Wem ist die neue STIKO verpflichtet?
KARSTEN MONTAG, 11. März 2024, 15 Kommentare, PDF„Die Ständige Impfkommission (STIKO) ist ein unabhängiges, ehrenamtliches Expertengremium, das Impfempfehlungen für die Bevölkerung in Deutschland entwickelt. Dabei orientiert sie sich an den Kriterien der evidenzbasierten Medizin und berücksichtigt sowohl den individuellen Nutzen für geimpfte Personen als auch den Nutzen für die gesamte Bevölkerung.“
So erklärt es das Robert Koch-Institut (RKI), dem die Impfkommission organisatorisch zugeordnet ist. Für die Zulassung von Impfstoffen ist die STIKO zwar nicht zuständig – darüber entscheidet die EU-Kommission nach einer Bewertung durch die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) sowie auf nationaler Ebene das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte. Die Empfehlungen der Kommission haben dennoch zwei wesentliche Konsequenzen für die Verabreichung von Impfungen in Deutschland.
Erstens sind sie Voraussetzung für die Aufnahme einer Schutzimpfung in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung. Bezahlt wird nur, was die STIKO empfiehlt. Zweitens sind die obersten Landesgesundheitsbehörden gemäß Infektionsschutzgesetz verpflichtet, „öffentliche Empfehlungen für Schutzimpfungen oder andere Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe auf der Grundlage der jeweiligen Empfehlungen der Ständigen Impfkommission“ auszusprechen. So gut wie alle Ärzte in Deutschland orientieren sich daher an den STIKO-Empfehlungen.
Die STIKO untersteht, ebenso wie das RKI, dem Bundesgesundheitsministerium (BMG), das auch über die Zusammensetzung des Gremiums bestimmt. Im November 2023 wurde eher nebenbei bekannt, dass Gesundheitsminister Karl Lauterbach einen radikalen Umbau der Kommission plane. Eine öffentliche Debatte dazu vermied das Ministerium. Im Februar dieses Jahres gab es stattdessen den fertigen Beschluss bekannt. Die Anzahl der jeweils dreijährigen Berufungsperioden der Mitglieder soll auf maximal drei beschränkt, das Gremium zudem von 17 auf 19 Angehörige aufgestockt werden. Die Folge: Es verbleiben nur fünf der bisherigen Mitglieder, 14 hat das BMG neu benannt.
STIKO ist mit Umbau nicht einverstanden
Die von Lauterbach im BMG installierte Abteilungsleiterin für öffentliche Gesundheit Ute Teichert eröffnete auf der letzten STIKO-Sitzung im November den Mitgliedern die radikalen Umbaupläne des Ministers. „Gründe für dieses Vorgehen seien eine Anpassung an internationale Standards und eine Steigerung der Transparenz“, heißt es im internen Protokoll. Zudem solle „das Expertise-Portfolio der STIKO um die Bereiche Modellierung und Kommunikation erweitert werden“. Mit anderen Worten, die Impfkommission, eigentlich für wissenschaftliche Bewertung zuständig, soll nun auch selbst professionelle PR machen sowie Gefahren, die der Öffentlichkeit nicht augenfällig sind, geeignet „modellieren“, wie es in der Corona-Zeit üblich wurde.
