Einen Nerv getroffen
STEFAN KORINTH, 26. Januar 2021, 3 Kommentare, PDFAusgangspunkt der Idee war der öffentliche Umgang mit den „normalen“ Straßenprotesten bis dahin: Viele klassische Demonstrationen für die Beibehaltung der Grundrechte und gegen die politischen Corona-Maßnahmen im vergangenen Jahr erfuhren extremen Gegenwind. Besonders die beiden Großveranstaltungen der Querdenken-Bewegung am 1. und am 29. August in Berlin hatten mit verschiedenen Gegenmaßnahmen von Politik, traditionellen Medien und Polizei zu kämpfen. Da es sich um offene Großdemonstrationen mit Kundgebungen handelte, boten sie auch allerlei Möglichkeiten, in ihren Abläufen behindert und in ihrer Außendarstellung diskreditiert zu werden.
Städtische Behörden und Polizei belegten die Veranstaltungen bereits im infektionsarmen Hochsommer mit zahlreichen Auflagen oder unterbanden sie sogar mit Gewalt – und das gegen anderslautende Gerichtsurteile. Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) verbot die Demonstrationen Ende August, scheiterte damit aber vollständig an beiden juristischen Instanzen. Zahlreiche weitere Politiker der großen Parteien agitierten permanent mit abwertenden Pauschalurteilen und beleidigenden Unterstellungen gegen die Teilnehmer. Die Politiker waren durchweg darauf bedacht, absolut legitime Kritik an der Regierung als Idiotie oder Extremismus darzustellen.
Die klassischen Medien unterstützten diese Taktik. Sie verzerrten das Teilnehmerbild, indem sie in ihrer Berichterstattung aus einer bunt zusammengewürfelten Masse von Demonstranten eine Ansammlung von rechten Extremisten machten. Sie verschwiegen faktisch die begründete inhaltliche Kritik an den Regierungsmaßnahmen sowie die Anwesenheit prominenter Redner. Von den Reden, Plakaten oder Fahnen der Teilnehmer waren nur die von medialem Interesse, die irgendwie gegen die Anliegen der Demonstranten benutzt werden konnten.
Der Medien-Mainstream stellte schwerpunktmäßig gewalttätige Auseinandersetzungen anderer Gruppen (Reichsbürger, Antifa, anonyme Provokateure) mit der Polizei in den Mittelpunkt, obwohl diese Vorfälle wenig bis gar nichts mit den eigentlichen Demonstrationen selbst zu tun hatten. Eine Diagnose, die sich insgesamt auch bei späteren Demos, wie im November in Leipzig, bestätigte.
Schwarze Wahrheit als Protestform
Um den Anliegen der friedlichen Demonstranten öffentlich effektiver Gehör zu schenken, wies der Autor dieser Zeilen im September bei Multipolar auf das Konzept der Schwarzen Wahrheit hin. Eine Vorgehensweise, die Schwachpunkte bisheriger Demos vermeidet, die Protestinhalte aber trotzdem auf die Straße bringt, da diese Methode das Objekt ihrer Kritik nicht durch Ablehnung, sondern genau andersherum angeht: durch völlig übertriebene Zustimmung.
Schwarze Wahrheiten sind Aussagen, die unter den herrschenden Verhältnissen zwar wahr sind, aber faktisch viel zu extrem, als dass sie irgendjemand ernsthaft vertreten könnte. Sie dienen als eine Art absurde Überzeichnung dazu, den Vertretern der herrschenden Verhältnisse einen kritischen Spiegel vorzuhalten. Als Aktionskunst kann das ein aufrüttelndes Mittel des politischen Protests gegen fragwürdige ideologische Überbauten sein. Die vorherrschende Ideologie – in diesem Fall die bisherigen Corona-Maßnahmen und die dazugehörige rein virologische Argumentation – wird dazu konsequent weitergedacht, um ihr extremes Ende eines autoritären, tief ins Private hineinreichenden Überwachungskapitalismus sichtbar zu machen.
