„Die AfD hat wichtige Themen aufgegriffen, aber sie ist keine Friedenspartei“
KARSTEN MONTAG, 14. November 2023, 9 Kommentare, PDFMultipolar: Herr Hunko, wann haben Sie sich entschlossen, der Partei Die Linke den Rücken zu kehren und sich Sahra Wagenknecht anzuschließen? Gab es da ein konkretes Ereignis?
Hunko: Es gibt eine Kette von Ereignissen und einen schon längeren Entfremdungsprozess in den letzten zwei, drei Jahren. Aber wenn ich jetzt ein konkretes Ereignis herausgreifen sollte, dann war das die Ablehnung der Partei, die große Friedenskundgebung am 25. Februar 2023 in Berlin von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer zu unterstützen, und auch in den medialen Diffamierungschor mit einzustimmen. Das war von den verschiedenen Bruchpunkten, die es gegeben hat, der größte. Das habe ich auch in der Fraktion schon direkt danach gesagt, weil das bestimmt die wirkmächtigste Antikriegsmanifestation der letzten zehn, zwanzig Jahre in Deutschland war. Die hat auch zusammen mit der Petition für Friedensverhandlungen mit 900.000 Unterzeichnern einen echten Druck ausgeübt. Und sich als vermeintliche Friedenspartei davon zu distanzieren, das fand ich völlig falsch.
Multipolar: Sie verstehen sich im weiteren Sinne als Antikapitalist und Marxist. Sahra Wagenknecht betont, dass Deutschland eine starke innovative Wirtschaft und soziale Gerechtigkeit benötigt. Das klingt eher nach klassischer sozialdemokratischer Politik, die den Kapitalismus nicht abschaffen, sondern eingrenzen will. Wie sieht aus Ihrer Sicht eine sozial gerechte Wirtschaftsordnung aus?
Hunko: Marx hat natürlich die Bedeutung der Wirtschaft für eine Gesellschaft herausgestellt. Manche sagen sogar, er war der erste richtige Ökonom, der auch gesagt hat, dass man zuerst etwas erwirtschaften muss und dann philosophieren kann. Wenn wir auf die aktuelle Situation in Deutschland eingehen, ist es natürlich ein Problem, dass das Modell, das die deutsche Wirtschaft geprägt hat, auf hochqualifizierten Arbeitskräften, günstiger Energie und Export basiert. Man könnte sagen, dass das im Augenblick vor allem durch die Wirtschaftssanktionen und durch die dramatisch gestiegenen Energiepreise sehr in Frage steht. Dazu kommt, dass in dieser Situation Herr Lindner auch noch dringend notwendige Investitionen in die Infrastruktur blockiert.
Das führt alles dazu, dass tatsächlich eine Deindustrialisierung in Deutschland droht. Deutschland ist im internationalen Vergleich der Industrieländer das Land, das am schlechtesten dasteht und in eine Rezession rutscht. Das muss man thematisieren. Das ist es ja, was Sahra Wagenknecht mit einer vernünftigen Wirtschaftspolitik meint. Wenn ich darüber hinausgehe und die Sozialstaatlichkeit ausbauen und eine Gesellschaft will, die nicht dominiert wird von großen Konzernen, vom großen Kapital, die die Spaltung der Gesellschaft in immer Reichere und Ärmere überwindet, die auch den politischen Einfluss dieses Großkapitals zurückdrängt, dann kann ich das nicht nur im luftleeren Reich meiner Träume machen, sondern ich muss von der Realität ausgehen. Und die Realität ist im Augenblick, wie gesagt, dass die Wirtschaft in Deutschland vor einem möglicherweise strategischen Abstieg steht. Da finde ich es richtig, dass man das thematisiert und sich dagegen positioniert.
Multipolar: In den letzten Jahren hat insbesondere die AfD Oppositionspolitik betrieben und bei den Wählerstimmen deutlich zugelegt. Wo sehen Sie die Unterschiede des neuen Wagenknecht-Bündnisses zur AfD? Wo gibt es inhaltliche Schnittmengen?
Hunko: Die AfD hat meines Erachtens deshalb so viel Zuspruch in der letzten Zeit bekommen, weil sie wichtige oppositionelle Themen aufgegriffen hat und die Partei Die Linke sich zurückgezogen hat. Zum Beispiel bei der Kritik an den Waffenlieferungen, an der Fortsetzung des Krieges zwischen der Ukraine und Russland und bei der Kritik an den Sanktionen. Dazu gehört auch die Kritik an einem sich verengenden Meinungskorridor, der eindeutig festzustellen ist in Deutschland, sowie die Kritik an der Art und Weise, wie die Corona-Pandemie bewältigt wurde, oder die Aufarbeitung der Sprengung von Nord Stream, dem größten Terroranschlag auf Infrastrukturen in Europa. Das sind alles Punkte, die die AfD sehr stark aufgegriffen hat, während die Linke sich da sehr zögerlich oder widersprüchlich verhalten hat. Und das macht einen Teil ihrer Popularität aus.
