Mauerfall nach Moskaus Drehbuch?
STEFAN KORINTH, 9. November 2020, 2 KommentareMultipolar: Herr Wolski, Sie haben im vergangenen Jahr zum 30. Jahrestag der Maueröffnung ein Buch veröffentlicht, das sich von allen anderen Beiträgen zum Thema stark unterscheidet. Sie interpretieren den Mauerfall am 9. November 1989 in Berlin nicht als chaotisch-zufälliges Ereignis, wie es in der vorherrschenden Geschichtsschreibung heißt, sondern als vorbereiteten Coup. Wie kommen Sie darauf?
Wolski: Das erste Mal bin ich bereits in der Vor-Wendezeit ins Nachdenken gekommen. Ich arbeitete seit 1986 im Internationalen Handelszentrum (IHZ) der DDR in Ost-Berlin in einem West-Firmenbüro – bin also aktiver Zeitzeuge des Endes der DDR und später in Moskau auch des Endes der Sowjetunion gewesen. Das Erste, was mir damals – also schon Ende 1986 – auffiel war, dass die Parteipropaganda im IHZ und bei Parteiveranstaltungen sagte: „Weil die DDR so anerkannt ist, sind nun erstmals vier US-Konzerne gekommen, die hier in der DDR Repräsentanzbüros eröffnen wollen.“ Alle diese Konzerne wie Dow Chemical oder Honeywell waren in der Bundesrepublik bereits mit riesigen Filialen mit tausenden Mitarbeitern vertreten gewesen. Ich habe mich dann gefragt, warum die jetzt in die DDR wollen. Hatten diese Konzerne doch auffällig früh Wind von den wahren Zielen Gorbatschows bekommen?
Es gab noch weitere Erlebnisse, wo ich merkte, dass hier was nicht sauber ist. Eine Erklärung dafür habe ich erst später gefunden. Aber richtig umgehauen hat mich dann ein Ereignis kurz nach dem Mauerfall. Im Dezember 1989 hatte mir mein Schweizer Chef den Sonderauftrag gegeben, die Gründung einer Vertriebsgesellschaft in der DDR vorzubereiten. Um den 10. Januar 1990 herum bekam ich dann aber einen Anruf von ihm: „Gründung einstellen. Wir integrieren alles in unsere bundesdeutsche Tochter. Es wird keine DDR mehr geben.“ Wie konnte er das wissen? Die politischen Diskussionen darüber begannen erst im März 1990. Es gab also offenbar bei einigen Leuten einen Wissensvorlauf zu den wahren Zielen der Perestrojka.
Multipolar: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass nach der Wende immer wieder auch damalige politische Verantwortliche Aussagen in diese Richtung gemacht haben – etwa der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse oder Michail Gorbatschow.
Wolski: Ja, ich habe in den vergangenen 30 Jahren sehr viele Bücher und Artikel von damaligen Akteuren durchforstet. Darin findet man interessante Aussagen, manchmal sind das nur einzelne Sätze. Zum Beispiel hat es 2004 eine Konferenz „Geheimdienste für den Frieden“ gegeben. Da hat der CIA-Station-Chief von Bonn des Jahres 1989 gesagt: Die CIA-Chefs haben sich seit Mitte der 80er Jahre regelmäßig in neutralen Ländern mit den KGB-Chefs getroffen. Mehr hat er dazu nicht gesagt. Aber das reicht, um zu verstehen, dass entsprechende Absprachen möglich waren.
Gorbatschow-Angebot bereits 1985
Der ungarische Politologe Joseph Pozsgai hat schon 1985 geschrieben, dass die Russen sich in naher Zukunft aus den Jalta-Beschlüssen zurückziehen und den Sozialismus aufgeben. Das soll mit den Amerikanern abgesprochen gewesen sein. Pozsgai schreibt, Gorbatschow habe den USA ein Angebot gemacht: Rückzug der UdSSR aus Osteuropa und Abschied vom Kommunismus gegen Straffreiheit für die kommunistische Machtelite sowie das Recht zur Aneignung des Staatsvermögens durch Privatisierung. Dieses amerikanische Vorwissen ist offenbar auch der Grund, weshalb einige US-Konzerne, die Interesse an der DDR hatten, schon 1985 in Ostberlin auf der Matte standen und ein Büro eröffnen wollten. Sie wollten vorbereitet sein, wenn die Vereinigung kommt.
Multipolar: Nun haben Sie in Ihrem Buch aus all dem gesichteten Material, aus Gesprächen mit russischen Zeitzeugen und eigenen Erfahrungen eine Reihe konkreter Thesen zum Ende der DDR aufgestellt und belegt. Bitte fassen Sie Ihre Position für die Leser zusammen.
Wolski: Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass der Mauerfall kein Zufall war. Es gibt ja zwei Erzählstränge im Westen: Der amerikanische sagt, dass das Chaos der letzten Tage der DDR dafür verantwortlich war. Die Macht sei von der Straße ausgegangen. Diese habe die Regierung gezwungen, die Grenze zu öffnen. Der Erzählstrang der ostdeutschen Bürgerrechtler und der Bundesrepublik lautet, dass die Bürgerrechtsbewegung 1989 so einen Druck aufgebaut hat und dass durch die Ausreisen über Ungarn und die Tschechoslowakei die DDR sich sozusagen ergeben musste und die Grenzorgane die Grenzen geöffnet haben.