Die Demonstranten kritisieren die politischen Maßnahmen also nicht, sondern bejahen sie dermaßen überspitzt, dass selbst die größten Lockdown-Befürworter nicht mehr dafür sein können – so die Idee. Dazu gehörte der Hinweis, dass alle Demoteilnehmer eine Mund-Nasen-Bedeckung tragen sollten, idealerweise in einheitlicher Farbe. Sie halten sich dadurch nicht nur an die Auflagen, sondern entreißen die Maske den Herrschenden als Symbol und machen sie zum Zeichen des Protests.
Keine Reden, keine Fahnen
Es ist wichtig, sich auf ein Symbol und eine Botschaft zu einigen, um in der öffentlichen Darstellung die Kontrolle über die eigene Außenwirkung zu gewinnen. Die Empfehlung beinhaltete deshalb auch, die Botschaft mithilfe bildstarker, einheitlicher Auftritte ohne Reden, ohne Fahnen, ohne Plakate zu transportieren, um (mutwillige) mediale Fehlinterpretationen zu erschweren.
Offenbar traf dieser Debattenbeitrag im September einen Nerv in Teilen der kritischen Bevölkerung. In den folgenden Tagen meldeten sich zahlreiche Menschen bei Multipolar, die aktiv werden wollten – darunter auch mehrere Theatermacher und andere Künstler, deren Potenzial durch die politischen Verbote brachliegt.
In den Monaten seitdem organisierten Interessierte in der Schweiz, Österreich, den Niederlanden, Luxemburg und Deutschland vernetzt über den Messengerdienst Telegram und andere Kanäle dutzende Protestaktionen in der Logik der schwarzen Wahrheiten. Zahlreiche Menschen warteten offensichtlich nur darauf, friedlich, aber auf neuen Wegen etwas gegen die sozioökonomisch zerstörerische (und medizinisch wirkungslose) Corona-Politik ihrer Regierungen zu unternehmen.
Weiße Anzüge, dystopische Botschaften
Die Protestaktionen waren von Beginn an organisatorisch völlig unabhängig von Multipolar beziehungsweise vom Autor. Auch inhaltlich haben sie sich schon lange verselbstständigt. Die künstlerische Bandbreite bei der Umsetzung ist grundsätzlich sehr groß. Doch vor allem folgende Vorschläge aus dem Ursprungsartikel wurden von den Aktivisten aufgenommen und weiterentwickelt:
„Haltet die Abstände überdeutlich ein und marschiert diszipliniert und monoton wie eine Armee trauriger Corona-Zombies durch die Stadt. (…) Parallel könnten laut vom Band die bekannten Parolen der Maskenbefürworter laufen, die von den Demonstranten im Chor und monoton nachgesprochen werden. (…) Diese Sprüche könnten vermischt werden mit extremeren Botschaften der Zukunft: „Maskenverweigerer ins Gefängnis“, „Alle Menschen sind gefährlich“, „Zutritt nur mit Impfung“, „Es gibt kein Recht auf Freiheit“, „Jeder muss die Spritze kriegen.“ So manchem Gegner, Passanten und Mediennutzer würde es wie Schuppen von den Augen fallen oder zumindest kalt den Rücken herunterlaufen. (…) In einer Fußgängerzone reichen schon ein paar Dutzend Leute, um Aufsehen zu erregen.“
Dementsprechend finden die meisten Auftritte als kleine Prozessionen in städtischen Fußgängerzonen statt. Dabei ziehen ein bis zwei Dutzend Aktivisten mit Masken und in weißen Maleranzügen, die wie Seuchenschutzanzüge wirken, langsam und im monotonen Gleichschritt durch die Straße. Es gibt aber auch Aktionen mit roten oder schwarzen Umhängen oder in dunkler Alltagskleidung. Manche Flashmobs fanden in S-Bahnen, auf Weihnachtsmärkten oder in Einkaufszentren statt.