Aber die AfD ist eine zutiefst neoliberale, kapitalistische Partei, die in Teilen auch offenen Rassismus aktiviert. Zudem ist sie eine militaristische Partei, die den Aufrüstungskurs der Ampel-Regierung mitträgt und sogar verstärken möchte, und die an der Speerspitze der Eskalationsrhetorik im Israel-Palästina-Konflikt steht und auch deshalb eben keine Friedenspartei ist, sondern eine rechte Partei. Wir sind keine rechte Partei.
Das augenblickliche Problem ist, dass viele Menschen wütend sind, weil zum Beispiel der Zug nicht fährt. Die haben einfach den Kaffee auf und sagen im Impuls der Wut, jetzt haue ich auf den Tisch und wähle die AfD. Das sind Protestwähler. Natürlich gibt es auch einen rechtsextremen Flügel in der AfD und auch eine gewisse Wählerschaft, die ein rechtsextremes Weltbild hat. Aber das sind mit Sicherheit nicht 21 Prozent der Bevölkerung.
Multipolar: Sind Koalitionen mit der AfD generell ausgeschlossen?
Hunko: Ja, Koalitionen sind ausgeschlossen. Das heißt aber nicht, dass wenn die AfD etwas Richtiges sagt, wir das Gegenteil sagen müssen. Wenn etwa die AfD sagt, der Himmel ist blau, dann sagen wir nicht, der Himmel ist grün, sondern dann sagen wir auch, der Himmel ist blau. Sagt die AfD gegenwärtig irgendetwas Richtiges, dann darf man das schon nicht mehr sagen, weil man sonst ja genauso ist – und das ist natürlich völlig irre, damit überlässt man ja das Agenda-Setting den Rechten. Und daran werden wir uns nicht beteiligen. Man muss die einzelnen Punkte immer konkret diskutieren. Aber eine Koalition, also eine feste, langfristige Regierungszusammenarbeit, kann ich mir nicht vorstellen.
Multipolar: Wird eine neue Wagenknecht-Partei bei inhaltlichen Übereinstimmungen eventuell für Anträge der AfD in Landtagen oder dem Bundestag stimmen? Oder wird es einen kategorischen Ausschluss von Zustimmungen zu diesen Anträgen geben?
Hunko: Im Augenblick gibt es im Bundestag einen kategorischen Ausschluss von Zustimmungen zu Anträgen der AfD. Ich habe meine Zweifel, ob das klug ist. Denn damit punktet die AfD, zum Beispiel beim Corona-Untersuchungsausschuss. 64 Prozent der Bevölkerung wollen eine Aufarbeitung dessen, was in diesen Jahren passiert ist. Die AfD greift das sofort auf, macht einen Antrag und da tue ich mich schon schwer, das abzulehnen, wenn nichts weiter in dem Antrag steht, bei dem ich sage, das geht überhaupt gar nicht. Wenn man völlig losgelöst vom Inhalt grundsätzlich immer ablehnt, dann spielt man am Ende der AfD in die Hände, weil sie sich dann in einigen Punkten als die einzig vernünftige Partei darstellen kann. In der Tendenz glaube ich schon, dass wir ein inhaltsbezogeneres Herangehen an den Tag legen werden, als das jetzt bei der Linken der Fall ist. Aber wie gesagt, eine Koalition, eine langfristige Zusammenarbeit, kann ich mir nicht vorstellen.
Multipolar: Die Debatte um die von der Ampel beschlossene Novelle des Gebäudeenergiegesetzes hat viele Hausbesitzer und Mieter, auf die letztendlich die Sanierungskosten umgelegt werden, verunsichert. Wie stehen Sie zu dem Ausbau der erneuerbaren Energien und den gesetzlichen Vorgaben für die Verbraucher, beispielsweise für die Installation von Wärmepumpen?
