Wissenschaft als Religion der Gegenwart
MICHAEL MEYEN, 8. April 2024, 5 Kommentare, PDFMein erster Impuls war: nein. Dieses Buch lese ich nicht. Peter Strohschneider. Nicht schon wieder. Um nicht falsch verstanden zu werden: Strohschneider ist eine große Nummer. Wer an einer Universität arbeitet und sich außerdem noch mit der Wissenschaft selbst beschäftigt, also verstehen möchte, warum die Dinge dort so sind, wie sie sind, der kommt an diesem Mann nicht vorbei. Peter Strohschneider war Präsident des Wissenschaftsrates (2006 bis 2011) und Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (2013 bis 2019). Mehr geht nicht. Beide Gremien entscheiden, wohin das Geld fließt. Welche Hochschulen werden gefördert, welche Disziplinen, welche Ideen? In Strohschneiders Amtszeit beim Wissenschaftsrat fällt die Exzellenzinitiative – ein Programm, das die deutsche Universitätslandschaft umpflügte und dort eine Zwei-Klassen-Gesellschaft wachsen ließ. Die LMU München, wo Strohschneider, Jahrgang 1955, einst studierte und ab 2002 einen Germanistik-Lehrstuhl hatte, profitierte dabei ganz besonders von den Steuermillionen.
All das sagt noch nichts über sein neues Buch, erklärt aber vielleicht, warum ich meinem ersten Impuls nicht nachgegeben habe. Strohschneiders Wort hat Gewicht. In seinem Lebenslauf stehen das Bundesverdienstkreuz und etliche Akademiemitgliedschaften, unter anderem in der Leopoldina. Strohschneider hat außerdem das Ohr der Politik, heute vielleicht stärker als je zuvor. Seit 2020 leitet er die Zukunftskommission Landwirtschaft, eingesetzt von Angela Merkel und von Cem Özdemir nach dem Regierungswechsel übernommen. Ursula von der Leyen hat ihn Anfang 2024 in eine ganz ähnliche Position auf EU-Ebene gehievt. Wenn so ein Mann, dachte ich mir, auf dem Buchcover „Wahrheiten und Mehrheiten“ gegenüberstellt und im Untertitel verspricht, die Wissenschaftsgläubigkeit der Gegenwart zu entzaubern („Kritik des autoritären Szientismus“), dann könnte das ein Vorbote für einen Kurswechsel sein.
Strohschneider umschifft den Kern des Problems
Ich hätte es besser wissen müssen. Peter Strohschneider legt den Finger in die Wunde, das schon. Er sieht, dass die Wissenschaft an Boden verliert. Er weiß, wie lächerlich viele eine Politik finden, die weiße Kittel und akademische Titel braucht, wenn sie vor das Volk tritt. Er kennt die Zweifel, die zum Beispiel ein Gesundheitsminister produziert, der behauptet, mehr oder weniger jede Studie aus einem Publikationswust gelesen zu haben, den selbst Spezialisten in ihren Parzellen kaum noch überschauen können. Kurz: Peter Strohschneider macht sich Sorgen um den Ruf der Institution, die er vertritt, und damit auch um die Gestaltungsmöglichkeiten, die sich daraus für Menschen wie ihn ergeben. Den Kern des Problems aber umschifft er. Platt formuliert: Er kann oder will nicht sehen, dass sich der Konzernstaat Wissenschaft entweder kauft oder genau den Protagonisten eine Bühne bietet, die das öffentlich vertreten, was gerade angesagt ist (1). Dieser blinde Fleck hat mit seiner Brille zu tun und vielleicht auch mit einer Position, die so nah an der Sonne der Macht ist, dass sie wie Schnee im Frühling dahinschmelzen würde, wenn Strohschneider auch nur einen leisen Zweifel an den Fetischen Klima und Pandemie durchscheinen lassen würde.
Um das zu erklären, muss ich ein wenig ausholen, dabei auch theoretisch werden und auf meinen ersten Impuls zurückkommen. Vor gut sechs Jahren hatte ich schon einmal das Vergnügen, mich mit einem Strohschneider-Text auseinandersetzen zu dürfen. Ich war damals Sprecher eines Forschungsverbundes, der sich transdisziplinäre Wissenschaft auf die Fahnen geschrieben hatte. Wir wollten nicht nur die Grenzen zwischen den Fakultäten niederreißen, sondern den Elfenbeinturm verlassen, wenigstens mit einem Bein. Ich war mir sicher: Da draußen gibt es Anregungen, die uns weiterbringen. Andere Themen, andere Fragen, unkonventionelle Antworten. Bürgerwissenschaft schien damals ein Trend zu werden, untermauert mit Förderprogrammen aus der Politik, und wurde genau deshalb attackiert – unter anderem von Peter Strohschneider. Ich war auf der Erfolgsspur und nahm mir die Freiheit, mich über den DFG-Präsidenten zu amüsieren, mit wissenschaftlichen Argumenten, versteht sich.