Die Teilnehmer tragen oft umgehängte Plakate mit dystopischen Botschaften, teilweise sind parallel ähnliche Aussagen vom Band zu hören, welche die Demonstranten dann „nachbeten“. Manche Aktionen enden auch mit positiven Botschaften – wie diese in Augsburg. Am meisten Aufsehen erzeugten Aktionen in Bern, in Hamburg und in Oberösterreich sowie parallele Flashmobs in mehr als zehn niederländischen Städten Ende November.
Soundtrack aus der Schweiz
Die „Mask Force Bern“, deren einmalige Aktion in der Schweizer Hauptstadt sowohl auf der Straße als auch im Internet großes Interesse erregte, hatte ein besonderes akustisches Begleitstück dazu entwickelt. Dieser Soundtrack wurde anschließend von Aktivisten in vielen anderen Orten übernommen. Eine künstliche Stimme trägt darin Parolen einer sterilen, menschenfeindlichen Version der Zukunft vor, die an die Losungen aus George Orwells Roman 1984 erinnern. „Allein sterben lassen ist Nächstenliebe“, „Wahre Freiheit findet in der Isolation statt“ oder „Selber denken gefährdet das Allgemeinwohl“. Unterlegt sind die Sätze unter anderem mit einem Atemgeräusch und dem Klang von Stiefeln im Gleichschritt.
„Die Sätze sind in einem gemeinsamen Brainstorming der Gruppe entstanden“, erläutert einer der Aktivisten aus Bern im Gespräch mit Multipolar. Das Kollektiv hat beschlossen anonym zu bleiben. Die Teilnehmer aus der Region um die Schweizer Hauptstadt kannten sich zuvor nicht, sondern vernetzten sich erst in bereits bestehenden Telegram-Gruppen. „Es gab Diskussionen, wie weit wir mit den Sätzen gehen können und wollen“, sagt der Mann. „Ein Satz wie: ‚Wollt Ihr die totale Gesundheit?‘ wollten wir nicht verwenden – obwohl das letztlich die unausgesprochene Botschaft ist.“
Den Soundtrack verschickte die Gruppe auf Anfrage mehrmals nach Deutschland, wo er seitdem bei vielen Auftritten regionaler Protestgruppen verwendet wird. Die Website der Österreicher Aktionsgruppe Hygienediktatur bietet die Audiodateien zum Herunterladen an. „Es meldeten sich auch Menschen, die das Video mit Untertiteln anderer Sprachen versahen“, erklärt der Aktivist von der „Mask Force Bern“. Selbst aus New York und Kanada gab es Anfragen. Inzwischen gibt es den Soundtrack auf Englisch, Polnisch, Französisch, Niederländisch und Spanisch. Der Mann, der im normalen Leben kein Aktionskünstler ist, sondern einen kleinen Betrieb leitet, betont im Gespräch, die „Mask Force Bern“ sei eine lose Gruppe, die sich für drei ganz verschiedene Auftritte zusammengefunden habe, aber derzeit keine weiteren Aktionen plane.
Phantome in Österreich
Inspiriert von dem Auftritt in Bern entwickelten drei Maßnahmenkritiker aus Österreich das Konzept weiter. Als „Phantome“, wie sie in österreichischen Medien inzwischen betitelt werden, ziehen sie unter den Klängen des oben erwähnten Soundtracks für strengere Maßnahmen durch die Städte des Landes. Einer der Organisatoren ist Georg Thaler aus Linz. Zum ersten Mal waren sie am 8. Dezember auf Tour, erklärt er im Gespräch mit Multipolar. Mit dem Bus fuhr die mittlerweile mehr als 50 Aktivisten umfassende Gruppe vier Städte in Oberösterreich ab und trat in den Innenstädten auf.