Hunko: Natürlich sind wir für den Ausbau der erneuerbaren Energien und sinnvolle Maßnahmen gegen die Klimaerwärmung und den Klimawandel. Die Frage ist nur, ob alles, was von der Ampel vorgelegt wird, auch sinnvoll ist. Ich bin kein Experte des Gebäudeenergiegesetzes. Mein Schornsteinfeger sagte letztens, dass dieses Verschieben und Abwälzen der notwendigen Umstrukturierung auf den Einzelnen von sehr vielen Menschen als Gängelung empfunden wird. Es ist sicherlich völlig falsch, die notwendige Energiewende auf die Bevölkerung abzuwälzen und ich glaube, dass eine Regierung eigentlich die Aufgabe hat, andere Prioritäten zu setzen. Zum einen ist dies, so wie Sahra Wagenknecht es auch in der Pressekonferenz angesprochen hat, mehr in die Forschung zu investieren, da Deutschland gut darin ist, innovative Lösungen zu finden. Zum anderen ist dies die Notwenigkeit der internationalen Kooperation. Das wird völlig zu Unrecht komplett aus der Diskussion um die Energiewende ausgeblendet. Wir erleben ja derzeit eine Welt, die sich auf eine neue große Blockkonfrontation zubewegt. Damit wird der Kampf gegen den Klimawandel mit Sicherheit nicht zu gewinnen sein.
Ganz konkret habe ich im Bundestag viele Anfragen zur Arktisforschung gestellt. Von deutscher Seite ist jegliche wissenschaftliche Kooperation in der Arktis mit den russischen Wissenschaftlern abgebrochen worden. Die ist aber elementar. Es gibt Messtürme zur Überwachung des Auftauens des Permafrostes, die man gemeinsam betrieben hat. Das ist alles abgebrochen worden. Das ist völlig unverantwortlich. Ich kann ja verstehen, dass man wegen des Krieges in bestimmten Bereichen nicht kooperieren will. Aber auf dieser Ebene halte ich Kooperation für sehr notwendig, natürlich nicht nur mit Russland, sondern auch mit China. Aber wir gehen gerade in eine andere Richtung hinsichtlich Innovation, Forschung und internationaler Kooperation.
Multipolar: Die Sanktionen gegen Russland haben eine beispiellose Verteuerung der Energiepreise und eine anhaltend hohe Inflation in Deutschland nach sich gezogen. Darunter leiden vor allen Dingen die unteren Einkommensschichten und Empfänger staatlicher Leistungen, aber auch die deutsche Wirtschaft. Waren die Sanktionen gegen Russland ein Eigentor, und wie sollte die deutsche Politik den negativen Trends entgegensteuern?
Hunko: Ja, sie waren ein Eigentor. Punkt. Ich finde schon die Vorstellung, so wie Frau Baerbock es gesagt hat, Russland zu ruinieren – was ja nicht nur meint, die Kriegsführungsfähigkeit zu ruinieren, sondern die gesamte Gesellschaft – unangemessen für eine Außenministerin, um es einmal sehr diplomatisch zu formulieren. Olaf Scholz hat zu Beginn gesagt, die Sanktionen werden Russland mehr schaden als uns. Damit hat er auch gesagt, dass er bereit ist, dass auch „wir“ Schaden nehmen, also die Menschen in Deutschland. Aber es ist ja noch viel schlimmer: Es ist so, dass nach allem, was man jetzt weiß, die Sanktionen den Menschen und der Wirtschaft in Deutschland mehr schaden als in Russland. Die Prognosen für die russische Wirtschaft werden vom IWF nach oben korrigiert, und die Prognosen für die deutsche Wirtschaft nach unten. Wir liegen gerade bei den Prognosen für das laufende Jahr bei einer Rezession von -0,4 Prozent, während die russische Wirtschaft mit 1,5 bis 2 Prozent Wachstum prognostiziert wird. Und dann wird es noch verrückter, wenn man kein Pipeline-Gas oder kein Pipeline-Öl mehr möchte, was ja die günstigste und auch ökologisch beste Variante der fossilen Energie ist, solange man noch auf sie angewiesen ist, und dann aber weiß, dass Öl und Gas aus Russland über Umwege, zum Beispiel das Öl über Indien oder das Gas als LNG über Belgien letztlich doch wieder nach Deutschland kommt. Das ist viel teurer und auch ökologisch schlechter.
Ich glaube, man kann wirklich sagen, die Wirtschaftssanktionen sind gescheitert, und das ist keine Überraschung. Ich habe schon vor Jahren immer wieder die Bundesregierung befragt, ob bei den bestehenden Sanktionsregimes, zum Beispiel gegen Belarus, Syrien oder früher in Serbien oder dem Irak, Erfolgsmeldungen im Sinne der Zielsetzungen für die Sanktionen zu verzeichnen sind. Die Bundesregierung konnte kein überzeugendes Beispiel liefern. Wirtschaftssanktionen führen immer dazu, dass die Bevölkerung leidet und sich dann umso mehr hinter der jeweiligen Regierung schart. Meistens setzen sich in den sanktionierten Ländern dann auch eher die Hardliner durch, wie zum Beispiel gerade in Afghanistan. Das, was man als Grund für die Sanktionen ausgegeben hat, wird nicht erreicht. Das gilt auch für die Vergangenheit, beispielsweise im Irak oder in Serbien in den 90er Jahren. Rückblickend wird gesagt, das war ein Fehler, aber man macht es trotzdem immer weiter.
