2020
(13) Vgl. Andreas Elter: Die Kriegsverkäufer. Geschichte der US-Propaganda 1917-2005. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 312
(14) Paul Schreyer: Chronik einer angekündigten Krise. Wie ein Virus die Welt verändern konnte. Frankfurt am Main: Westend 2020
(15) Vgl. Ansgar Schneider: Der heilige Gral der Gegenaufklärung. In: Multipolar vom 11. September 2020
(16) Willi Winkler: Nö, einfach nö. In: Süddeutsche Zeitung vom 11. Mai 2020, S. 3
(17) Michael Butter: »Die Corona-Impfung ist ein Traum für Verschwörungstheoretiker«. In: Die Zeit vom 23. Januar 2021
(18) Michael Butter: »Nichts ist, wie es scheint«. Über Verschwörungstheorien. Berlin: Suhrkamp 2018, S. 37
(19) Andreas Mäckler (Hrsg.): Schwarzbuch Wikipedia. Mobbing, Diffamierung und Falschinformation in der Online-Enzyklopädie und was jetzt dagegen getan werden muss. Höhr-Grenzhausen: Zeitgeist 2020, S. 27, 65f.
(20) Vgl. Michael Meyen: Antisemitenmacher live (und mit Fahnen). In: Michael Meyen (Hrsg.): Medienrealität 2018. Auf der Seite gibt es auch ein Video der Veranstaltung.
(21) Stephan Handel: Gericht will städtischen BDS-Beschluss kippen. In: Süddeutsche Zeitung vom 28. Mai 2020
(22) Clemens Arvay: „Ich lasse mir von der Wikipedia nicht meine Identität stehlen“. In: Nachdenkseiten vom 4. Februar 2021
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