Zuerst stehe die große Gruppe auf einem Platz und lasse das Tonstück sechsmal oder mehr durchlaufen, so dass alle Passanten die Botschaft verstehen und Zeit genug zum Filmen haben, erläutert Thaler. Viele Zuschauer reagierten sehr positiv auf die Auftritte und zückten ihre Handykameras. „Andere waren sehr verstört. Der Ton ist ja laut und auch angsteinflößend. Manche Leute glaubten wirklich, wir fordern Maskenpflicht ein Leben lang.“ Die Phantome zeichnen kein positives Bild, sondern halten der Gesellschaft den Spiegel vor, betont er. „Wir polarisieren sehr stark.“
Bei einer Tour am 2. Januar unter anderem in Braunau und Ried hätte ihnen zahlreiche Leute applaudiert. „Dort gab es eine sehr gute Resonanz. Da sind schon viele aufgewacht“, unterstreicht Thaler. Die Menschen gingen den Aktivisten sogar nach und boten finanzielle Unterstützung für weitere Aktionen an. Die Videos gingen viral, Rückmeldungen kamen sogar aus Nordamerika. (In Toronto gab es Ende Dezember ebenfalls eine Phantomdemo). In Österreich bildeten sich mehrere neue Regionalgruppen. Insgesamt seien derzeit rund 330 Menschen in der Aktivistengruppe Mitglied.
Beim Auftritt zuletzt in Wien waren bereits zahlreiche Fernsehkameras auf die Phantome gerichtet. Thaler übertrug die Kunstaktion auf seinem Facebook-Livestream. Nur fünf Minuten später sperrte ihn der US-Konzern für das Senden weiterer Livestreams für die folgenden vier Wochen. Ein großes Lob spricht Thaler der Polizei aus, die bei jeder Demo höchst kooperativ war, auch zuletzt am 16. Januar in Wien.
An dieser Stelle sollen nicht alle ähnlichen Aktionen aufgezählt werden – dazu ist die Liste viel zu lang. Unter Suchbegriffen wie Schwarze Wahrheiten, Corona-Flashmob, Corona-Zombies oder Guerilla Mask Force finden sich Aufnahmen oder Berichte zu vielen Protestauftritten von Flensburg bis Basel, von Aachen bis Dresden.
Berichte der lokalen Medien
Spannend ist, wie die Medien über die regierungskritischen Aktionen berichteten. Bildlich sind die Aufführungen definitiv große Erfolge. Zeitungsredakteure finden die Fotos von den Menschen in weißen Anzügen sehr interessant, denn sie illustrieren nahezu alle Artikel damit. Das war zu erwarten. Diese Aktionsform führt in der herrschenden Aufmerksamkeitslogik zwingend zu Interesse.
Da es sich dabei oft um das einzige Foto im Artikel handelt, haben diejenigen Journalisten, die die Demos auf übliche Weise kritisieren wollen („Teilnehmer tragen keine Maske und halten keine Abstände“), jedoch ein Problem: Die Kritik passt nicht zum Bild. Diese Unvereinbarkeit führt zu logischen Schwierigkeiten der Darstellung. Idealtypisch zeigt das ein Artikel der Frankfurter Allgemeinen (FAZ) über eine Demo in Dortmund. Das Titelbild zeigt im Vordergrund voll-isolierte Menschen mit Schutzmaske, Schutzbrille und Schutzanzügen, während in der Überschrift (direkt über dem Foto) wie auch im Vorspann (direkt unter dem Bild) der Vorwurf zu lesen ist, die Querdenker trügen keine Masken. Bei Lesenden erzeugt das kognitive Dissonanzen und die Frage, wie redlich so ein Bericht ist.
Grundsätzlich lassen sich zwei Arten von Medienberichten zum Thema unterscheiden: Situationsbeschreibungen von Aktionen vor Ort und zusammenfassende Artikel, die versuchen, mit kleineren Recherchen die Hintergründe dieser Protestform darzustellen. Die Vor-Ort-Berichte unterscheiden sich danach, ob die Proteste in den weißen Anzügen Teil einer größeren Querdenker-Demo sind oder ob sie als selbstständige Aktionen stattfinden.
Manche Demoberichte setzen sich kaum bis gar nicht mit der Protestform auseinander – da die Aktivisten mit den Schutzanzügen in der Masse untergehen oder weil der jeweilige Autor diese Protestteilnehmer partout nicht erwähnen will, da Aktionskunst und Kreativität gemeinhin positiv besetzt sind.