Multipolar: Sollte man die Sanktionen gegen Russland aufheben und Nord Stream reparieren? Einer der vier Stränge ist ja noch funktionsfähig.
Hunko: Der erste Schritt wäre, überhaupt wieder Gesprächsfäden in diese Richtung aufzugreifen, vielleicht auch erst einmal im Hintergrund. Die Diplomatie ist ja komplett zum Erliegen gekommen und sogar weniger vorhanden als in den Hochzeiten des Kalten Krieges in den 80er Jahren. Ich fände es sinnvoll, zumindest diesen einen Strang von Nord Stream in Betrieb zu nehmen und überhaupt wieder Gespräche darüber zu führen. Das heißt ja nicht, dass man das russische Vorgehen in der Ukraine gut finden muss, überhaupt nicht. Es wäre ja überhaupt notwendig, dass man diplomatische Initiativen startet, um zumindest zu einem Waffenstillstand in der Ukraine und wieder zu Verhandlungen zu kommen. Denn die Gegenoffensive ist gescheitert. Wir haben jetzt einen Abnutzungskrieg. Selbst wenn man sich total auf ukrainischer Seite fühlt – ich habe ja selbst ukrainische Vorfahren und bin der erste ukrainisch-stämmige Bundestagsabgeordnete – wird die militärische Verhandlungsposition der Ukraine nicht besser. Wenn man ausschließlich auf eine militärische Lösung setzt, fürchte ich, dass die Situation auch aus ukrainischer Sicht immer schlechter wird.
Aktuell sieht man im Westen Absetzbewegungen von Selenskyj. Es gibt immer mehr kritische Artikel in den großen Mainstream-Medien. Vor allen Dingen in den USA verändert sich die Stimmung in den letzten Monaten drastisch. Deswegen wäre es an der Zeit zu sagen, wir starten diplomatische Initiativen zunächst für einen Waffenstillstand und dann für grundlegende Verhandlungen. International gibt es viele Ansätze in diese Richtung, aber sie werden nicht unterstützt, weder von Deutschland noch den USA oder der EU.
Multipolar: Einige EU-Länder gehen hinsichtlich ihrer Haltung zu Russland einen eigenen Weg. Ungarn und Österreich liefern der Ukraine keine Waffen. Auch die neu gewählte Regierung in der Slowakei will die Waffenlieferungen einstellen. Der ungarische Präsident Viktor Orbán blockiert sogar weitere Hilfszahlungen der EU, reiste als einziger EU-Regierungschef zum Seidenstraßen-Gipfel nach Peking und traf sich dort mit Xi Jinping und Wladimir Putin. Wie sehen Sie die Haltung Ungarns? Sollte sich Deutschland wieder seinen wichtigsten Handelspartnern im Osten annähern?
Hunko: Ich habe so manche Interviews mit Orbán gesehen, und ich musste schon manchmal schlucken, weil nicht alles unvernünftig klang, was er gesagt hat. Generell ist die EU mit dem Krieg in der Ukraine noch viel transatlantischer geworden, als sie es vorher schon war. Sie hat sich noch einmal viel massiver an die USA gekettet – und das in einer Zeit, in der die Relevanz des globalen Südens dramatisch steigt, ökonomisch wie politisch. Wir sehen das an vielen Resolutionen in diesem Jahr, angefangen vom UN-Menschenrechtsrat zu Sanktionen, über den G20-Gipfel in Indien, den EU-Lateinamerika-Gipfel und die Weigerung von Lula, Munition für die Gepard-Panzer an Deutschland zu liefern, die dann weiter in die Ukraine geleitet werden sollte, bis hin zur jüngsten Resolution für einen Waffenstillstand in Gaza. Ich halte es für verheerend, dass die EU und die Bundesregierung sich in dieser Zeit noch einmal transatlantisch radikalisiert haben, anstatt offener in den internationalen Prozess zu gehen – sich offener auch gegenüber China, den aufstrebenden afrikanischen Ländern oder Indien zu verhalten. An dieser Stelle hat Orbán einfach recht. Auf der anderen Seite kann ich nicht nachvollziehen, dass Ungarn als einer der ganz wenigen Staaten zusammen mit den USA und Israel gegen eine Resolution im UN-Sicherheitsrat zu einer Waffenruhe in Gaza gestimmt hat.
