„Das ist eine ganz perfide Sache“
PAUL SCHREYER, 9. Oktober 2023, 4 Kommentare, PDFMultipolar: Die Nutzung der Atomenergie ist in Deutschland – mit der Abschaltung der letzten drei Reaktoren im April 2023 – vorerst beendet. International ist sie aber wieder auf dem Vormarsch. Auch in Deutschland äußerte sich eine Mehrheit der Bürger zuletzt gegen den Ausstieg. Angesichts der Stichworte Stromkosten und Klimaschutz erscheint diese Form der Energieerzeugung vielen attraktiv, trotz der bekannten Risiken. Ähnlich wie aktuell bei den Corona-Impfungen steht bei diesen Risiken die Frage der Haftung im Raum. Also: Wer zahlt, wenn viele Menschen geschädigt werden, etwa durch einen Atomunfall. Es gibt dazu einen internationalen Vertrag, das Pariser Übereinkommen. Da haben sich verschiedene Staaten zusammengetan und Haftungsobergrenzen für die Betreiber festgelegt, auch Deutschland. Wie ist dieses Abkommen aus Ihrer Sicht einzuschätzen?
Pflugbeil: Das Pariser Atomhaftungsübereinkommen von 1960 wurde von niemandem geliebt. Um verbindlich zu werden, hätte eine gewisse Mindestanzahl der daran beteiligten Staaten dieses Abkommen auch ratifizieren müssen. Das scheint nicht gelungen zu sein. Inzwischen hat sich soviel verändert, daß es einen Berg fragwürdiger neuer Ideen gibt – aber ziemlich sicher immer noch kein international anerkanntes Übereinkommen zur Haftungsfrage.
Multipolar: In welchem Verhältnis steht denn die Haftung, die die Betreiber gesetzlich übernehmen müssen, zu den Risiken, die sich anhand der bereits stattgefunden Atomunfälle bemessen lassen?
Pflugbeil: Die Kernkraftwerke sind praktisch von der Haftung befreit. Theoretisch steht das zwar in diesem Abkommen drin, aber praktisch sind sie befreit. Zum Beispiel ist niemand auf die Idee gekommen, von den „Russen“ eine Entschädigung zu verlangen für die Schäden, die Tschernobyl woanders verursacht hatte. Sicherheitshalber hatte die UdSSR das Abkommen auch nicht unterzeichnet. Und für die normalen Bürger, die von so einer Katastrophe betroffen sind, da kann man sich einfach mal den Spaß machen und eine Kranken-, Hausrats- oder Wohngebäudeversicherung heraussuchen. Da ist überall der Schaden durch eine Atomkatastrophe definitiv ausgeschlossen. Eine typische Formulierung lautet: „Die Versicherungen erstrecken sich nicht auf Schäden, die durch Kriegsereignisse, innere Unruhen, Erdbeben oder Kernenergie verursacht werden.“ So sagt es zum Beispiel die Allianz. Entsprechende Passagen finden sich unter dem Punkt „Haftungsausschlüsse“ in den Versicherungsbedingungen sehr vieler – wenn nicht aller – Versicherungen. Als normaler Bürger kriegt man im Falle einer Katastrophe keinen Pfennig. Das ist leider so. Als Glosse wird immer gesagt, dass die Autos auf dem Parkplatz von einem Kernkraftwerk besser versichert sind als das Kernkraftwerk selbst – und das ist auch wahr. Es ist lange darüber debattiert worden, das ist aber unverändert so geblieben.
Multipolar: Daraus lässt sich folgern, dass die Versicherungen sich entweder nicht in der Lage sehen, die Kosten eines Atomunfalls zu errechnen oder dass diese Kosten zumindest so hoch sind, dass sie sich nicht rentabel versichern lassen.
Pflugbeil: Es gibt verschiedene Abschätzungen aus dem Kernkraftwerksapparat selbst, die versucht haben, die Dimensionen von Unfällen und auch die Höhe des Schadens abzuschätzen. Wenn man sich dazu anschaut, wie sich die Kenntnisse über das Strahlenrisiko im Lauf der Jahrzehnte, zwar mühsam, aber immerhin verbessert haben und das Strahlenrisiko immer höher eingeschätzt werden muss anhand der neuen Beobachtungen, dann erscheint das Missverhältnis zwischen den Schadenseinschätzungen der Kernkraftwerksbetreiber und dem realen Strahlenrisiko immer krasser.