In Berichten, die die Aktionen näher thematisieren, findet sich die ganze Bandbreite journalistischer Beurteilungen. Es gibt sachlich-neutrale Berichte wie diesen in der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen (HNA) aus Kassel. In anderen Artikeln werden die Aktionen auch mit positiven Begriffen gewürdigt: Die Dortmunder Ruhrnachrichten schreiben von einer „beeindruckenden Inszenierung“. Der Autor der österreichischen „Tagesstimme“ bezeichnet den Protest in Linz als „mutige Kunstaktion“.
Lokalreporter drücken ihre Ablehnung durch Wortwahl aus
Die meisten Vor-Ort-Berichte können ihre politische Ablehnung der Proteste jedoch nicht verbergen. Sie müssen zwar einräumen, dass die Aktionen friedlich sind, sich an die Hygiene-Auflagen halten und ordnungsgemäß angemeldet sind. Aber die Autoren setzen, so gut es geht, handwerkliche und sprachliche Möglichkeiten ein, um ihre Antipathie zu verdeutlichen. Statt die Aktionen etwa als „einfallsreich“, „ausgefallen“ oder „originell“ zu bezeichnen, werden sie als „skurril“, „obskur“ oder „bizarr“ tituliert, etwa hier in der Gießener Allgemeinen.
In einem Artikel des Berliner Kuriers zu einer Demo in Friedrichshain wird den Aktionskünstlern vorgeworfen, „provokant auf- und abzumarschieren“ sowie sich über gehorsame Menschen „lustig zu machen“. Andere Zeitungen wie die Schaffhauser Nachrichten oder die Freie Presse aus Chemnitz beschreiben die Aktionsteilnehmer negativ als „Vermummte“ beziehungsweise „vermummte Gestalten“. In einer Zeit, in der alle Menschen in Fußgängerzonen vermummt herumlaufen und dies von staatlicher Seite sogar vorgeschrieben wird, spricht solch eine abfällige Bezeichnung Bände.
Andere Medien benutzen auch moralisches Framing: Die FAZ rahmt ihren oben bereits erwähnten Bericht mit dem Hinweis, dass hier „mitten in der Pandemie in einer Stadt mit hohen Infektionszahlen gegen Corona-Schutzmaßnahmen demonstriert“ werde. Damals Mitte Oktober galt übrigens eine Sieben-Tage-Inzidenz von 66,5 als hoch. Im Dezember schrieb die Tageszeitung Österreich: „Trotz erschütternder Todeszahlen marschieren Corona-Gegner jetzt auf.“ Dieses grundrechtsferne Moralisieren ist zu jeder Zeit möglich, egal wie hoch die Zahlen sind.
Die vielen Verrenkungen der Lokalzeitungen bieten sicherlich ein interessantes Forschungsfeld. Doch wird bei einem Überblick schnell deutlich, dass den klassisch bürgerlichen Medien in ihrer Berichterstattung zu Aktionen mit Schwarzen Wahrheiten nicht viel mehr übrig bleibt als sprachlich-moralische Abwertung.
Hintergrundberichte zeigen kein Interesse am Phänomen
Einige wenige Journalisten interessierten sich scheinbar auch für die Hintergründe des Protests. Beim Autor dieser Zeilen meldeten sich im Herbst ein junger Reporter der Leipziger Volkszeitung (LVZ) und ein noch jüngerer Reporter der Zeitschrift Jungle World. Journalisten mit Erkenntnisinteresse hätten nun beispielsweise danach gefragt, wie das Konzept der Schwarzen Wahrheiten funktioniert, wie die Idee zu den neuartigen Protesten entstand oder warum der Vorschlag länderübergreifend bei so vielen Menschen auf fruchtbaren Boden fällt.
Doch die Fragen und fertigen Artikel zeigen: Das Phänomen an sich interessiert diese Journalisten nur marginal. Viel mehr geht es ihnen darum, diese speziellen Proteste in ein schlechtes Licht zu rücken, indem sie sie willkürlich mit Neonazis, mit der AfD und mit Gewaltbereitschaft in Verbindung bringen. Außerdem ziehen sie einzelne Personen in den Vordergrund, um sie mit Kontaktschuldvorwürfen, verkürzten Zitaten oder Unterstellungen anzugreifen. Zugegeben, unerwartet kommt dieses Vorgehen nicht. Es bestätigt nur die Annahmen des Ursprungsartikels.