Die Teilnehmer der Sitzung reagierten ungehalten auf diese Ankündigung. Eine „rückwirkende Einführung zu diesem Zeitpunkt“ halte man „für fragwürdig“. Das Protokoll vermerkt:
„Die STIKO-Mitglieder äußern sich besorgt über den Wissens- und Expertiseverlust durch mangelnde Übergabemöglichkeiten bei gleichzeitigem Austausch von 13 STIKO-Mitgliedern und regen an, den Austausch stufenweise vorzunehmen. Die STIKO hinterfragt den Nutzen der abrupten Umsetzung dieser Neuregelung und weist auf das Risiko hin, dass es zu Zeitverzug bei neuen Impfempfehlungen kommen wird, da sich neue STIKO-Mitglieder zunächst in die komplexe Arbeitsweise der STIKO und in die neuen Themen einarbeiten müssen, Arbeitsgruppen neu gebildet und Sprecher der Arbeitsgruppen identifiziert werden müssen sowie begonnene Entscheidungsprozesse nur mit erheblichem Mehraufwand weitergeführt werden können. Es besteht das Risiko, dass zu dem Rückstand aus der Pandemie weitere Rückstände durch die Neuorganisation und die notwendige Einarbeitungsphase der neuen Mitglieder kommen.“
Das BMG wischte die Einwände der eigenen Fachleute jedoch beiseite und teilte der Kommission stattdessen abschließend mit, wer demnächst Lauterbachs Vorstellungen übermitteln soll:
„Als letzten Punkt wird durch das BMG angekündigt, dass Frau Dr. Gerit Korr künftig die STIKO von Seiten des BMG begleiten wird.“
Frau Korr ist Referatsleiterin für Impfungen im BMG und erhielt ihre Ausbildung an der London School of Hygiene and Tropical Medicine, die zu großen Teilen von der Gates Foundation finanziert wird und deren Absolventen beziehungsweise Mitarbeiter auch an andere Schlüsselpositionen im „Global Health“-Pandemiemanagement gelangt sind.
Interessenkonflikte: Nähe zur Pharmaindustrie und zur Regierung
Die Liste mit den Namen der zukünftigen STIKO-Mitglieder wurde im Februar vom BMG veröffentlicht. Wie eine Überprüfung zeigt, liegen bei mehreren der Neuzugänge teils gravierende Interessenkonflikte vor. Dies trifft insbesondere auf Stefan Flasche, Alexander Dalpke, Reinhard Berner und Stefan Brockmann zu.
Das Hauptfeld der Forschungstätigkeit von Prof. Flasche an der London School of Hygiene and Tropical Medicine wird vom Wellcome Trust finanziert. Das Treuhandunternehmen hält nach einer Untersuchung des Fachmagazins „British Medical Journal“ Anteile in jeweils dreistelliger Millionenhöhe an den Pharmakonzernen Novartis und Roche. Die Studien, an denen Flasche mitgewirkt hat, wurden unter anderem finanziert von der Gates Foundation, der Impfallianz Gavi, zu deren Sponsoren unter anderem auch Pharma- und Investmentunternehmen gehören, sowie vom Impfstoffhersteller Sanofi Pasteur. Inhalte dieser Untersuchungen waren beispielsweise die Modellierung von Lockdown-Strategien oder die positiven Auswirkungen der Isolation von Mitgliedern eines Haushalts bei einem positiven Test auf SARS-CoV-2.
Die Forschung von Prof. Dalpke vom Zentrum für Infektiologie am Universitätsklinikum Heidelberg wird unter anderem vom Pharma- und Biotechnologieunternehmen Gilead Sciences und der Medizintechnologie-Firma Becton Dickinson, einem Zulieferer der Pharmaindustrie, finanziert.
Prof. Berner, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum in Dresden, war seit 2021 Mitglied des Expertenrats der Bundesregierung zu COVID-19 und des Expertenbeirats pandemische Atemwegsinfektionen am Robert Koch-Institut. Als von der Bundesregierung bestellter Experte hat er den Empfehlungen des Gremiums zur Intensivierung der Boosterimpfungen, der Kontaktbeschränkungen und des Tragens von FFP2-Masken noch während der Omikron-Welle zugestimmt. Er empfahl 2022, die Bevölkerung „durch eine stringente Kommunikationsstrategie über die Gesundheitsrisiken einer Infektion, die kollateralen Effekte einer eingeschränkten Versorgung sowie den Nutzen der Impfung zu informieren und auf die zu erwartende Belastung vorzubereiten“.