Ich gehe hingegen davon aus, dass die Spitze der Sowjetunion, also der Besatzungsmacht mit 340.000 Soldaten in der DDR, diesen Prozess geplant hat. Die sowjetischen Soldaten sind nicht ausgerückt, um die Grenzen wieder zu schließen. Schewardnadse schrieb 1991 in seinem Buch (Titel: „Die Zukunft gehört der Freiheit“), die sowjetische Führungsspitze habe sich schon 1986 über die deutsche Einheit Gedanken gemacht. Zwei deutsche Staaten seien einer zu viel. Aus diesem Denken heraus wurde die Grenzöffnung 1989 herbeigeführt.
Die notwendigen Informationen werden ja auch von Einrichtungen wie dem Institut für Zeitgeschichte oder der Bundeszentrale für politische Bildung dokumentiert. Aber sie verknüpfen das nicht oder interpretieren die Informationen anders. Nach dem Tod von Chris Gueffroy im Februar 1989 an der Berliner Mauer wurde den DDR-Grenztruppen der Schusswaffeneinsatz an der Westgrenze untersagt. Die Änderung der Schusswaffengebrauchsbestimmung wurde mündlich weitergegeben. Die Soldaten gingen nur noch mit ungeladenen Waffen auf Patrouille. Das war aber kein DDR-Befehl sondern musste letztlich vom Warschauer Pakt verantwortet werden. Oberbefehlshaber war Gorbatschow.
Aufhebung des Schießbefehls als Voraussetzung für den Mauerfall
Am 3. November hat Egon Krenz bei der Rückkehr von seinem Moskau-Besuch die Anweisung Gorbatschows mitgebracht, die Schusswaffengebrauchsbestimmung für die Volkspolizei bei Unruhen auszusetzen. Das heißt, die DDR-Polizisten durften nicht auf Demonstranten schießen – was sie im Oktober unter Erich Honecker vielleicht noch gemacht hätten. Diese beiden Befehle aus Moskau waren Voraussetzungen für die folgende friedliche Grenzöffnung.
Der Mauerfall selbst am 9. November war aus meiner Sicht eine verdeckte Aktion. Günter Schabowski hatte bei der abendlichen Pressekonferenz etwas erzählt, was gar nicht in dieser Reiseverordnung für DDR-Bürger verankert war. Diese sollte erst ab dem 10. November gelten. Er hat stattdessen gesagt: „Das gilt unverzüglich, sofort.“ Ich dokumentiere das auch im Buch. Auf der Website zum Buch kann man all die dazugehörigen Links finden. Viele Leute meinten später, Schabowski sei bei der Meldung überfordert oder nervös gewesen. Aber er war kein Amateur oder Anfänger. Er war jahrelang Chefredakteur der SED-Zeitung Neues Deutschland und Mitglied des Politbüros.
Wichtig ist auch: Als Schabowski die Pressekonferenz begann, wurde gleichzeitig von einigen Genossen eine Verlängerung der Sitzung des Zentralkomitees (ZK) vorgeschlagen. Diese Sitzung sollte eigentlich um 18 Uhr enden, lief dann aber bis kurz nach 20.30 Uhr. Dort war die komplette Führungsebene der DDR also rund 250 hochrangige Partei- und Staatsfunktionäre versammelt und für diese Zeit sozusagen abgeschirmt. Es gab damals keine Handys. Man wusste nicht, was Schabowski zeitgleich in der Pressekonferenz erzählt hatte. Man hat über die schwere wirtschaftliche Situation in der DDR diskutiert und danach sind alle nach Hause gefahren. Sie waren praktisch wie auf einer Isolierstation festgehalten, während hinter den Kulissen die entscheidenden Dinge abgelaufen sind. Die Staatsführung begriff erst gegen 23 Uhr, was los war. Wer sagt, dass diese Zeitgleichheit nur Zufall war?
Multipolar: Bevor wir in die Details gehen: Warum wollte Gorbatschow, dass die DDR die Grenzen öffnet und warum konnte er das nicht einfach anordnen?
Wolski: Zum Verständnis muss man erst mal ein paar Schritte zurückgehen. Den ersten Versuch, die DDR abzuschaffen, hatte schon Josef Stalin 1952 unternommen. Er startete damals eine Initiative für ein neutrales Deutschland, dafür hätte er die DDR abgegeben. Es war ja 1945 und in den Nachkriegsmonaten nicht die sowjetische Intention ein sozialistisches Deutschland aufzubauen. Das hat sich erst durch den Kalten Krieg entwickelt.
1953 kam es hier in Berlin am 17. Juni zu Unruhen, die vordergründig ein Arbeiteraufstand waren. Aber hinter den Kulissen war es ein Kampf zwischen KGB und Roter Armee nach Stalins Tod, eine Art Erbfolgekrieg. KGB-Chef Berija wollte die DDR für zehn Milliarden Dollar abgeben – also sozusagen die Reparationsleistungen der DDR gegen Cash tauschen. Es sollte ein neutrales, vereinigtes Deutschland entstehen. Die sowjetische Armee wollte das hingegen nicht, weil die Uranerzgewinnung für die Atombombe zum damaligen Zeitpunkt nur in der DDR sofort und in ausreichendem Maß möglich war. Das Uran brauchten sie für den atomaren Rüstungswettlauf mit den USA. Ohne DDR wäre das für die Sowjetunion nicht mehr möglich gewesen. Die sowjetischen Urangruben waren erst ab etwa 1956 in ausreichender Quantität einsatzbereit. Berija wurde Ende Juni 1953 verhaftet und erschossen. Die DDR blieb Vasall der Sowjetunion.