LVZ-Autor Josa Mania-Schlegel behauptet in seiner Überschrift, die Proteste mit Schwarzen Wahrheiten wollten „die Öffentlichkeit manipulieren“ (Artikel hinter Bezahlschranke) – das ist eine extrem feindselige Bewertung von Aktionskunst. Hätte der Autor auch Christoph Schlingensiefs Aktion mit Schwarzen Wahrheiten als „manipulativ“ bezeichnet? Unter dem Titel „Bitte liebt Österreich!“ kritisierte der namhafte Aktionskünstler im Jahr 2000 in Wien die Unmenschlichkeit der Asylgesetzgebung. Und wäre der LVZ-Einschätzung nach auch die künstlerische Protestform des „Die-in“ (gemeinsames Sterben), bei der sich etwa Anti-Trump- oder Anti-Rassismus-Demonstranten auf den Boden werfen und tot stellen, als „manipulativ“ anzusehen?
Jungle-World-Autor Vitus Studemund schrieb einen weiteren Artikel zum Thema beim Blog „Volksverpetzer“. Auch die Seite „Philosophia Perennis“ widmete den Schwarzen Wahrheiten einen Text. Die Hintergrundrecherchen zu den Artikeln erweisen sich allerdings als äußerst überschaubar.
Hilfloses Raunen
Inhaltlich liegen die Texte alle auf derselben Linie: Sie finden die Protestaktionen selbstverständlich schlecht, weil sie von Regierungskritikern („Querdenkern“) gemacht werden. Die Autoren reichern das Thema in ihren Artikeln mit Polemik, Fehlinformationen oder Spekulationen an. In klassisch verschwörungstheoretischem Stil raunt die LVZ von einem „perfiden Plan“ dahinter – obwohl „der Plan“ zu nichts anderem rät, als den Medien genau das zu geben, was sie wollen: spannende Bilder und starke Botschaften.
Auch in diesen Hintergrundartikeln sind die oben bereits erwähnten sprachlichen Verrenkungen zu beobachten. Die harmlosen, choreographierten Aktionen der Protestierenden werden beispielsweise als „militärisch strukturiert“ oder „obskur“ bezeichnet. Studemund ist in seinen Jungle-World-Artikel sogar sichtlich bemüht, das Thema Schwarze Wahrheit mit Verfassungsfeindlichkeit und einem Bombenanschlag auf das Robert-Koch-Institut in Zusammenhang zu bringen – brachiales Negativ-Framing. Auf die Frage, warum er seinen Lesern nahelegt, friedliche Aktionskunst mit Gewalt und Bomben zu assoziieren, antwortete er nicht.
Aber deutlich wird bei all dem letztlich nur die Ratlosigkeit der Autoren. Sie wissen nicht, was sie an den Aktionen direkt kritisieren sollen. Studemund schreibt sogar: „Ganz ehrlich: Wer hat schon etwas dagegen, dass Querdenker:innen nun endlich ihre Maske tragen?“ Nun ja, offenbar die Leute, denen dann das Feindbild abhanden käme.
Nicht nur Zombiemärsche
Die Masken und simulierten Schutzanzüge sind gut geeignet, um dystopische Bilder zu erzeugen und damit auch theatralische und mediale Bedürfnisse zu bedienen, aber die Protestform der Schwarzen Wahrheiten kann auch ganz anders umgesetzt werden. Das zeigten weitere kreative Aktionen im Oktober. In einer Pressekonferenz zur „Friedenskette Bodensee“ informierten Alexander Ehrlich (Honk for Hope), Natascha Strohmeier (Coronadatencheck) und weitere Kritiker in der Logik der schwarzen Wahrheiten über die bevorstehende Covid-20-Pandemie und die überzogenen Maßnahmen dagegen.