Es gibt Untersuchungen zum Beispiel vom Prognos Institut in der Schweiz. (1) Das ist kein verbissen atomenergiekritischer Verein. Die machen einfach Gutachten, wenn die bestellt werden, zu verschiedenen wirtschaftlichen und energiepolitischen Themen. Sie haben kein direktes Interesse, etwas aufzubauschen oder herunterzuspielen. Die haben solche Übersichten gemacht und da wird dieses Missverhältnis ganz deutlich, zwischen dem Schaden, mit dem man tatsächlich rechnen muss und der Realität in den Versicherungsvereinbarungen. Die von Prognos sehr sorgfältig abgeschätzen Schäden durch einen „Super-Gau“ erreichen einen Bereich oberhalb von 5.000 Milliarden Euro. (2) Würde man das auf eine hinreichende Versicherungsprämie umlegen, würde das den Strompreis um einige Euro pro Kilowattstunde erhöhen. Das ist leider in Vergessenheit geraten. Sowohl in der kritischen Szene als auch in der neutralen Gutachterszene, die sich auch mit Versicherungen zu anderen Themen beschäftigt, ist das seit langem ein Thema – bei dem es am Ende keine Lösung gibt. Die Geschädigten stehen im Regen da.
Das ist weltweit so, vielleicht mit einer Ausnahme: Nach den Atombombentests gab es verschiedene Menschengruppen, die besonders durch die Tests geschädigt wurden. Da haben die Einwohner der pazifischen Inseln lange für Entschädigungen gekämpft und sind immer wieder abgebürstet worden. Es hat sich dann aber, auch mit Beteiligung von Leuten aus Deutschland, in den USA ein Verfahren entwickelt, das einigermaßen akzeptabel ist. Dort muss man als Geschädigter nicht mehr nachweisen, dass die Krankheit, die man hat, mit Sicherheit auf den Unfall, auf die Kernstrahlung zurückgeht, sondern man muss nur noch nachweisen, dass man zum Zeitpunkt, als das passiert ist, dort gelebt hat und dass man eine Krankheit hat, die im Prinzip durch Strahlung verursacht werden kann. Dann gibt es einen Topf, aus dem man dann eine Mütze voll Geld bekommt. Relativ unkompliziert. Anders kann man das nicht machen. Das ist, denke ich, die weltweit beste Lösung des Problems.
Überall sonst auf der Welt bringt man die Leute, die Gesundheitsprobleme durch nukleare Ereignisse welcher Art auch immer haben, in die Not, dass sie den Nachweis erbringen müssen, jeder für sich, dass seine Erkrankung durch die Strahlung verursacht wurde.
Multipolar: Ähnlich wie jetzt bei den Corona-Impfschäden.
Pflugbeil: Die Erkrankungen durch die Strahlung sind aber nicht strahlenspezifisch, die können auch durch andere Ursachen entstehen. Auch wenn völlig plausibel ist, zum Beispiel beim Uranbergbau, dass die Erkrankungen dadurch verursacht sind, haben die Kumpel praktisch keine Chance auf irgendeine Anerkennung einer Berufskrankheit oder ein bisschen höhere Rente oder so etwas. Also das ist eine ganz perfide Sache, die sich durch die gesamte Geschichte der Atomenergie zieht, und die, bis auf diese Ausnahme USA, für die Betroffenen praktisch nicht gelöst ist.
Multipolar: Das führt zur Frage nach der Anzahl der Geschädigten. Wenn man sich die offiziellen Dokumente der internationalen Atomenergiebehörde oder der entsprechenden UNO-Institutionen anschaut, dann ist zum Beispiel mit Blick auf die Atomkatastrophe in Tschernobyl 1986 im ukrainischen Teil der damaligen Sowjetunion immer die Rede davon, dass da nur sehr wenige Menschen gestorben seien. Es habe Schilddrüsenkrebsfälle gegeben, aber auch das wären nicht viele. Sie selbst, Herr Pflugbeil, sind über viele Jahre immer wieder vor Ort gewesen, in den betroffenen Gebieten in Weißrussland, Russland und der Ukraine und dort insbesondere in den Krankenhäusern. Sie sprechen Russisch und haben sich regelmäßig mit den Ärzten und Wissenschaftlern ausgetauscht, die statistische Erhebungen in diesen Ländern durchgeführt haben. Die kommen aber zu völlig anderen Zahlen. Wie sind diese Unterschiede aus Ihrer Sicht zu bewerten?