"Der Mauerbau wurde schon 1960 beschlossen"
1958 hat es die Berlin-Initiative Chruschtschows gegeben, wo er die Westmächte zu einem neutralen Deutschland zwingen wollte. Er sagte sinngemäß: „Wenn ihr das nicht macht, dann geben wir als Siegermacht der DDR die Lufthoheit und dann kann sie entscheiden, wer nach West-Berlin fliegt.“ Da gab es dann ziemliche Auseinandersetzungen mit Eisenhower. Und Chruschtschow hatte dem bundesdeutschen Botschafter später gesagt, das hätte vielleicht Krieg gegeben und deswegen blieb als einzige Alternative nur der Bau der Mauer. Die Entscheidung dazu ist schon im Mai 1960 nach dem gescheiterten Gipfel in Paris gefallen und nicht erst im August 1961 – da waren die Messen schon gesungen.
Der stellvertretende sowjetische Außenminister Wladimir Semjonow (1953 Hoher Kommissar der Sowjetunion und zuständig für die Niederschlagung der Unruhen am 17. Juni 1953) hatte den Auftrag bekommen, die Führung und die Kontrolle über den Mauerbau zu übernehmen. Und dieser Semjonow spielte dann beim Mauerfall Ende der 1980er Jahre wieder eine entscheidende Rolle.
Die Sowjetunion hat spätestens 1968 mit den Ereignissen in der Tschechoslowakei gemerkt, dass es im ganzen Imperium knirscht. Dann hat sich 1980 die UdSSR mit dem Afghanistankrieg übernommen und das hat mit dazu beigetragen, dass die Konflikte in Polen sichtbar wurden. Die Amerikaner schätzten 1983 ein, dass die Sowjetunion ihr Imperium in Europa bald verlieren würde, weil sie es nach 1945 nicht geschafft hatte, dass diese Länder ohne Moskauer Hilfe effektiv wirtschaften. Das war ja nicht machbar, da Moskau alles bestimmte. Dazu gibt es im Stasi-Archiv eine Mitteilung einer KGB-Quelle in Washington, die auch Honecker erhielt.
Offenbar schätzte man das in Moskau genauso ein und das muss, nachdem Breschnew, Andropow und Tschernenko kurz nacheinander gestorben waren, dazu geführt haben, dass die Entscheider im März 1985 den damals 54-jährigen Gorbatschow an die Spitze von Partei und Staat stellten. Sein Ziel war es offensichtlich, nicht nur den Sozialismus abzuschaffen, sondern auch die Herrschaft über die osteuropäischen Länder zu beenden, welche in den Alliiertenbeschlüssen von 1945 in Jalta und Potsdam der Sowjetunion als Einflussbereich zugesprochen worden waren.
Multipolar: Die Sowjetunion wollte sich demnach aus Osteuropa und aus der DDR zurückzuziehen, um alle Ressourcen fürs eigene Land freizubekommen. Hatte die SED-Spitze nicht etwas dagegen?
Wolski: Natürlich. Die politische Führung der DDR konnte eigentlich nur im Schutz der Mauer existieren. Im Mai 1987 waren Gorbatschow und Schewardnadse in Berlin. Damals sagte Gorbatschow zu Honecker, dass man für ein „gemeinsames Haus Europa“ die Mauer nicht mehr brauche. Honecker ist da wohl über den Tisch gesprungen. Er hat das scharf abgelehnt. Wenn ich dann sehe, dass US-Präsident Ronald Reagan 14 Tage später in West-Berlin vor der Mauer steht und in einer Rede sagt: „Mr. Gorbatchev tear down this wall!“, dann habe ich die starke Vermutung, dass das eine mit Gorbatschow koordinierte Aktion war.
Multipolar: Kommen wir konkret zum 9. November 1989. Es gab zwei Akteure, die den Mauerfall praktisch hätten verhindern können. Die DDR-Führung und die sowjetischen Streitkräfte in der DDR – die sogenannte Westgruppe. Wenn Gorbatschow den Mauerfall geplant hat, hätte er diese beiden Akteure neutralisieren müssen. Beide Gruppierungen haben am 9. November auch tatsächlich nicht reagiert. Warum?
Wolski: Die Armee handelt nur, wenn sie einen Einsatzbefehl hat. Der Oberbefehlshaber General Boris Snetkow war ein Gegner des späteren Abzugs der Truppen aus Deutschland. Der wäre sicher auch dafür gewesen, die Truppen am 9. November einzusetzen, aber er hatte keinen Einsatzbefehl. Den hätte ihm in der DDR nur der sowjetische Botschafter persönlich weitergeben können. Der Botschafter Kotschemassow hatte an dem Abend aber ein Schlafmittel genommen und tief und fest geträumt. Deswegen musste sein Gesandter vor die Kameras treten und sagte sinngemäß: „Es ist alles in Ordnung, ich werde weder den Botschafter noch Gorbatschow wegen dieser Sache wecken. Macht mal hier nicht so ein tam tam, morgen früh sehen wir weiter.“
"Hätte die Armeeführung davon erfahren, hätte ein Putsch gedroht"
Die Planung dieser Aktion durfte auch für die Armeeführung in Moskau nicht ruchbar werden. Die sowjetische Armee war gerade im Februar 1989 aus Afghanistan ohne Sieg abgezogen. Hätte man denen noch gesagt: „Wir ziehen uns jetzt auch noch aus Osteuropa zurück!“, dann hätte Putschgefahr bestanden. Deswegen musste es unter der Hand laufen. Aus meiner Sicht hat auch nur eine Hand voll Leute in Moskau von den Planungen gewusst. Neben Gorbatschow noch Außenminister Schewardnadse und KGB-Chef Krjutschkow und das Team, welches ich das Drehbuch-Team nenne.