Ebenfalls gab es Auftritte im Stil der „Speaker‘s Corner“, andere Interessierte fertigten Flyer, komponierten oder persiflierten Lieder und schrieben Artikel im Stil der schwarzen Wahrheiten. Zudem stellten Kritiker in Berlin („Freiluftkirche Ekklesia Corona“) oder in Kassel Gottesdienste der „Zeugen Coronas“ nach.
„Im Namen des Wielers, des Drostens und des heiligen PCR-Tests. A-H-A! (...) Wieler erbarme Dich unser. Schränke unsere Grundrechte ein und führe uns in die neue Normalität. (...) Unsere Alltagsmaske gib uns heute und vergib uns unsere Menschlichkeit.“
Die Demonstranten spießen damit das eifernde Verhalten vieler Lockdown-Enthusiasten auf, deren quasi-religiöser Fanatismus und sektenartige Glaubensbekenntnisse sich auch von der Wirkungslosigkeit der Maßnahmen und der Irrationalität ihrer Argumentation nicht beirren lassen. Diese Beobachtung haben übrigens auch zahlreiche Analysten gemacht. Der US-Publizist C. J. Hopkins spricht von einem „Covidian Cult“. Der Journalist Milosz Matuschek nennt es „Wahnsinn ohne Methode“. Der Philosoph Hauke Ritz sagt, die politischen Corona-Maßnahmen hätten geradezu „mythische Qualitäten“ und erinnerten an polytheistischen Opferzwang – man müsse immer mehr opfern, um das Schicksal zu besänftigen und wenn es sich nicht ändert, dann habe man eben nicht genug geopfert.
Bei nachgestellten Gottesdiensten als Straßenprotest sind auch teilweise die weißen Anzüge im Einsatz wie hier bei den „Zeugen Coronas“ in Neubrandenburg – mit Brett vorm Kopf. Dort ist man besonders kreativ und stellt auch eine mögliche Urteilsverkündung und Bestrafung für zukünftige Maskenverweigerer nach. Der „Maskenmuffel“ wird am Ende sogar von seiner eigenen Mutter verstoßen.
Was haben die Aktionen mit Schwarzen Wahrheiten bislang gebracht?
Es war kaum davon auszugehen, dass die Auftritte die Marschrichtung der Regierungen und ihrer medialen Verbündeten ändern können. Die komplett festgefahrenen Reaktionsmuster von Merkel und Co. zu ändern, gelang bisher keiner einzigen Gegenstrategie – weder klassischen Demonstrationen noch bürgerlichen Petitionen, juristischen Klagen oder sachlicher Argumentation in wissenschaftlichen Studien, Gutachten, Büchern oder unabhängigen Medien. Selbst in den traditionellen Medien kritisierten bereits einflussreiche Journalisten (Prantl, Augstein, Aust) die Corona-Maßnahmen ohne politisch durchzudringen. Bei den Entscheidungsträgern herrscht völlige „Bunkermentalität“, wie es der Chef des Betriebskrankenkassen-Verbandes Franz Knieps kürzlich formulierte.
Realistisches Ziel der Straßenproteste mit Schwarzen Wahrheiten war und ist es, Breitenwirkung auf Passanten und Mediennutzer zu erzielen. Hierbei ist eine Bewertung bislang jedoch schwierig. Grundsätzlich gewinnt man als Beobachter den Eindruck geteilter Meinungen beim Publikum. Wer sich die Online-Kommentare zu Videos von den Aktionen ansieht, trifft auf Lob und Unverständnis gleichermaßen.
Macher der Aktionen berichten von mehrheitlich zustimmenden, neugierigen Reaktionen auf der Straße. Passanten holen ihre Smartphones heraus und filmen interessiert. Sie lächeln oder geben positive Kommentare ab. Vereinzelt gebe es auch negative Kommentare. Ein Teil der Menschen zeige sich desinteressiert. Die Einschätzungen der Organisatoren, wie groß die Anteile der jeweiligen Gruppen sind, gehen auseinander.