Karl Lauterbach hatte gegenüber der STIKO noch vor einem Jahr betont, dass „alle Entscheidungen von der STIKO unabhängig getroffen“ worden seien und „die Unabhängigkeit der STIKO unbedingt gewahrt bleiben“ solle. Dieser Anspruch dürfte mit den Neubesetzungen hinfällig sein. Fachleute wie Reinhard Berner sind in der Vergangenheit vor allem dadurch aufgefallen, kontroverse und zweifelhafte Regierungsbeschlüsse kritiklos abzunicken.
Mit Stefan Brockmann, Leiter des Referats für Gesundheitsschutz und Epidemiologie im Landesministerium für Soziales, Gesundheit und Integration in Stuttgart, der während der Corona-Krise Ratgeber der baden-württembergischen Landesregierung in Sachen Infektionsschutz und Mitglied des Beratergremiums von Ministerpräsident Winfried Kretschmann war, wird ein weiterer Vertreter der restriktiven Vorgehensweise von Bund und Ländern in die „unabhängige“ Impfkommission einziehen.
Eine PR-Expertin, die über Impfempfehlungen abstimmt
Die Forschungsschwerpunkte von Prof. Constanze Rossmann vom Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität in München liegen laut ihres Profils „in den Bereichen Gesundheitskommunikation (insbesondere Strategische Gesundheitskommunikation, eHealth und mHealth, Krisenkommunikation) sowie Rezeptions- und Wirkungsforschung“. 2021 hat sie an einer Studie mitgewirkt, die zu dem Ergebnis kommt, dass Angstrhetorik bei jüngeren Altersgruppen unter 30 Jahren die Bereitschaft zu einer COVID-19-Impfung im Vergleich zu Menschen über 60 erhöht. Sie plädiert daher für eine altersabhängige Kommunikation von Impfempfehlungen.
Constanze Rossmann | Bild: Screenshot MDR
In einem Interview mit der Ärzte Zeitung äußerte das scheidende STIKO-Mitglied Martin Terhardt sein Unverständnis, dass zukünftig die Kommunikationswissenschaften in der Impfkommission vertreten sein sollen. Diese würden zur Vermittlung von STIKO-Empfehlungen gebraucht und nicht zu deren Entwicklung, so Terhardt.
Ein Blick auf die Webseiten des RKI bestätigt, dass die Geschäftsstelle der STIKO am Robert Koch-Institut die Anfragen von Journalisten koordiniert, Fragen von Ärzten und Apothekern zu den Empfehlungen beantwortet sowie die Publikation der Empfehlungen veranlasst. Anders gesagt: Wenn man die Kommunikation verbessern wollte, könnte man einfach die Geschäftsstelle personell aufstocken. Eine PR-Expertin allerdings selbst über Impfempfehlungen abstimmen zu lassen, erscheint fachlich unsinnig und ethisch fragwürdig.
Prof. Rossmann hat weiterhin zusammen mit Prof. Dr. Cornelia Betsch bis 2019 das Projekt „Impfen 60+“ geleitet, das Strategien und Maßnahmen der Gesundheitskommunikation entwickelt hat, um der sinkenden Impfquote in der Altersgruppe über 60 Jahren entgegen zu wirken. Das Vorhaben war Teil der vom BMG geförderten Forschungsinitiative InfectControl 2020, in dem auch Unternehmen der Pharmaindustrie Partner waren.
Mehr Impfstoffe, beschleunigte Impfempfehlungen, höhere Impfbereitschaft
Rossmanns Kollegin Betsch, mit der sie auch einen Masterstudiengang zur Gesundheitskommunikation an der Uni Erfurt entwickelt hat, war, wie der schon erwähnte Reinhard Berner, Teil des Corona-Expertenrats der Bundesregierung. Als Sachverständige in einer Sitzung des Gesundheitsausschusses des Bundestages gab sie im Februar 2023 zum Tagesordnungspunkt „Fachgespräch zur Arbeitsweise und geplanten Neuausrichtung der STIKO“ Einblicke in ihre Denkweise.