Multipolar: Wie sollte und wie wird der Krieg in der Ukraine aus Ihrer Sicht enden?
Hunko: Was ich mir wünsche, wäre natürlich, dass es einen Waffenstillstand gibt und dass dieser im UN-Sicherheitsrat verankert wird, vielleicht auch mit einem Sonderberichterstatter dazu, dass es Verhandlungen gibt, dass in diesen Verhandlungen die Sicherheitsinteressen von allen Seiten auf den Tisch kommen, also sowohl die der Ukrainer, die nicht noch einmal überfallen werden wollen, als auch die der russischen Föderation, die sich von der NATO eingekreist sieht. Da müsste die USA auch mit am Tisch sitzen. Und dann sollte man in Analogie zum Helsinki-Prozess der 70er Jahre, zur KSZE, wieder zu Vereinbarungen und zu entsprechenden Abrüstungsinitiativen kommen – am besten zu mindestens einem gesamteuropäischen Sicherheitssystem, wie es im KSZE-Prozess ursprünglich angelegt war und wie es Anfang der 90er Jahre und in der OSZE hätte weiterentwickelt werden müssen. Das ist dann leider nicht passiert. Am Ende würde es wahrscheinlich auf eine Neutralität der Ukraine hinauslaufen. Das wäre, was ich mir wünschen würde.
Multipolar: Und die Gebiete zwischen Russland und der Ukraine wären dann so aufgeteilt, wie jetzt die Frontlinie verläuft?
Hunko: Ich habe immer die Formel genannt: Österreich als Vorbild für die Ukraine, also Neutralität, und das Saarland für die Krim. Ich glaube, es ist ziemlich unstrittig, dass bei einer Volksabstimmung die Mehrheit der Krimbewohner für Russland stimmen würde. Doch dann sollte dies international mit der OSZE legitimiert werden. Und für den Donbass sollten die Minsker Abkommen, die ja nie umgesetzt wurden, gelten, also Autonomie innerhalb der Ukraine. Ob letzteres noch möglich ist nach diesem Krieg, da habe ich erhebliche Zweifel. Wahrscheinlich würden die Gebiete dann mit einer erneuten Volksabstimmung vielleicht auch den Weg der Krim gehen.
Was die Realität angeht, denke ich, dass es wahrscheinlich ein Korea-Szenario geben wird. Das heißt, es wird irgendwann entlang der Frontlinie zu einer Einstellung der Kampfhandlung kommen und eine ungelöste Situation entstehen, die natürlich immer wieder Spannungen und ein Ausbrechen neuer Kampfhandlungen beinhaltet. De facto wird wahrscheinlich so eine Situation entstehen, die dann über Jahre oder Jahrzehnte bestehen bleibt. Das ist das weniger wünschenswerte, aber realistischere Szenario. Was ich nicht glaube, ist, dass es einen kompletten militärischen Sieg der einen oder anderen Seite geben wird. Das halte ich für unrealistisch.
Multipolar: Mit einer Eskalation des Krieges zwischen der Hamas und Israel entwickelt sich neben der Ukraine derzeit im Nahen Osten möglicherweise eine weitere Front zwischen dem kollektiven Westen und einzelnen BRICS-Staaten. Der Iran, Saudi-Arabien, Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate sind ab 2024 Mitgliedsstaaten von BRICS. Erleben wir derzeit den Beginn eines neuen kalten Krieges oder sogar des Dritten Weltkrieges?
Hunko: Die Eskalationsgefahr ist riesig, nicht nur hin zu einem Kalten Krieg. Die Bombardierung Gazas in Reaktion auf die Terroranschläge vom 7. Oktober, sowie die israelische Vertreibung der Palästinenser auch im Westjordanland zielen ja im Augenblick, so wie es sich darstellt, auf eine komplette Vertreibung der Palästinenser aus Palästina. Mehr und mehr Stimmen sprechen sogar von einem Völkermord. Wenn sich das fortsetzt, glaube ich, dass auch andere Akteure wie Hisbollah im Libanon, wie die Huthis im Jemen oder im Hintergrund auch der Iran wahrscheinlich versuchen werden einzugreifen. Und gleichzeitig sehen wir gerade eine große Konzentration von US-amerikanischem Militär in der Region, Flugzeugträger sind auf dem Weg. Die Eskalationsgefahr ist groß. Hinter dem Iran stehen auch Russland und China. Das enthält in der Tat die Möglichkeiten zu einem dritten Weltkrieg. Ich hoffe natürlich nicht, dass das passiert.