Grenzen der Wirksamkeit
Die Wirkmacht von Schwarzen Wahrheiten sinkt, je mehr diese von der Realität eingeholt werden. Im Ursprungsartikel hieß es, Protestgruppen sollten wie „traurige Coronazombies“ durch die Straßen marschieren. Wer sich in der Vorweihnachtszeit in den Fußgängerzonen umsah, erblickte diese traurigen Gestalten überall. Es waren jedoch keine Demonstranten, sondern es war die Bevölkerungsmasse, die maskiert, schweigend und mit gesenkten Blicken zur Arbeit ging oder Einkäufe erledigte. Das war genau das fürchterliche Bild, das den dystopisch-warnenden Protesten zu Grunde lag. Die Wirklichkeit hat die Schwarze Wahrheit nun erreicht.
Dasselbe Urteil gilt für die bei den Protesten vermittelten Botschaften. Die dystopischen Aussagen der Demonstranten verlieren immer mehr von ihrer Absurdität, da der reale Aberwitz des Alltags bereits ein hohes Niveau erreicht hat. „Der Spielraum für Schwarze Wahrheiten wird täglich kleiner“, sagt der Aktivist von der „Mask Force Bern“ im Gespräch mit Multipolar. „Wir hatten uns im Oktober einen Satz überlegt, der lautete: ‚Impfen ist Nächstenliebe!‘ Genau solche Aussagen bringt der Stern jetzt auf der Titelseite.“
Eine übertriebene Forderung vieler Protestaktionen lautete „Gefährder ins Lager“. Tatsächlich haben mehrere Bundesländer, unter anderem Sachsen und Schleswig-Holstein, bereits spezielle Gefängnisse für Quarantäne-Verweigerer eingerichtet. Auch andere Botschaften klingen mittlerweile gar nicht mehr so unvorstellbar: „Impfgegner entrechten“, „Nachbarn verraten“, „Maskengegner ächten“ – die Schwarzen Wahrheiten von gestern werden zu den Weißen Wahrheiten von heute.
Hochgradig absurde Meldungen von polizeilich aufgelösten Kindergeburtstagen, positiv getesteter Cola, Corona-schnüffelnden Hunden, von Masken tragenden Handballern, Windeln tragenden Flugbegleitern, Kniebeugen empfehlenden Kanzlerinnen oder Warnungen davor, sich durch Furze eine Atemwegsinfektion zu holen, sind inzwischen kaum noch etwas Besonderes. Wenn Polizisten in Apfel essenden oder Klavier spielenden Menschen inzwischen kriminelle Gefährder sehen, ruft das bei den allermeisten Mediennutzern nur noch ein müdes Schulterzucken hervor. Keine Frage, die schleichende Gewöhnung der Gesellschaft an den immer extremer werdenden Corona-Aktionismus der Entscheidungsträger erschwert es Schwarzen Wahrheiten noch durchzudringen.
Fazit positiv, Fortgang offen
Die Idee, mit dem Mittel der Schwarzen Wahrheiten gegen politische Corona-Maßnahmen zu protestieren, traf auf großes Interesse. In mindestens sechs Ländern führten Aktivisten bislang viele Dutzend Auftritte mit verschiedenen Interpretationen des Konzeptes auf. Vor allem die Variante der weiß gewandeten „Phantome“ setzte sich als Erscheinungsbild durch.
Das Interesse vieler hundert Personen, sich an solchen Protestformen zu beteiligen, belegt das Bedürfnis nach kreativen Ergänzungen zu klassischen Demonstrationen. Unklar bleibt die Zukunft dieser Protestform. Sie könnte abebben, sie könnte aber auch erfolgreich Anklang in weiteren Ländern finden oder weiterentwickelt werden. Abhängig ist dies natürlich auch vom weiteren Corona-Kurs der Politik. Unzweifelhaft ist aber: Die Aktivisten erzeugten in den vergangenen Monaten beachtliches Medieninteresse und brachten zahlreiche Menschen zum Nachdenken über Grenzen, Sinnhaftigkeit und Folgen autoritär-übergriffiger Pandemie-Politik.
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