Bis 2019 habe sich die Impfakzeptanz positiv entwickelt, so Betsch, sei jedoch während der Corona-Krise von 60 auf 40 Prozent zurückgegangen. Der Anteil der Unsicheren habe sich verdoppelt. (Zur Einordnung: Die von Betsch genannten Zahlen werden von einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, auf die sich die Psychologin offenbar bezieht, nicht bestätigt. Demnach ist nur in Ostdeutschland die allgemeine Befürwortung von Impfungen von 70 Prozent in 2018 auf 51 Prozent in 2022 zurückgegangen. In Westdeutschland stieg sie im gleichen Zeitraum hingegen von 56 auf 57 Prozent an.) Im Protokoll der Ausschusssitzung wird ihre Begründung für die gesunkene Akzeptanz wie folgt wiedergegeben:
„Wenn die STIKO zum Beispiel keine Empfehlung ausspreche, dann könne man noch so oft betonen, dass man sich dennoch impfen lassen könne und die Impfung nicht schädlich sei – in der Bevölkerung komme trotzdem an, dass abgeraten werde. Insbesondere mRNA-basierte Impfungen stellten hier in Bezug auf Mythen in der Bevölkerung eine Herausforderung dar.“
Die Argumentation macht deutlich, mit welchen Widersprüchen die Politikgestaltung zu kämpfen hat, solange es an einer kritischen Aufarbeitung der Corona-Krise mangelt. Pointiert ausgedrückt: Nicht die Falschaussagen von Politikern (Lauterbachs „nebenwirkungsfreie“ Impfung), nicht das Nötigen zur Impfung durch 2G- und 3G-Regelungen, nicht die öffentliche Diffamierung von kritischen Stimmen und nicht die unwahren Behauptungen im Zusammenhang mit der Forderung einer Impfpflicht sollen Grund für die gesunkene Akzeptanz sein, sondern ein zu langsamer Prozess bei der Entwicklung von Empfehlungen durch die STIKO und eine mangelhafte Kommunikation gegenüber der Bevölkerung.
Warum erhöhte PR-Anstrengungen nun insbesondere aus Sicht der Pharmaindustrie notwendig erscheinen, erläuterte Benedikt Fabian vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller in derselben Sitzung des Gesundheitsausschusses. Die Impfstoffhersteller, so ihr Sprecher in den Räumen des Bundestages, bereiten „in den nächsten Jahren 100 Impfstoffe für die Zulassung vor“.
Die Vorstandsvorsitzenden der Pharmakonzerne Gilead, Merck, Sanofi, Pfizer, Novartis und Eisai bei einem Treffen mit afrikanischen Gesundheitsministern 2017 in Genf (ganz rechts: Bill Gates) | Bild: picture alliance / Keystone / Salvatore Di Nolfi
Das wäre ein Vielfaches von dem, womit sich die STIKO in der Vergangenheit auseinandersetzen musste. Der Pharmalobbyist forderte daher eine personelle Aufstockung der STIKO. Die Pharmaindustrie solle schon „während des laufenden Verfahrens Einblicke“ in den STIKO-Diskussionsprozess erhalten. Eine „Einbindung in das Stellungnahmeverfahren der STIKO“ sei zu prüfen.
Weniger bremsende Kindermediziner in der neuen STIKO
Ein weiterer Hinweis darauf, dass der Umbau der STIKO eine Beschleunigung der Entwicklung von Impfempfehlungen zum Ziel hat, ist die Reduzierung der Anzahl der Experten für Kindermedizin in dem Gremium von bisher vier auf zwei. Wie die Zeit berichtet, hätten sich die Kindermediziner in der bisherigen Zusammensetzung der STIKO während der Corona-Krise nur sehr beschränkt für Impfempfehlungen für Kinder und Jugendliche ausgesprochen und zunächst Studiendaten und Erfahrungen aus anderen Ländern abgewartet. Die Kindermediziner seien tendenziell vorsichtiger gewesen und hätten gebremst.