Pflugbeil: Da muss man vielleicht mal einen Blick nach oben werfen. Es gibt eine ganz Reihe von Institutionen, bei denen man so als normaler Bürger denkt, ihr Job besteht darin, aufzupassen, dass das alles ordentlich abläuft. Eine solche Institution ist die Internationale Atomenergieagentur in Wien, dann gibt es die WHO, dann gibt es UNSCEAR, das wissenschaftliche Komitee der Vereinten Nationen für die Wirkung atomarer Strahlen, das ist so kurz unter den Wolken, der Olymp der Wissenschaft. Da ist es leider so – und das kann man sehr gut an ihrer eigenen Satzung nachweisen und auch an der Zusammensetzung der Leute, die sich dort versammeln –, dass es im Kern darum geht, den Ausbau der Kernenergie nicht zu behindern, durch was auch immer. Das ist das Ziel Nummer 1. Es gibt eine endlose Reihe von unmißverständlichen Äußerungen sehr prominenter und mächtiger Leute, etwa von Hans Blix, schwedischer Diplomat, Jurist und Direktor der IAEA von 1981 bis 1997, also auch, als Tschernobyl explodierte. Er sagte: „In Anbetracht der großen Bedeutung der Kernenergie für die Menschheit würde ich einen Unfall vom Ausmaß von Tschernobyl pro Jahr als akzeptabel ansehen.“
IAEA-Generaldirektor Hans Blix am 9. Mai 1986 bei einer Pressekonferenz zum Atomunfall in Tschernobyl | Bild: picture alliance / Roman Denisov / TASS
Ein besonders perfider Trick liegt in den Knebelverträgen. Der wohl älteste Knebelvertrag wurde im Mai 1959 zwischen der IAEA und der WHO abgeschlossen. In Artikel III.1 steht: „Die IAEA und die WHO erkennen an, daß es notwendig sein kann, gewisse Einschränkungen zur Wahrung vertraulicher Informationen, die sie erhielten, anzuwenden.“ Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, daß das die Grundlage dafür war, Gesundheitsprobleme nach Tschernobyl zu bestreiten und nicht zu veröffentlichen. Es gibt einen entsprechenden Knebelvertrag zwischen IAEA und der UN vom 30.10.1959, dort findet man den Knebel in Artikel II. Nach Fukushima gab es gleich zwei Knebelverträge – einen zwischen der IAEA und der Präfektur Fukushima und einen zwischen der IAEA und der Medizinischen Universität Fukushima. In allen Fällen reichte es, daß die IAEA kurz die Stirn runzelte – und es gab keine Probleme mehr.
Man schreibt sich auf die Fahnen, verhindern zu wollen, dass sich die Atomwaffen weiter ausbreiten und bietet als Gegenleistung an, die Staaten beim Ausbau der friedlichen Nutzung der Kernenergie zu unterstützen. Das unterstellt, dass man beides voneinander trennen kann, was natürlich nicht geht. Die ganze Technik, das Material, die Qualifikation der Leute, die sich mit der Nutzung der friedlichen Kernenergie beschäftigen – diese Leute sind genauso in der Lage, aus dem Stand innerhalb kurzer Zeit Atomwaffen zu bauen. Die Trennung ist eine Fiktion.
Multipolar: Vor den Atomkraftwerken kamen die Atombomben.
Pflugbeil: Ja, damit ging diese ganze üble Thematik los. Man wollte Bomben bauen. In der Nazizeit. Dort sind die ersten Entdeckungen in der Kernspaltung gemacht worden, von Otto Hahn, und dann ist relativ schnell klar geworden, dass das nicht unbedingt ein Segen für die Menschheit ist. Die ersten Forschungen damals wurden von Militärs mit großem Interesse beäugt. Es gab einen jungen Physiker in der Sowjetunion, Georgi N. Flerow (1913-1990), der die ersten Diskussionen über die Kernenergie verfolgt hat. Der hat festgestellt, dass 1938 die offenen Debatten über diese ganzen physikalischen Probleme, die weltweit geführt wurden, mit einem Mal abbrachen. Er hat daraus den Schluss gezogen: Jetzt sind die Militärs drin. Und das war eine richtige Einschätzung.