Multipolar: Bleibt noch die DDR-Führung als möglicher Verhinderer des Mauerfalls. Können Sie etwas detaillierter erläutern, wie Politbüro, Ministerrat, Armee- und Stasi-Führung am 9. November Ihrer Meinung nach ruhiggestellt wurden?
Wolski: Honecker war ja schon am 17. Oktober 1989 durch Krenz als Generalsekretär der SED ersetzt worden. Und um über die aktuelle Lage zu beraten und die Partei auf den Kurs zu bringen, musste eine Tagung des Zentralkomitees (ZK) in Berlin einberufen werden. Diese war für den 8. bis 10. November angesetzt. Sie bot sozusagen das Zeitfenster für den Mauerfall. Im ZK saßen alle hochrangigen Partei- und Staatsfunktionäre der DDR. Das waren die führenden und der Partei ergebensten Genossen. Da waren keine ideologischen Abweichler dabei.
Als Sekretär für Informationswesen war Günter Schabowski nur wenige Tage vorher in das Politbüro gewählt worden. Und Schabowski hat dann festgelegt, dass am 8. und 9. November am Abend eine Pressekonferenz stattfindet, um über die Ergebnisse der ZK-Tagung zu informieren. Es ist schon merkwürdig, dass man keine Pressekonferenz (PK) am Ende der ZK-Tagung am 10. November einberufen hatte. Da hätte man über die ausführliche Diskussion der Genossen und über Beschlüsse sprechen können und auch Egon Krenz, der neugewählte SED-Generalsekretär hätte persönlich teilnehmen können.
"Diesen Fehler konnte Schabowski nur am 9. November machen"
Schabowski konnte diesen berühmten „Fehler“ („sofort, unverzüglich“) nur am 9. November machen. Am 8. November hatten die Sowjets noch ihren 2. Feiertag zur Oktoberrevolution. Er hätte aber niemandem erklären können, warum er ausgerechnet am 9. November eine PK einberuft. Hatte er die PK am 8. November einberufen, sozusagen als Übung? Und um alle in Ruhe zu wiegen, denn es wurde nichts Sensationelles verkündet. Business as usual?
Am 10. wäre das nicht mehr möglich gewesen. Dann hätte er sagen müssen, dass die Reisewilligen zu den Meldestellen gehen müssen. Nur am Abend des 9. November war es ihm möglich, die Menschen direkt zur Grenze zu schicken. Das konnte er nur, weil die ZK-Sitzung erst später zu Ende ging und die dort versammelten Entscheidungsträger damit isoliert waren und nicht reagieren konnten.
Interessant (und von den Zeithistorikern bisher nicht erwähnt) ist auch die Tatsache, dass ein Politbüro-Mitglied eine Reiseregelung vorstellt, die noch nicht vom Ministerrat beschlossen war und wo es auch noch keine Durchführungsbestimmungen gab. Das wäre eigentlich die Aufgabe des Pressesprechers der Regierung gewesen. Der Pressesprecher des Außenministeriums und der Chef der DDR-Nachrichtenagentur ADN haben dann, obwohl sie den genauen Wortlaut der Reiseregelung kannten, entschieden, dass sie Schabowskis Version („sofort, unverzüglich“) veröffentlichen. Auch hier drängt sich manchem Beobachter die Frage auf, ob sie zum Drehbuch-Team gehörten.
"Als die DDR-Führung begriff, spazierten schon tausende durch West-Berlin"
Mit dem „sofort, unverzüglich“ baute Schabowski einen unglaublichen Druck auf die Grenzübergangsstellen auf. Die Menschen strömten zu den Übergangsstellen und die Grenzer wussten von nichts. Der Stab der Lagestelle – verzweifelt von den Kommandanten der Grenzübergangsstellen angerufen – schwieg.
Schließlich gab es einen Befehl. Diejenigen Bürger, die am lautesten die Ausreise forderten, sollten ausreisen dürfen. Als Erkennungsmerkmal sollten sie einen Stempel auf das Foto im Personalausweis erhalten. Später wurde präzisiert: Andere Bürger sollten den Stempel im hinteren Teil des Personalausweises erhalten und wieder einreisen dürfen. Das war in keiner Weise gesetzlich, sollte aber den Druck an der Grenze abbauen. Da das aber in der Praxis nicht funktionierte und der Druck weiter zunahm, befahl der Kommandant des Übergangs Bornholmer Straße als erster die Grenzöffnung ohne zu stempeln.
Übrigens: Ich bin in dieser Nacht mit meiner Frau und ein paar Freunden auch nach West-Berlin gefahren. Wir haben aus irgendeinem Grund auch Stempel auf die Fotos bekommen und waren damit für ein paar Stunden ausgebürgert, ohne es zu wissen. Als wir nachts um 3 Uhr zurückkamen, waren alle Schranken geöffnet und wir konnten ohne Probleme wieder einreisen.