Mein Ansatzpunkt war die Systemtheorie (das ist auch im neuen Buch seine Brille) – eine akademische Spielerei, die Wissenschaft, Politik oder Journalismus auf die gleiche Weise seziert wie Organismen oder Zellen. In Kurzform: Das System will überleben und sich reproduzieren. Es reagiert deshalb zwar auf Reize (wenn es kälter wird, muss in Körperwärme investiert werden), wie das geschieht, ist aber von außen kaum oder gar nicht zu beeinflussen. Was Kunst ist, wird allein im System Kunst entschieden – ganz so, als ob es keine Sammler geben würde, keine mächtigen Schulen und keine Jurys, die Steuergelder nach politischer und sonstiger Konformität verteilen. Ich nutze diese Theorie hin und wieder, weil sie hilft, Komplexität zu reduzieren. Wenn eine solche analytische Perspektive aber zur Wirklichkeit erklärt und daraus auch noch Wissenschaftspolitik gemacht wird wie bei Strohschneider, hier paraphrasiere ich meine Rezension von einst, dann haben wir ein Problem. Strohschneider glaubt an „die Grenze zwischen Wissenschaft und Gesellschaft“ und nimmt außerdem an (oder sagt es zumindest), dass Wissenschaftler Probleme und Lösungen „intrinsisch“ suchen und benennen, ohne Vorgaben von außen (2).
Man muss das System Wissenschaft nicht von innen kennen, um zu sehen, dass das Unsinn ist. Auch Peter Strohschneider sieht das eigentlich. Wissen „liegt nie rein als solches vor“, schreibt er in seinem neuen Buch. „Wir haben es allein als kommunizierte Information.“ Und: „Wissenschaft ist eine Ordnung des Wissens und zugleich eine Ordnung des Sozialen. Beide Ordnungen sind weder völlig identisch noch unabhängig voneinander“ (S. 43). Man kann das einfacher sagen und damit auch den blinden Fleck freilegen, um den es hier geht. Natürlich: Es macht Spaß, darüber zu philosophieren, was aus einer wissenschaftlichen Erkenntnis wird, wenn sie nicht mehr in Buchform daherkommt, sondern auf einem Poster oder gar in einem Zwanzigzeiler für den Kanzler. Es ist außerdem nicht falsch, auf den Forschungsalltag zu verweisen, in dem „vielfach das Kriterium der größeren Zahl“ entscheidet und Wahrheitsfragen aussticht (S. 45). Wer hat am meisten Geld eingeworben, wer wird am häufigsten zitiert, wer gewinnt die meisten Preise, welcher Bewerber bekommt die wichtigen Stimmen?
Universitäten wurden zu Vasallen gemacht
Strohschneider blendet dabei aber das aus, was das Thema spannend macht – gerade, wenn man sich wie er mit dem Klima beschäftigt, mit der Umwelt, mit der Gesundheit. Ich zitiere einfach die ersten Sätze aus meinem Uni-Buch, erschienen im Spätsommer 2023: „Wissenschaft ist die Religion der Gegenwart. Um etwas durchzusetzen, brauche ich Priester mit Professorentitel, Studien, Akademien, Ethikräte. Ohne die Weihen von Gelehrten keine Absolution. Diese Deutungshoheit macht die Universitäten attraktiv für alle, die tatsächlich etwas durchsetzen können.“ (3) Ich zeige in diesem Buch, wie die Politik im Verbund mit großen Unternehmen und ihren Stiftungen die Universitäten im letzten Vierteljahrhundert zu Vasallen gemacht hat – nicht zuletzt über eine Besoldungsreform und ein neues Reputationssystem (Stichworte zum Weiterlesen: H-Index und Rankings), die Forscher dazu bringen, an ganz bestimmten Orten vor allem das zu publizieren, was Drittmittel verspricht, also Geld von da, wo die Musik spielt.