Wir haben am 2. November eine UN-Resolution in der Generalversammlung gehabt, die eine sofortige, nachhaltige Waffenruhe forderte. 120 UN-Mitglieder haben für die Waffenruhe gestimmt und 14 dagegen. Hier setzt sich fort, was sich schon im Laufe des ganzen Jahres 2023 abgezeichnet hat: Der globale Süden ist sich fast komplett einig, und auf der anderen Seite haben wir die USA und Israel und vier EU-Staaten. Selbst Länder wie Großbritannien, Australien und Kanada, die sich immer sehr eng mit den USA abstimmen, haben sich enthalten. Deutschland auch. Aber auch viele europäische Länder haben zugestimmt: Frankreich, Spanien, Belgien, Luxemburg, Schweiz, Norwegen etwa. Auf der anderen Seite haben Ungarn und Österreich dagegen gestimmt. Wir haben also auch eine Aufspaltung in Europa.
Das Risiko nicht nur für die EU, sondern auch für die USA, mit dieser Haltung letztlich an Einfluss global zu verlieren, ist groß. Wir leben nicht mehr in einer Welt wie vor zwanzig Jahren, als die USA 2003 den Irak bombardieren konnte und kaum jemand wirkungsvoll dagegen aufbegehrt hat. Es gab 30 Millionen Demonstranten auf der Straße, aber es hat keinen interessiert. Sie haben es durchgezogen. Das ist vielleicht der Höhepunkt der unipolaren Weltordnung gewesen, der totalen Dominanz der USA. Und dies ist heute nicht mehr so. Ökonomisch überholt China die USA, und zeitversetzt zieht China dann natürlich militärisch nach.
Multipolar: Ist die Zunahme an Gewalt und militärischen Auseinandersetzungen ein Zeichen dafür, dass sich die USA gegen eine sich abzeichnende Multipolarität und den Verlust ihrer Vormachtstellung in der Welt wehrt?
Hunko: Das ist ja die große Frage unserer Zeit. Wird der Übergang von der unipolaren, multipolaren Welt friedlich vonstatten gehen, oder versinken wir in einer neuen Ära von Kriegen? Noch ist die USA militärisch sehr stark, und ich glaube, es ist am Ende noch nicht entschieden, ob es eine Frage von militärischen oder politischen Kämpfen sein wird. Ich halte die Chancen für 50 zu 50. China ist vor allem interessiert an Frieden, Stabilität und Entwicklung. Ich habe den chinesischen Botschafter vor einigen Monaten besucht. Das war ein sehr interessantes Gespräch, kurz nachdem unter chinesischer Vermittlung der Handschlag zwischen Saudi-Arabien und Iran stattgefunden hat – für mich ein sensationeller Bruchpunkt einer Zeitenwende. China hat das ermöglicht. Das war wirklich etwas Besonderes. Auch in der jetzigen Situation zwischen Israel und Palästina nimmt China eine vernünftige und abwägende Haltung im Hintergrund ein und gewinnt damit weitere Sympathien in der arabischen Welt, in der afrikanischen Welt und im ganzen globalen Süden, während die USA praktisch im Sicherheitsrat einen Ruf nach Waffenruhe blockieren.
Multipolar: Nach dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober wird die palästinensische Bevölkerung im Gaza-Streifen aus der Luft bombardiert, von Panzern beschossen sowie von der Wasser-, Nahrungs- und Stromversorgung abgeschnitten. Mehrere Organisationen der Vereinten Nationen haben im UN-Sicherheitsrat über katastrophale Zustände berichtet. Amnesty International spricht von Kriegsverbrechen. Wie sollte sich die deutsche Regierung in diesem Konflikt positionieren?
Hunko: Ich finde, dass die deutsche Regierung die Forderung nach einem Waffenstillstand unterstützen sollte, wie das Frankreich ja tut, wie das Spanien tut, wie das andere europäische Länder und weltweit die Mehrheit der Länder tun. Sie haben ja richtig gesagt, dass es Kriegsverbrechen sind, über die wir hier reden. Es findet offenbar eine systematische Vertreibung statt. Wir reden hier über eine rechtsradikale Regierung in Israel, mit einem Finanzminister, der sich in einem privaten Gespräch selbst als Faschisten bezeichnet hat. Diese bedingungslose Solidarität mit Israel, die in Deutschland teilweise an den Tag gelegt wird, halte ich nicht für angemessen.
Multipolar: Trifft die deutsche Regierung eine Mitschuld an der Gewaltspirale und der Eskalation im Nahen Osten?