Für die neue STIKO stehen demnächst zwei diesbezügliche Entscheidungen an – zur Impfung von Kindern gegen die Grippe und gegen RSV-Infektionen.
Zur Qualität der Empfehlungen
Wie sich eine Reduzierung der Zeitdauer bis zur Aussprache einer Impfempfehlung sowie die Neubesetzung der Kommission auf die Qualität der Arbeit des Gremiums auswirken könnte, lässt sich aus dem bereits angeführten Interview des scheidenden STIKO-Mitglieds Martin Terhardt mit der Ärzte Zeitung erahnen. Terhardt, der insgesamt zwölf Jahre in der STIKO tätig war, weist darauf hin, dass die Kommission schon einmal im Verdacht stand, eine zu große Nähe zur Pharmaindustrie zu haben. Ein Weg, die Unabhängigkeit und die Qualität der Empfehlungen zu steigern, lag demnach in der Anwendung der GRADE-Methodik.
GRADE wurde vom internationalen Netzwerk Cochrane Collaboration entwickelt, um die Aussagekraft von den durch die Pharmaunternehmen selbst durchgeführten Zulassungsstudien sowie den häufig von den Pharmaunternehmen mitfinanzierten Wirksamkeitsstudien von Arzneimitteln systematisch bewerten zu können und damit die Gesundheitsempfehlungen auf evidenzbasierte Medizin zu gründen.
Um die Methodik anzuwenden, hätten sich die bisherigen STIKO-Mitglieder einer entsprechenden Schulung unterzogen, so Terhardt. Da die Nutzung von GRADE nicht auf einer Vorgabe des BMG beruht, sondern die Angehörigen der bisherigen Kommission selbst darüber entschieden haben, bleibt abzuwarten, ob das neu zusammengesetzte Gremium den Weg der systematischen Bewertung von Zulassungs- und Wirksamkeitsstudien nun weiter verfolgt.
Auch die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) sieht die Neubesetzung der Kommission hinsichtlich der Qualität ihrer Arbeit kritisch. Die Ärzte Zeitung zitiert den Präsidenten der Gesellschaft, Martin Scherer, mit den Worten:
„Dieser radikale Umbau ist für uns nicht nachvollziehbar, denn dabei geht wichtige praktisch-wissenschaftliche Expertise verloren. Deutschland leistet sich mit der STIKO zurecht ein unabhängig agierendes Gremium für Impfempfehlungen – die darin enthaltene Erfahrung und Kontinuität sollten wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.“
Zudem rügt die DEGAM, dass das BMG die Regeln für die Berufung der STIKO-Mitlieder nicht veröffentliche.
Kontext: Ein größerer Plan
Dass die Neubesetzung der STIKO mit Mitgliedern, die teils der Pharmaindustrie und der Regierung nahe stehen, die Beschleunigung von Impfempfehlungen zum Ziel hat, wird auch in einem erweiterten Kontext deutlich. So plant die Ampelkoalition die Verabschiedung eines neuen Medizinforschungsgesetzes, das auch die Bildung einer neuen Bundesethikkommission beinhaltet. Das Deutsche Ärzteblatt hat gleich drei Beiträge mit kritischen Einwänden gegen das Gesetzesvorhaben in den vergangenen Monaten veröffentlicht.