Peter Strohschneider handelt „politische Interventionen“ (S. 152) und „staatliche Durchgriffe“ (S. 15) in ein paar Nebensätzen ab. Er muss das so machen, weil er sonst weder den „breiten klimawissenschaftlichen Konsens“ feiern könnte (S. 35) noch die „staunenswerte Leistungskraft moderner Forschung“ bei der „zügigen Impfstoffentwicklung“ (S. 140) oder Propagandafiguren wie Eckart von Hirschhausen, Harald Lesch und Maja Göpel (4). Vor allem aber braucht Strohschneider die Fiktion eines autonomen Wissenschaftssystems, um „querdenkerische Pandemieleugner und Impfverweigerer“ (S. 23) zu einem Gegner aufzubauen, der absolut nichts mit der Wissenschaft und ihrem Prinzip der „methodischen Skepsis“ am Hut hat (S. 145) und mit dem man schon deshalb nicht reden muss, weil er sich nicht um Tatsachen schert („inkonsistente Ketten von Realitätsverweigerung“, S. 148), sondern sein Selbstwertgefühl einzig aus dem Widerspruch oder dem Widerstand als solchem zieht.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an den ehemaligen RKI-Präsidenten Lothar Wieler und den ehemaligen PEI-Präsidenten Klaus Cichutek am 18. Januar 2024 im Schloss Bellevue | Bild: picture alliance/dpa | Bernd von Jutrczenka
Das Multipolar-Publikum dürfte an dieser Stelle sagen: Das ist grotesk. Ich muss mich nicht beschimpfen lassen und breche die Lektüre jetzt ab. Es lohnt sich aber, ein wenig weiterzulesen, weil Peter Strohschneider den Pappkameraden, den er sich da zurechtzimmert („Wahrheitsleugner“, „Radikalisierung von Dissidenz“, „Verschwörungsnexus“), nutzt, um das „Diktat der politischen Wahrheitsbesitzer“ zu attackieren (S. 151). Anders formuliert: Wenn man die Kröte schluckt, dass Kritik an Corona- oder Pandemiepolitik nicht viel mehr sein soll als eine Form der „Selbstüberhebung“ oder gar „verwilderte Aufklärung“ (S. 145), dann findet man bei Peter Strohschneider eine Abrechnung mit der Wissenschaftsgläubigkeit, die vor allem deshalb Gewicht hat, weil sie aus dem Zentrum des Systems kommt. Noch einmal gewendet: Wer sich nur ein wenig Distanz bewahrt hat zu diesem System, wird nicht viel Neues erfahren, aber immerhin sehen, dass auch das Zentrum keineswegs so monolithisch ist, wie es aus der Entfernung manchmal scheint.
Absage an jeden Aktivismus im Namen der Wissenschaft
Peter Strohschneider sagt: Wissenschaft ist kein Ersatz für Politik, für öffentliche Debatten und für Mehrheitsentscheidungen. Er stellt sich damit gegen Greta Thunberg und ihre Jünger („You cannot make deals with physics“), gegen Karl Lauterbach („Wir müssen viel mehr Wissenschaft wagen“) und überhaupt gegen alle, die ab 2017 im Namen „der Wissenschaft“ auf der Straße waren, spätestens seitdem dieser neuen Gottheit huldigen und zum Beispiel mit Schlagworten wir „evidenzbasiert“ oder „Faktengewalt“ jede Widerrede unterdrücken wollen. Sein wichtigstes Argument: Alle „Erkenntnisse moderner Wissenschaften“ stehen unter „dem prinzipiellen Vorbehalt, im Verlauf zukünftiger Entwicklungen eventuell revidiert werden zu müssen“ (S. 14). Das ist eine Absage an jeden Aktivismus im Namen der Wissenschaft, im Buch illustriert am Beispiel der Demonstrationen von Lützerath im Januar 2023 und eines Textes von Scientists for Future, der einen wissenschaftlichen Konsens selbst in Detailfragen suggerierte.
Das ist auch eine Absage an einen Gesundheitsminister, der sich zwar rhetorisch auf seinen Parteiahnen Willy Brandt bezieht („Wir wollen mehr Demokratie wagen“), aber das glatte Gegenteil fordert. Aus dem „wollen“ wird bei Lauterbach ein „müssen“, und an die „Stelle der freien Entscheidung“ setzt er die „Verwissenschaftlichung der Demokratie“ (S. 80). Strohschneider legt die „autoritäre Tendenz des Szientismus“ frei (S. 21) und ordnet ihn außerdem als Angriff auf die Meinungsfreiheit ein, weil unser ganz persönliches Nachdenken entwertet wird durch Autorität und Wucht des Katheders. Warum sollen sich Krethi und Plethi noch äußern dürfen, wenn die Professoren längst wissen, was richtig ist?