Hunko: Sie ist natürlich mitverantwortlich. Wenn man überall in Deutschland nur die Israel-Fahnen vor den Rathäusern hochzieht und ausschließlich der Opfer des Terrorangriffs der Hamas gedenkt und nicht beispielsweise der mehreren tausend Kinder, die in Gaza umgekommen sind, dann macht man sich mitverantwortlich für dieses Unrecht. Noch entscheidender ist, wie sich Deutschland in der UNO und in der EU verhält. Deutschland hat verhindert, dass die EU sich für eine humanitäre Pause ausspricht. In der Vorlage der Ratsschlussfolgerungen beim Ratsgipfel war die humanitäre Pause erst drin und ist dann auf deutschen Druck sehr eingeschränkt und indirekt konditioniert zu „humanitären Pausen“ verändert worden, was dann der Aussagekraft den Zahn gezogen hat. Und, wie gesagt, in der UN-Generalversammlung hat man sich enthalten. Ich hätte da zugestimmt.
Multipolar: Wird Deutschland die zögerliche Haltung gegen das israelische Vorgehen in Zukunft außenpolitisch auf die Füße fallen?
Hunko: Ja, das wird natürlich wahrgenommen in großen Teilen der Welt. Man kann ja nicht nur darauf schielen, wie das der israelische Botschafter bewertet. Ein Großteil der Welt kann diese Ablehnung mindestens einer Waffenruhe nicht nachvollziehen.
Multipolar: Schaut man sich die Migrationszahlen der letzten zehn Jahre an, dann ist es zu einer Überlastung der Aufnahmekapazitäten insbesondere durch Menschen gekommen, die vor Kriegen flüchten, an denen Deutschland direkt oder indirekt beteiligt ist. Ist die Diskussion über die schnellere Abschiebung von illegalen Zuwanderern am Ende eine Scheindebatte? Müsste nicht eher dafür gesorgt werden, dass die Kriege vermieden werden, die die Flüchtlingsströme auslösen?
Hunko: Wir müssen insbesondere die Fluchtursachen angehen. Gerade wird ja in gigantischem Ausmaß für Millionen Menschen aus Gaza eine neue Fluchtursache geschaffen. Diese sollen jetzt auf die Sinai-Halbinsel in Zeltstädte. Dann werden sie vielleicht noch weiter vertrieben. Wenn man wirklich über Fluchtursachen, die Menschen zwingen, irgendwo anders hinzugehen, redet, dann muss man jetzt für eine Feuerpause eintreten. Ich gehöre gar nicht zu denen, die sagen, dass möglichst viele Menschen nach Deutschland kommen sollen. Es gibt auch reale Probleme hierzulande. Was ich jedoch unerträglich finde, ist etwa der Vorschlag von Friedrich Merz, dass Menschen, wenn sie nach Deutschland kommen wollen, ein Bekenntnis zu Israel ablegen sollen – ein Bekenntnis zur deutschen Staatsräson der bedingungslosen Solidarität mit Israel. Man braucht ein Bekenntnis zur Demokratie, zum Grundgesetz, aber nicht ein Bekenntnis zu einer Seite in einem internationalen Konflikt.
Multipolar: Zum Schluss nochmal ein Themenwechsel. Sie haben sich in Ihrem Bericht „Lehren für die Zukunft aus einer wirksamen und auf Rechte gestützten Reaktion auf die COVID-19-Pandemie“ im Juni 2020 für europaweite rechtskonforme Shutdowns und Ausgangssperren ausgesprochen, falls dies nötig sein sollte. Würden Sie sich mit dem heutigen Wissen immer noch in einer ähnlichen Situation für Lockdowns und Ausgangssperren aussprechen?
Hunko: Es war der erste Bericht einer internationalen Organisation zur Rechtskonformität der Corona-Maßnahmen überhaupt. Daraus kann man nicht die Politik ableiten, wie sie hier stattgefunden hat, denn die war aus meiner Sicht nicht rechtskonform. Am Anfang wussten wir nicht, was mit der Pandemie auf uns zukommt, da mussten Staaten und Regierungen erst einmal reagieren. Ich hatte mich nicht direkt gegen den Lockdown ausgesprochen, allerdings gegen die Einschränkung der Grundrechte. Das erste Gesetzespaket im Bundestag, das Gesetz, das auf die Einschränkung dieser Rechte abzielte, haben wir abgelehnt. Wenn eine Bedrohung kommt, müssen Staaten in der Lage sein zu reagieren. Aber da muss man sehr genau hinschauen wie – und es muss evidenzbasiert sein. Ich halte die Art und Weise, wie Deutschland darauf reagiert hat – vielleicht gar nicht unbedingt den ersten Lockdown, aber die Maßnahmen, die danach kamen, die 2G-Regelung und die Aussperrung von Millionen von Menschen aus dem öffentlichen Leben für mehrere Monate –, für überhaupt nicht rechtskonform und evidenzbasiert. Es gab ja keine wissenschaftliche Basis dafür. Es wurde praktisch ein Impfstoff aufgenötigt, der gerade einmal eine Notfallzulassung hatte, der gar nicht diese Verfahren durchlaufen hat. Das kann man aus meinem Bericht überhaupt nicht ableiten.