Wie auch immer: Als die Staatsführung der DDR im Verlauf der Nacht informiert war, da waren alle Messen gesungen. Tausende Menschen standen an den Grenzübergängen oder waren schon zum Spaziergang in Westberlin.
Multipolar: Gehen Sie davon aus, dass Günter Schabowski Mitarbeiter des KGB war und auf Anweisung Moskaus die Maueröffnung mit herbeigeführt hat?
Wolski: Wenn man das aus der historischen Distanz sieht und die Äußerungen westlicher Akteure einbezieht, dann könnte man geneigt sein, dem zuzustimmen. Ich weiß es nicht. Ich will ihn nicht beschuldigen. Aber es gibt diese genannten Indizien und natürlich prominente Beispiele: Wilhelm Zaisser, der Vorgänger Erich Mielkes, war laut Stasi-Unterlagen-Behörde auch KGB-Mitarbeiter. Rudolf Herrnstadt – ein Vorgänger Schabowskis als Chefredakteur des Neuen Deutschland bis 1953 – war ebenfalls KGB-Mitarbeiter. Der West-Berliner Bürgermeister Walter Momper sagte, Schabowski sei derjenige im Politbüro gewesen, der die besten Kontakte nach Moskau hatte.
Moskau kontrollierte die DDR-Eliten
Die DDR-Führung war mit KGB-Leuten durchsetzt. Es ging für Moskau um Kontrolle und um Wissensvorlauf bei aktuellen politischen Entwicklungen. Auch Manager aus dem Internationalen Handelszentrum, in dem ich arbeitete, hatten offenbar beim KGB unterschrieben. Ein ehemaliger Kollege sagte mir im Frühling 1990 zum Beispiel, dass er jetzt mit anderen ehemaligen Kollegen in neu gegründeten privaten Firmen arbeite, die die sowjetischen Streitkräfte in der DDR beliefern. Die Militärhandelsorganisation der DDR war zu dieser Zeit schon in Abwicklung. Der ehemalige Kollege hatte sich früher auch auf den Job beworben, den ich später bekommen hatte. Er war von der Stasi aber abgelehnt worden.
Der Untersuchungsausschuss des Bundestages von 1994 berichtete, dass nach Aktenlage Stasi und KGB gemeinsam im IHZ tätig waren bei der Abwehr westlicher Einflussnahme. Als 1986 sich das Verhältnis mit Moskau verschlechterte, erinnerte man sich offenbar bei der Stasi, dass es hier eine Vereinbarung mit dem KGB gab und man suchte nach den KGB-Mitarbeitern. Denn der KGB hatte ja der Stasi nicht mitgeteilt, wer für ihn arbeitet. Um herauszufinden, wer das sein könnte, hat man alle Verdächtigen gescannt. Und als ich zu Weihnachten 1986 nach Leningrad fahren wollte, da haben die Alarmglocken geschrillt. Und mein IHZ-Vorgesetzter hat mich aufgefordert, ein Formular auszufüllen: „Woher kennst Du die Leute? Wohin fährst Du? Wen triffst Du noch?“ Die dachten, ich könnte dort umgedreht werden. Immerhin war ich der Verbindungsmann des DDR-Außenhandels zu einem US-Konzern.
Multipolar: Man traut russischen Geheimdiensten ja – vor allem in den westlichen Medien – bis heute die unmöglichsten Dinge zu. Hatte der KGB damals überhaupt diese Möglichkeiten in der DDR?
Wolski: Als ich das Buch geschrieben habe, versuchte ich herauszufinden, wie viele KGB-IM es in der DDR gab. Es geht also um Deutsche, die für den KGB gearbeitet haben. Nicht für die Stasi. Es gab keine offiziellen Zahlen dazu. Ich schätze die Zahl auf maximal 2.500. Denn es gab nachgewiesenermaßen 1.000 bis 1.100 hauptamtliche KGB-Leute in der DDR. Wenn man berechnet, wie viele Agenten so ein Führungsoffizier von der Kapazität her führen konnte, wenn man also den entsprechenden Koeffizienten der Stasi als Vergleich heranzieht, dann kommt man auf 2.000 bis 2.500 KGB-Mitarbeiter in der DDR.
Und die waren vor allem in den oberen Führungsebenen des Staates verteilt. Man muss also davon ausgehen, dass Mitglieder des Politbüros, deren persönliche Mitarbeiter und auch DDR-Minister Mitarbeiter des KGB waren. Das ist natürlich in der Wendezeit überhaupt nicht thematisiert worden. Da hätte man dann ja auch fragen können: Wie ist das eigentlich bei den Eliten in der BRD gewesen? Welche Westdeutschen waren Mitarbeiter der britischen, französischen und amerikanischen Geheimdienste? Das wollte natürlich niemand in der Öffentlichkeit breittreten.
Multipolar: Was hat Ihnen Peter-Michael Diestel, der letzte DDR-Innenminister, zum Thema ostdeutsche KGB-Leute gesagt?
Wolski: Er hat in seinem Buch im September 2019 geschrieben, dass sich 1990, als er Innenminister wurde, zwei Generale seines Ministeriums bei ihm meldeten, die angaben, auch Offiziere der Sowjetarmee zu sein. Daraufhin fragte ich ihn an, ob er eine Gesamtzahl von KGB-Mitarbeitern in der DDR habe. Diestel antwortete mir, die Westdienste seien sogar von 50.000 ausgegangen. Er selbst konnte die Stasi dazu nicht befragen, denn diese war aufgelöst und die ehemaligen Stasi-Leute haben nichts dazu gesagt. Die Zahl ist also deutlich größer als meine Berechnung. Aber die 50.000 waren nicht alles KGB-Leute, sondern da zählten auch die vom militärischen Abwehrdienst GRU dazu. Es dürfte sich um sowjetische Soldaten der Westgruppe gehandelt haben, die für den GRU arbeiteten.