Laut dem vom BMG und dem Umweltministerium vorgelegten Gesetzesentwurf soll die vollkommen neu einzuberufende Bundesethikkommission unter anderem zuständig für klinische Prüfungen sein, die in der Notfalleinsatzgruppe der Europäischen Arzneimittelagentur behandelt werden. Dies würde laut der entsprechenden EU-Verordnung für Arzneimittel gelten, die „das Potenzial zur Bekämpfung von Notlagen im Bereich der öffentlichen Gesundheit haben“. Ebenso betroffen wären klinische Prüfungen, bei denen neue Arzneimittel erstmalig am Menschen geprüft werden sowie klinische Prüfungen von Arzneimitteln für neuartige Therapien – also etwa für Gentherapeutika, somatische Zelltherapeutika oder biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte, so das Deutsche Ärzteblatt.
Der größte von der Bundesärztekammer (BÄK) und den Landesärztekammern (LÄK) geäußerte Kritikpunkt betrifft die Abhängigkeit der neuen Kommission vom BMG. So sollen die Mitglieder vom Ministerium bestimmt werden. Das Gremium soll sich danach eine eigene Geschäftsordnung geben, die jedoch der Zustimmung des BMG bedarf. Zudem würde die neue Bundesethikkommission zu den bestehenden unabhängigen Ethikkommissionen auf Länderebene in Konkurrenz treten. Das Ärzteblatt zitiert hierzu den BÄK-Präsidenten Klaus Reinhardt mit den mahnenden Worten:
„Die unabhängige ethische Bewertung der Forschung am Menschen stellt gerade im Lichte der Erfahrungen aus der NS-Zeit einen wesentlichen Eckpfeiler des Patienten- und Probandenschutzes dar.“
Nach den Plänen der Ampelregierung soll das neue Medizinforschungsgesetz noch in diesem Jahr vom Bundestag beschlossen werden und die neue Bundesethikkommission bereits ab Januar 2025 ihre Arbeit aufnehmen. Die Neubesetzung der STIKO zum jetzigen Zeitpunkt dürfte kein Zufall, sondern Teil einer umfassenden Planung sein, Arzneimittel in Zukunft schneller und ohne unabhängige Prüfung zuzulassen.
Multipolar fragt nach, das Ministerium mauert
Multipolar hat zum Umbau der STIKO mehrere Fragen an das BMG gesandt, auf die das Ministerium jedoch lediglich mit einer pauschalen, wenig aussagekräftigen Stellungnahme reagierte. Weitere Nachfragen wurden brüsk abgeblockt. Dem Gesagten habe man „nichts hinzuzufügen“. Die Korrespondenz mit dem Ministerium befindet sich im Anhang.
Randnotiz: Der auf die Anfrage antwortende Pressereferent des Gesundheitsministeriums, Sören Haberlandt, ist selbst Journalist. Er hatte zunächst für die taz gearbeitet. Nach zwei gescheiterten Bewerbungen bei der Henri-Nannen-Journalistenschule ließ er sich von der Axel-Springer-Akademie ausbilden. Darauf folgten vier Jahre bei der Bild-Zeitung. Während dieser Zeit hielt er unter dem Titel „Die Verrückten“ einen Vortrag zu den, so wörtlich, „bescheuertsten Verschwörungstheorien“, in deren Zusammenhang er auch Kritik an Impfungen stellte. 2023 wechselte er in die Pressestelle des Bundesgesundheitsministeriums.
Über den Autor: Karsten Montag, Jahrgang 1968, hat Maschinenbau an der RWTH Aachen, Philosophie, Geschichte und Physik an der Universität in Köln sowie Bildungswissenschaften in Hagen studiert. Er war viele Jahre Mitarbeiter einer gewerkschaftsnahen Unternehmensberatung, zuletzt Abteilungs- und Projektleiter in einer Softwarefirma, die ein Energiedatenmanagement- und Abrechnungssystem für den Energiehandel hergestellt und vertrieben hat. Seine bei Multipolar veröffentlichten Recherchen zu den Abrechnungsdaten der Krankenkassen mit Blick auf COVID-19 wurden von verschiedenen Medien aufgegriffen – und erschienen anschließend auch im International Journal of Epidemiology.