Multipolar: Würden Sie sich denn in einer ähnlichen Situation, wenn wieder eine Atemwegskrankheit mit dem Potential von COVID-19 auftritt und die WHO eine Pandemie ausruft, noch einmal für einen Lockdown aussprechen? Dies ist ja aufgrund der geänderten Definition der WHO für eine Pandemie jederzeit möglich.
Hunko: Nach den Corona-Erfahrungen würde ich eher sagen: allergrößte Vorsicht. COVID-19 ist nach meiner Einschätzung ungefähr um den Faktor zehn überdramatisiert worden. Das war eine mittelschwere Grippe auf dem Niveau der Hongkong-Grippe mit einer Letalität von etwa 0,3 Prozent, wie dies auch die Heinsberg-Studie von Streeck schon damals festgestellt hatte. Diese Zahlen habe ich damals auch in dem Bericht an den Europarat untergebracht. Da standen vorher ganz andere Zahlen drin. Das heißt nicht, dass die Krankheit nicht da war, oder dass sie nicht schlimm war. Deswegen muss man sehr vorsichtig sein, denn man kann mit der Angst der Menschen alles Mögliche rechtfertigen und legitimieren. Aber theoretisch ist es natürlich denkbar, dass ein Virus mit hoher Letalität entsteht und wirklich sehr viele Menschen hinwegrafft. Dann muss man auch in der Lage sein, darauf zu reagieren. Ich halte das jedoch für sehr unwahrscheinlich.
Multipolar: Bis heute sind Familien, Kollegen- und Freundeskreise hinsichtlich der Corona-Politik tief und größtenteils unversöhnlich gespalten. Setzen Sie sich für eine Aufarbeitung der Corona-Politik ein und wie sollte diese aus Ihrer Sicht aussehen?
Hunko: Die Spaltung der Gesellschaft sehe ich auch. Bis heute wirkt das nach. Es setzt sich fort in der Frage des Ukraine-Krieges und jetzt auch im Nahost-Konflikt. Wir haben seit Corona eine Kultur in Deutschland, in der diese drei einschneidenden Erfahrungen nicht mehr rational debattiert werden, in der praktisch eine andere Meinung nicht mehr eine andere Meinung ist, zu der man sich dann mit Argument und Gegenargument austauscht, sondern die andere Meinung wird als moralisch minderwertig aufgefasst. Das Gegenüber ist dann ein schlechter Mensch. Das fing mit Corona an. Wer die Maßnahmen kritisiert hat, der wurde als Querdenker, als Rechtsextremist oder als Egoist dargestellt, von dem man sich besser fernhält. Das setzte sich genauso fort in der Frage, wie auf den russischen Einmarsch in die Ukraine zu reagieren sei. Wer gegen Waffenlieferungen und für eine diplomatische Lösung ist, der soll ein Putinknecht und ein Freund autoritärer Diktaturen sein. Und wer sich jetzt für eine humanitäre Waffenruhe in Gaza einsetzt, der ist bereits des Antisemitismus verdächtig. Das ist eine Kultur der Polarisierung von Gesellschaften, die allergrößte Probleme für den demokratischen Diskurs beinhaltet. Die Verengung des Meinungskorridors spricht das Bündnis Sahra Wagenknecht sehr deutlich an. Ob wir jetzt explizit eine Corona-Aufarbeitung fordern, ist expressis verbis noch nicht formuliert. Ich denke, wir werden sie fordern und ich kann mir nicht vorstellen, dass wir dagegen wären.
Zum Interviewpartner: Andrej Hunko, Jahrgang 1963, ist seit 2009 Bundestagsabgeordneter. Zuvor war er ab 2004 einer der Organisatoren der Montagsdemonstrationen gegen Sozialabbau in Aachen. Seit 2010 ist er Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, seit 2015 stellvertretender Vorsitzender der Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken. Wesentlich auf seine Initiative hin forderte die Parlamentarische Versammlung des Europarates 2020 die Freilassung von Julian Assange. Von 2020 bis 2021 war Hunko Vizefraktionschef der Linken im Bundestag. Gemeinsam mit Sahra Wagenknecht und weiteren Abgeordneten erklärte er im Oktober seinen Austritt aus der Partei.
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