Dass die sowjetischen Geheimdienste in der DDR durchaus handlungsfähig waren, wird auch durch eine Aussage des sowjetischen Botschafters in der DDR angedeutet. Egon Krenz schrieb in seinem Buch 2019, dass ihm Kotschemassow am 10. November, also am Morgen nach dem Mauerfall, sagte:
„Bedenken Sie aber bitte auch, dass ich zwar der sowjetische Botschafter bin, es gibt aber noch andere sowjetische Institutionen in der DDR, über die ich nicht Bescheid weiß.“
Er meinte damit sicher nicht die russisch-orthodoxe Kirche.
Multipolar: Stasi und KGB haben in der DDR also nicht zusammengearbeitet, sondern sich misstraut und teilweise gegeneinander agiert. Warum war das so?
Wolski: Die Zusammenarbeit betraf nur das Außen. Aber im Innern der DDR waren die Dienste völlig getrennt. Zum Beispiel wurden die inoffiziellen Mitarbeiter des KGB in der DDR etwa bei Quellenangaben genauso anonymisiert wie in jedem anderen Land, also wie auch etwa in den USA. Die Stasi sollte nicht erfahren, welcher Ostdeutsche für den KGB arbeitet. Das Verhältnis zwischen KGB und Stasi war wie das Verhältnis von Herr und Knecht. Der Herr hat dem Knecht nicht gesagt, wer in der DDR für ihn arbeitet. Die Besatzungsmacht Sowjetunion hat die DDR kontrolliert. Genau so wie die USA die BRD kontrolliert haben.
KGB und Stasi hielten vieles voreinander geheim
Im Hauptquartier des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in der Berliner Normannenstraße gab es seit 1949 eine Repräsentanz des KGB mit etwa 20 Mitarbeitern. Diese Repräsentanzen gab es bei allen Bezirksverwaltungen der DDR. Einer dieser KGB-Mitarbeiter war zum Beispiel Wladimir Putin in Dresden. All diese KGB-Leute hatten Stasi-Ausweise. Damit konnten sie zu jeder Tages- und Nachtzeit die Stasi-Gebäude betreten. Der Herr hat dem Knecht erst recht nicht gesagt, welche Chefs in der DDR für ihn arbeiten. Diestel hat von zwei Generalen geschrieben – also zwei Menschen in ganz hohen Positionen im Innenministerium der DDR – vielleicht sogar stellvertretende Minister?
Umgekehrt hat die Stasi dem KGB natürlich auch vieles nicht gesagt. Die illegalen Geschäfte und Schweinereien zum Beispiel bei den Waffengeschäften der DDR 1986 mit dem Apartheidstaat Südafrika wurden ja auch vor dem KGB geheim gehalten. Die Firma IMES von Schalck-Golodkowski hatte diese sowjetischen Waffen damals wegen des Waffenembargos heimlich um die halbe Welt geschippert. Das mussten die Russen nicht wissen. Genauso wenig wie sie wissen mussten, dass Schalck das, was er gegen Transferrubel in Moskau gekauft hat, im Westen gegen harte Währung weiterverkauft hat.
Multipolar: In Ihrem Buch haben Sie den Ablauf der Wende-Ereignisse wie folgt strukturiert: Die Öffnung der Grenze in Ungarn sei der Prolog gewesen, der Mauerfall der erste Akt, die Wiedervereinigung der zweite Akt und die Auflösung des Warschauer Pakts der Epilog. Und das alles soll zwischen Moskau und Washington abgesprochen gewesen sein. Wie soll das konkret gelaufen sein?
Wolski: Man sollte sich mal anschauen, was für eine Biografie der bereits erwähnte Wladimir Semjonow hat. Er war von 1978 bis 1986 sowjetischer Botschafter in der BRD in Bonn. Dann blieb er aber in der BRD. Wenn man der deutschen Wikipedia glaubt, war er ab 1986 einfach nur noch Rentner in Köln. Das war aber sehr ungewöhnlich für sowjetische Diplomaten. Normalerweise verbrachten sie ihren Lebensabend nicht im Ausland. In der englischen Wikipedia steht denn auch, dass Semjonow bis 1991 als sowjetischer Sonderbotschafter („Ambassador at Large“) und Berater des Außenministers gearbeitet hat. Seine Autobiografie betitelte er mit den Worten „Von Stalin bis Gorbatschow – ein halbes Jahrhundert in diplomatischer Mission 1939-1991“.
Er war also nach 1986 noch im Dienst. Ein Sonderbotschafter wird immer für eine bestimmte Angelegenheit ernannt – für Vertragsverhandlungen oder ähnliches. Dieses eine Thema, für das Semjonow der Ansprechpartner war, ist meiner Meinung nach das Thema Deutsche Einheit gewesen. Markus Wolf, der legendäre Chef des DDR-Auslandsgeheimdienstes HVA und Ziehsohn Semjonows, muss das im März 1986 geahnt haben, was da auf ihn zukommen kann, als erfuhr, dass Semjonow in Köln wohnen wird. Er reichte sofort bei Mielke seinen Antrag auf Pensionierung ein.