Der Begriff „Szientismus“ steht bei Strohschneider für ein „Syndrom“ mit vier „Bestimmungsstücken“: „Faktizismus, Einheitswissenschaft, Solutionismus sowie Normativismus“ (S. 69). Übersetzt: Wir vergessen, dass es keine „Fakten“ ohne einen Menschen gibt, ignorieren jeden Dissens, der daraus zwangsläufig folgt, glauben, dass es für jedes Problem eine Lösung gibt, und wissen immer, was gut ist und was wir folglich tun müssen. Ich verkürze das etwas, halte es aber trotzdem für wichtig, weil Peter Strohschneider hier ein Wissenschaftsverständnis beschreibt, dass in den letzten Jahren nicht nur an meinem Heimatinstitut an Boden gewinnt, sondern auch die Leitmedienrealität bestimmt. Der Szientismus, sagt Strohschneider, „ist in vielen Diskursdomänen moderner Wissensgesellschaften eine latente Selbstverständlichkeit – als Durchsetzungsprogramm zum Beispiel in der Agrarwirtschaft, im Bildungssystem, in der betrieblichen Organisationsentwicklung und anderswo.“ (S. 77)
Dieser Satz ist interessant, weil der Kollege hier genau die Felder benennt, auf denen er sich selbst bewegt. Dieser Satz ist zugleich bedrohlich, weil er das Ende liberaler Demokratien markiert – einer Gesellschaftsform, die auf „Legitimation durch Verfahren“ setzt (vor allem auf das „Mehrheitsprinzip“, S. 93) und die um den Pluralismus von Interessen und Perspektiven nicht nur weiß, sondern diesen auch schätzt und kultiviert. Dass selbst ein Mahner wie Peter Strohschneider seinen eigenen Anspruch auf „Geltung oder Wissen“ (S. 92) bei zentralen Kontroversen für absolut und hier offensichtlich jede „diskursive Beratschlagung“ (S. 99) für überflüssig hält, zeigt, wie weit wir schon sind auf dem Weg zu einem „autoritären Szientismus“.
Peter Strohschneider, „Wahrheiten und Mehrheiten – Kritik des autoritären Szientismus“, C.H.Beck, 222 Seiten, 16 Euro
Über den Autor: Prof. Dr. Michael Meyen, Jahrgang 1967, studierte an der Sektion Journalistik und hat dann in Leipzig alle akademischen Stationen durchlaufen: Diplom (1992), Promotion (1995), Habilitation (2001). Parallel arbeitete er als Journalist (MDR info, Leipziger Volkszeitung, Freie Presse). Seit 2002 ist Meyen Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU München. Seine Forschungsschwerpunkte sind Medienrealitäten, Kommunikations- und Fachgeschichte sowie Journalismus. Er betreibt außerdem die „Freie Akademie für Medien und Journalismus“. Sein Buch „Die Propaganda-Matrix“ (Rubikon 2021) war ein Spiegel-Bestseller. Zuletzt erschienen: „Wie ich meine Uni verlor. 30 Jahre Bildungskrieg. Bilanz eines Ostdeutschen“ (Edition Ost 2023)
Anmerkungen
(1) Siehe zum Beispiel Christian Kreiß: Gekaufte Wissenschaft. Wie uns manipulierte Hochschulforschung schadet und was wir dagegen tun können. Hamburg: Tredition 2020 und Christoph Lütge/Michael Esfeld: Und die Freiheit? Wie die Corona-Politik und der Missbrauch der Wissenschaft unsere offene Gesellschaft bedrohen. München: Riva 2021.
(2) Peter Strohschneider: Zur Politik der Transformativen Wissenschaft. In: Andre Brodocz, Dietrich Herrmann, Rainer Schmidt, Daniel Schulz, Julia Schulze Wessel (Hrsg.): Die Verfassung des Politischen. Festschrift für Hans Vorländer. Wiesbaden: Springer 2014, S. 175-191, hier S. 182.
(3) Michael Meyen: Wie ich meine Uni verlor. 30 Jahre Bildungskrieg. Bilanz eines Ostdeutschen. Berlin: edition ost 2023, S. 9.
(4) Zu Göpel erhellend Alexander Wendt: Verachtung nach unten. München: Lau-Verlag 2024, S. 268-271.
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