Multipolar: Also schon vor dem Zweiten Weltkrieg?
Pflugbeil: Vor dem Zweiten Weltkrieg, als das losging mit den Atombombenentwicklungen. Und dieser Physiker hat versucht, Stalin darüber zu informieren und ist nicht vorgedrungen. Und als dann später schon alles im Rollen war mit der Atombombenidee, da hat Stalin das mitgekriegt und seine Untergebenen wohl ziemlich zusammengefaltet und den Mann einbezogen in die Arbeiten an der russischen Bombe. Es gab aber vorher wirklich einen ganz freien und offenen Austausch auch über unfertige Ideen. Die Wissenschaftler haben sich unterhalten, kreuz und quer durch die Welt, haben sich persönlich gekannt und geschätzt und das ganz vernünftig diskutiert. Und dann war mit einem Mal Schluss. Später bei den Russen war natürlich auch das Interesse pur darauf gerichtet, die Deutschen einzuholen, was den Bau der Atombombe angeht. Bei den Amerikanern und Briten genauso.
Multipolar: Das ist gar nicht so bekannt: Die Deutschen waren bei dieser Entwicklung Vorreiter. Über die deutsche Atomwaffenforschung in der Nazizeit gibt es inzwischen Veröffentlichungen von Historikern, wonach es im März 1945 gelungen ist, in Thüringen einen nuklearen Sprengsatz zu zünden.
Pflugbeil: Ja, das ist richtig. Wenn man danach geht, was man in der Schule lernt und nur oberflächlich schaut, dann denkt man: Nazis, Atombombe, Heisenberg und Weizsäcker.
Multipolar: Werner Heisenberg (1901-1976) und Carl Friedrich von Weizsäcker (1912-2007) sind zwei hochdekorierte Physiker gewesen in dieser Zeit.
Pflugbeil: Weizsäcker hat Anteil daran, daß ich Physik studiert habe. Als Schüler habe ich ihn in geschlossenen Veranstaltungen in Greifswald erlebt. Er war ein brillanter Redner, der physikalische und philosophische Fragen und seine Sicht auf die Welt in freier Rede so vortragen konnte, daß man den Eindruck hatte, alles verstanden zu haben. Das war eine Illusion. Ich habe über Jahre die Arbeiten seines Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der Wissenschaftlich-Technischen Welt studiert, in denen es unter anderem um die Wirkung von Kernwaffen auf die verschiedensten Lebensbereiche ging. Erst später bin ich in seinen von ihm sorgfältig gesammelten und publizierten Aktivitäten darauf gestoßen, wie er selbst seine Sicht der Dinge in der Nazizeit beschreibt. „Die Bombe als technischer Anreiz hat mich überhaupt nicht interessiert. Was mich faszinierte, war, damit an einen Schalthebel politischen Einflusses zu kommen.“ (3) Gruselig wird es auch, seine Patentanmeldungen zu studieren – da kommt die Verwendung des Elements 94 für den Bau einer Bombe vor. Das ging also um den Bau einer Plutoniumbombe! 1940! Vielleicht gibt es unterschiedliche Gründe ein Patent einzureichen.