Semjonow und Walters gaben der DDR "die letzte Ölung"
Die These wird auch deshalb gestützt, weil die Vereinigten Staaten 1989 Vernon Walters zum US-Botschafter in Bonn machten. Zum ersten Mal wurde damit ein pensionierter Militär zum Botschafter in der BRD. Der Mann war Nachrichtenoffizier und Vizechef der CIA unter George Bush. Das war ein absoluter Geheimdienstmann, der von sich gesagt hat: „Ich werde nur gerufen, wenn dem Patienten die letzte Ölung zu Teil werden soll.“ Zusammen mit Semjonow hat er dann auch der DDR die letzte Ölung verpasst. Walters sagte der International Herald Tribune bereits Anfang September 1989, dass Deutschland schon sehr bald wiedervereinigt wird. Er wusste mehr.
Multipolar: Sie sind also überzeugt, dass Semjonow und Walters – zwei erfahrene Geheimdienstleute der Weltmächte – die DDR-Grenzöffnung und die deutsche Wiedervereinigung diskret im Vorfeld ausgehandelt haben?
Wolski: Ja. Condoleezza Rice hat ein Buch über Maueröffnung und Einheit geschrieben, darin zeigt sie sich verwundert, dass solch ein großer Vertrag (Zwei-plus-Vier-Vertrag) zwischen zwei Weltmächten beziehungsweise insgesamt sechs Ländern in so kurzer Zeit verhandelt wurde. Der Schluss liegt nahe, dass diese Verhandlungen zumindest zwischen USA und UdSSR eben nicht erst 1990 begonnen haben, sondern Jahre zuvor. Wer schon mal Vertragsverhandlungen mitgemacht hat, zum Beispiel beim Kauf einer Firma, der weiß, dass man da jahrelang verhandeln kann, bis die Folgen abgeschätzt und alle Genehmigungen eingeholt sind etc. Durch diese Vorbereitungszeit konnte man den Zwei-plus-Vier-Vertrag jedoch bereits im September 1990 unterzeichnen, zehn Monate nach Mauerfall.
Multipolar: Warum eigentlich sollte die Sowjetunion den Mauerfall mit den USA absprechen?
Wolski: Einerseits hätten die Amerikaner das sowieso über ihre Aufklärung mitbekommen. Andererseits war es ja auch viel besser die USA einzubinden. Sie sollten die Aktion nicht stören und sie bekamen die DDR für ihr Imperium geschenkt und später den ganzen Ostblock.
Multipolar: Sie haben viele Indizien gesammelt und einige durchaus plausible Vermutungen aufgestellt. Trotzdem bleibt Ihre Vermutung, der Mauerfall sei eine aus Moskau gesteuerte Aktion gewesen, lediglich eine Hypothese.
Wolski: Ja, ich kann das nicht beweisen. Aber die friedlichen Revolutionäre können auch nicht beweisen, wie sie das gemacht haben, dass die Mauer aufging, ohne dass ein Schuss fiel. Condoleezza Rice schreibt in ihrem Buch, es sei „eine Gnade Gottes“ gewesen, dass die DDR-Grenztruppen nicht geschossen haben. Das ist mir zu pathetisch. Es war doch bekannt, dass die Grenzer wegen des Befehls vom April 89 gar nicht schießen durften.
Gorbatschow warnte seine Truppen schon vor dem Mauerfall
In einem Interview mit der Welt zum Mauerfall-Jubiläum sagte Gorbatschow im vergangenen Jahr: „Schon vorher, am Vorabend dieser Ereignisse, hatte ich die sowjetischen Truppen vor einem Eingreifen gewarnt: ‚Keinen Schritt. Sie bleiben, wo Sie sind.‘“ Ich finde das sehr interessant. Wie konnte Gorbatschow seine Truppen im Vorfeld vor einem Ereignis warnen, das doch ganz spontan und zufällig zustande gekommen sein soll?
Multipolar: Im Interview erklärt er das damit, dass der Mauerfall generell zu erwarten gewesen sei. Das hat mich auch verwundert, denn für viele Beobachter kam das Ereignis doch völlig überraschend.
Wolski: Da das Team um Gorbatschow diesen Plan auf Rücksicht der Gegner in der Sowjetunion und im Warschauer Pakt nicht offen kommunizieren konnte, gab es eine doppelte Kommunikation. Für die Öffentlichkeit die Erzählung von Perestrojka und Glasnost (Offenheit) und für die Eingeweihten die Planung von Mauerfall und Einheit. Der Schnittpunkt in der Kommunikation war dann der Abend des 9. November 1989.
Multipolar: Die Einschätzung der Person Michail Gorbatschow ist an sich auch sehr interessant. In Deutschland hat „Gorbi“ bei sehr vielen Menschen wegen der friedlichen Wiedervereinigung ein positives Image. In Russland hingegen hat er allgemein mit einem negativen Image zu kämpfen. Dort ist gerade ein neuer, viel beachteter Dokumentarfilm zur Deutschen Einheit gesendet worden, in dem Gorbatschow als Verräter der Sowjetunion und als Verräter der DDR bezeichnet wird.