Anhang
Fragen von Multipolar an das BMG vom 26. Februar 2024:
(1) Nach welchen Kriterien wurden die neuen Mitglieder ausgewählt, die berufen wurden?
(2) Wo sind diese Kriterien festgehalten?
(3) Welche Personen im BMG haben über die Auswahl entschieden?
(4) Gibt es Protokolle zum Ablauf des Auswahlverfahrens, in denen der Diskussionsprozess zur Auswahl und Bewertung der Kandidaten festgehalten wurde?
(5) Wie begründen Sie die Ernennung der beiden neuen Mitlieder Prof. Dr. Stefan Flasche und Prof. Dr. Alexander Dalpke angesichts ihrer offensichtlichen Nähe zur Pharmaindustrie? Anmerkung: Das Hauptfeld der Forschungstätigkeit von Prof. Flasche an der London School of Hygiene and Tropical Medicine wird vom Wellcome Trust gefördert (https://www.lshtm.ac.uk/aboutus/people/flasche.stefan). Das Treuhandunternehmen hält nach einer Untersuchung des Fachmagazins „The British Medical Journal“ Anteile in jeweils dreistelliger Millionenhöhe an den Pharmakonzernen Novartis und Roche (https://www.bmj.com/content/372/bmj.n556). Die Forschung von Prof. Dalpke wird unter anderem von dem Pharmazie- und Biotechnologieunternehmen Gilead Sciences und dem Medizintechnologie-Unternehmen Becton Dickinson, einem Zulieferer der Pharmaindustrie, finanziert (https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/zentrum).
(6) Wie begründen Sie die Ernennung der beiden neuen Mitglieder Prof. Dr. Reinhard Berner und Stefan Brockmann angesichts ihrer möglichen Befangenheit aufgrund ihrer vergangen bzw. aktuellen Tätigkeiten in anderen Gremien der Bundes- und Landesregierungen? Anmerkung: Prof. Berner ist bereits seit 2021 Mitglied des Expertenrats der Bundesregierung zu COVID-19 und des Expertenbeirats pandemische Atemwegsinfektionen am Robert Koch-Institut. Stefan Brockmann war während der Corona-Krise Ratgeber der baden-württembergischen Landesregierung in Sachen Infektionsschutz und Mitglied des Beratergremiums von Ministerpräsident Winfried Kretschmann.
(7) In welcher Form soll die Kommunikationsexpertin Prof. Dr. Constanze Rossmann als neues Mitglied zur Aufgabe der STIKO beitragen, Impfempfehlungen zu entwickeln, also die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit bzw. Sicherheit eines Impfstoffs und dessen Nutzen-Risiko-Verhältnisses zu analysieren und zu bewerten? Anmerkung: Für die Kommunikation der Impfempfehlungen für die Fachöffentlichkeit ist das Robert Koch-Institut zuständig, für die Bevölkerung die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.
(8) Inwieweit stellt das BMG sicher, dass die GRADE-Methode, eine Methodik der evidenzbasierten Medizin für Präventionsempfehlungen, in der die bisherigen STIKO-Mitglieder geschult wurden, weiterhin in der Kommission angewendet wird?
Antwort des BMG vom 29. Februar:
„[G]emäß dem Infektionsschutzgesetz (§ 20 Absatz 2 IfSG) beruft das BMG die Mitglieder der STIKO im Benehmen mit den obersten Landesgesundheitsbehörden turnusmäßig alle drei Jahre neu. Die Amtszeit der amtierenden STIKO-Mitglieder wurde im März 2023 vor dem Hintergrund der Überführung der COVID-19-Impfung in die Regelversorgung um ein Jahr verlängert. Nach der aktuellen Geschäftsordnung der STIKO beginnt die Mitgliedschaft in der STIKO mit dem Tag der ersten Sitzung nach der Berufung und endet spätestens am Tag vor der ersten Sitzung einer neu berufenen Kommission.