Wolski: Im Film „Stena“ („Mauer“) vom 4. Oktober wird eine völlig andere Sicht auf Mauerfall und Einheit als hier im Westen angeboten. Das war das erste Mal, das man offen sagt: „Das war Verrat an der Sowjetunion und auch Verrat an der DDR!“ Das ist natürlich eine Bombe. Der Verantwortliche für den Film ist Andrej Kondraschow, der Erste Stellvertretende Vorsitzende der Staatlichen Allrussischen Fernseh- und Rundfunkgesellschaft (WGTRK), persönlich. Er führt auch als Reporter und Moderator durch den Film. Das ist als politisches Signal zu werten, zeigt es doch die neue Sicht des Kremls auf Mauerfall und Einheit. Da dürfte im 30. Jahr des Zerfalls der Sowjetunion 2021 noch einiges an Neuigkeiten zu erwarten sein.
In der Literaturnaja Gaseta – einer Zeitung für das russische Bildungsbürgertum – gab es eine Rezension zum dem Film und auch dort wird Gorbatschow Verrat vorgeworfen. Und wenn man in die russischen Online-Foren und Blogs hineinschaut, dann herrscht dort überall der Tenor, dass es tatsächlich Verrat war. In westlichen Medien ist von dem Film noch nichts zu lesen gewesen und es gibt auch noch keine Variante mit deutschen oder englischen Untertiteln. Wenn sich diese Interpretation von Mauerfall und Deutscher Einheit in Russland durchsetzt, dann werden wir wieder eine zweigeteilte Geschichtsschreibung haben, wie zu alten Ost-West-Zeiten: eine westliche und eine russische Variante.
Multipolar: Diese politische Bewertung Gorbatschows widerspricht Ihrer These nicht.
Wolski: Es beißt sich nicht mit meiner These, aber ich habe ihn in meinem Buch nicht als „Verräter“ bezeichnet. Ich bewerte das nicht. Ich habe nur aufgezeigt, wie es aus meiner Sicht abgelaufen sein könnte aufgrund der vorliegenden Informationen und auch meiner persönlichen Erlebnisse. Ich hatte zum Beispiel in meiner Zeit in den 90ern in Russland jemanden kennengelernt, der mir erzählte, sein Vater sei 1960 bei einem Test-Mauerbau auf einem Moskauer Militärgelände („Polygon“) beteiligt gewesen. Da wurde getestet, wie der Mauerbau schnell funktionieren musste und welcher Material-und Personaleinsatz notwendig war bei der Sofortabriegelung.
Er hatte mir aus dessen Nachlass auch die Speisekarte geschenkt für das Festessen mit dem Genossen Chruschtschow in Ostberlin nach dem Rückflug aus Paris im Mai 1960 vom geplatzten Abrüstungsgipfel, wo sein Vater teilnahm. Chruschtschow soll sehr wütend gewesen sein, weil sich die Amerikaner nicht für den Spionageflug vom 1. Mai 1960 entschuldigt hatten. Auf diesem Zwischenstopp wurde der Mauerbau auf Chruschtschows Weisung beschlossen. Was ich im Buch anspreche zeigt, dass Ereignisse, die offiziell als zufällig oder spontan bezeichnet werden, oft politisch geplant sind.
Was die Sowjetunion gab, konnte auch nur die Sowjetunion wieder nehmen
Mauerbau und Mauerfall haben ihre eigene Tragik auch für die damals Herrschenden. Die DDR-Führung, Ziehkind der Sowjetunion, musste zuerst auf Moskauer Weisung die Mauer bauen (worüber einige sehr erfreut waren) und wurde dann durch die Genossen in Moskau am 9. November 1989 um eben diese Mauer gebracht, die für sie ein Schutzwall geworden war. Und während Gorbatschow heute im Schloss Hubertus in Rottach-Egern am Tegernsee residiert (Rundflug am Ende des Films "Stena"), wohnt Krenz in seinem Haus mit 36 Quadratmetern Grundfläche an der Ostsee. Er hatte wegen der Toten an der Mauer sechseinhalb Jahre Gefängnis erhalten, wovon er fast vier Jahre absaß. Viele Altgenossen haben das bis heute nicht verkraftet, dass die Sowjetunion sie nach 1990 nicht schützte. Die Interviews mit Krenz, Modrow, Wolf und Mahlow im Film Stena sind dafür Beleg.
Im Buch schreibe ich dazu: „Nach der Weisheit der Bibel (Hiob 1;21) „Der HERR hat’s gegeben, der HERR hat’s genommen“ konnte auch in dieser irdischen Angelegenheit 1989 nur die Herrin des Mauerbaus – die UdSSR – den Mauerfall friedlich herbeiführen.“
Zum Interviewpartner: Michael Wolski, Jahrgang 1952, studierte in der DDR Außenhandel an der Hochschule für Ökonomie in Berlin, arbeitete ab 1974 in verschiedenen Funktionen im DDR-Außenhandel (Lizenzhandel und Technologietransfer). Von 1986 bis 1990 war er als „kommerzieller Mitarbeiter“ im Internationalen Handelszentrum (IHZ) der DDR in Ost-Berlin tätig. Das IHZ gehörte zum Bereich „Kommerzielle Koordinierung“ (KoKo) unter Alexander Schalck-Golodkowski. Ab 1991 baute Wolski die Repräsentanz des US-Konzerns, für den er schon in Ostberlin arbeitete, in Moskau auf und war später an der Gründung des russischen Tochterunternehmens beteiligt. In der russischen Hauptstadt war er bis 1997 tätig. Wolski spricht Russisch und Englisch. Er lebt in Berlin.
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