In Anlehnung an Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie an Berufungsdauern von Impfkommissionen anderer Länder wird die Berufungszeit auf maximal drei Berufungsperioden begrenzt. Neben der Prüfung von Interessenkonflikten trägt dies zusätzlich zur Sicherung der Unabhängigkeit des Gremiums bei. In der neu berufenen STIKO finden sich damit fünf Personen aus der letzten Berufungsperiode, von diesen sind vier Personen in der dritten und eine Person in der zweiten Berufungsperiode. Die Mitgliedschaft in der STIKO bleibt ein persönliches Ehrenamt.
Das BMG bestimmt im Benehmen mit den obersten Landesgesundheitsbehörden die Mitglieder. So wie es das Infektionsschutzgesetz (§ 20 Abs. 2 Infektionsschutzgesetz) vorsieht. Mit der konstituierenden Sitzung am 12. und 13. März 2024 beginnt turnusgemäß eine neue Berufungsperiode der STIKO. Im Rahmen des Neuberufungsverfahrens hat das BMG Vorschläge von scheidenden STIKO-Mitgliedern, der STIKO-Geschäftsstelle am Robert Koch-Institut (RKI) und von Fachgesellschaften berücksichtigt.
Bei der Neuberufung der STIKIO-Mitglieder wurde darauf geachtet, dass relevante Disziplinen abgebildet sind, die Kommission möglichst paritätisch besetzt wird und keine Interessenkonflikte einer Berufung widersprechen.
Dank der Bereitschaft renommierter Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis, in der STIKO tätig zu werden, ist es gelungen, weiterhin eine große Bandbreite der relevanten medizinischen Disziplinen wie der Virologie, Infektiologie, Infektionsepidemiologie, Immunologie, Mikrobiologie, Pädiatrie, Allgemeinmedizin, Gynäkologie, Arbeitsmedizin, Reisemedizin und dem öffentlichen Gesundheitsdienst, abzubilden und diese noch zu erweitern. Mit Blick auf die Erfahrungen während der COVID-19 Pandemie wird neue Expertise in den Bereichen Modellierung und Kommunikation zur Verfügung stehen. Zudem wird die Disziplin Geriatrie in der STIKO neu vertreten sein. Damit kann die STIKO zukünftig dem unter anderem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) geforderten lebenslangen Ansatz für die Immunisierung besser gerecht werden.
Im Interesse eines transparenten Entscheidungsprozesses sind STIKO-Mitglieder vor der Berufung gegenüber dem BMG zur Abgabe einer Selbstauskunft über Umstände verpflichtet, die einen möglichen Interessenkonflikt oder die Besorgnis der Befangenheit im Aufgabenbereich der STIKO begründen könnten. Das BMG prüft, ob Umstände vorliegen, die eine Berufung ausschließen.
Darüber hinaus sind berufene Mitglieder verpflichtet, ihre Angaben regelmäßig zu aktualisieren und vor jeder Sitzung mitzuteilen, ob zu einzelnen Tagesordnungspunkten Umstände vorliegen, die zu einem Ausschluss von der Beratung und Beschlussfassung führen könnten. Das RKI prüft, ob derartige Umstände vorliegen. Wenn dies bei einem Mitglied der Fall ist, kann das Mitglied an der Beratung und Beschlussfassung zu einzelnen Tagesordnungspunkten oder an der Sitzung insgesamt nicht mitwirken.“
Auf die Bitte, die gestellten Fragen im Einzelnen zu beantworten, erfolgte keine Reaktion der Pressestelle. Auf telefonische Nachfrage und dem erbetenen erneuten Zusenden der Fragen, kam dann am am 7. März folgende Antwort:
„Gerne verweisen wir auf unsere Website und die Seite der STIKO beim RKI. Den Antworten vom 29. Februar 2024 haben wir an dieser Stelle nichts hinzuzufügen.“
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