Wenn man sich jetzt die damaligen Entwicklungen anschaut, dann haben Weizsäcker und Heisenberg aber eine ziemlich nebensächliche Rolle gespielt. Es gab ein ganzes Netz von Strukturen in der Nazizeit, die wenig voneinander wussten, aber bestimmte Detailfragen im Bereich dieser Atomwaffenentwicklung bearbeitet haben, zum Teil auf einem hohen Niveau. Am Ende hat eine Struktur die entscheidenden Dinge durchgeführt, die unter der Leitung von SS-General Heinz Kammler und des Heereswaffenamtes stand. Und die sind tatsächlich 1942 im Norden von Rügen, auf der Halbinsel Bug, zu einem kleinen Test gekommen. Die kann man von der Insel Hiddensee aus sehen, diese Halbinsel. Es gibt einen Bericht von einem Italiener, der dahin geflogen wurde, um das zu beobachten. Der wurde richtig von den Nazis eingeladen, sich das anzugucken. (4)
Und die andere Geschichte, die größere Explosion hat stattgefunden auf einem Truppenübungsplatz in Ohrdruf in Thüringen, in der Nähe von Arnstadt, in dem Gebiet, wo diese drei spitzkegeligen Burgen stehen. Von der einen Burg hatte man Einblick in dieses Testgebiet und da fand dann am Tag des Testes, am 3. März 1945 (5) eine Geburtstagsfeier statt von der Tochter des Betreibers dieser Burg, das war damals schon ein Hotelbetrieb und da war die ganze Bude voll Nazigrößen mit Uniform und ohne Uniform. Und alle warteten auf irgendetwas. Und dann hat es geknallt und alle haben sich besoffen und so weiter. Über diese Geschichte gibt es zahlreiche Berichte, zum Beispiel folgenden: Die Nazis hatten auf einem Gestell eine Bombe aufgebaut und wollten ausprobieren, ob das Ding funktioniert. Zu diesem Zweck haben sie ungefähr 500 Häftlinge aus dem Außenlager von Buchenwald, möglicherweise auch noch Kriegsgefangene dazu, drumherum aufgestellt. Außenrum standen SS-Leute mit Waffen, damit die nicht weglaufen. Dann haben sie die Bombe gezündet und wenn man so will, war das so erfolgreich, dass die meisten Leute, die drumherum standen, entweder sofort gestorben sind oder so schwer verletzt waren, dass man sie hinterher erschossen hat. Bis 500 Meter waren Bäume in diesem Testgebiet umgelegt. Also das hat „funktioniert“. (6)
Und dann gibt es Berichte von Leuten, die dann dorthin befohlen worden sind, um die Leichenteile einzusammeln und auf Holzrosten, Eisenbahnschienen und Bohlen zu verbrennen. Es existieren mehrere Berichte von solchen Leuten, wie das gehandhabt wurde. Die wurden mit Alkohol entschädigt und mussten Schutzkleidung tragen. Und als die Amerikaner kurz nach Kriegsende auftauchten, haben sie das gesehen und konnten es noch nicht so richtig einordnen. (7) In der DDR-Zeit wurden diese Berichte publik, diese Leute haben sich geäußert. Auch die Stasi hat sich dafür interessiert, wurde aber vom KGB zurückgepfiffen. Die sollten sich damit nicht beschäftigen. Und unmittelbar nach dem Test in Ohrdruf im Frühjahr 1945, also unmittelbar vor Kriegsende, hat der russische Militärgeheimdienst über diese Explosion einen sehr präzisen Bericht geliefert und an Stalin geschickt. Und Stalin hat sofort Igor Kurtschatow, das war praktisch der Vater der russischen Atombombe, darum gebeten, diesen Bericht zu begutachten. Er hat darauf zwar gesagt, dass er einige Sachen nicht genau versteht, aber dass das plausibel aussieht. Diesen Briefwechsel, den Bericht des russischen Militärgeheimdienstes GPU, den Brief von Stalin an Kurtschatow und den Bericht von Kurtschatow, der handschriftlich vorliegt – den hat Rainer Karlsch im Präsidialarchiv in Moskau gefunden –, den kann man heute nachlesen. (8)
Das hat die ganze Geschichte des Nachdenkens über Atomenergie in Russland natürlich entscheidend beeinflusst – und auch Dampf gemacht. Das ist gut belegt. Dann setzte ein Wettlauf ein von amerikanischen und russischen Geheimdienstleuten und Militär, die die deutschen Fachleute gesucht haben – Fachleute, Gerätschaften und technische Unterlagen jeder Art. Sie sind in Thüringen fündig geworden, auch an vielen anderen Stellen, in der Nähe von Berlin, in Oranienburg. Sie haben genau studiert und auch herausbekommen, an welchen Stellen die militärischen Entwicklungen gemacht worden sind. Ein Teil der Leute sind dann nach Russland geschafft worden, einige freiwillig, andere nicht ganz so freiwillig. Ein Teil ist nach Amerika gegangen und hat dort an Atomwaffen, Raketen und Militärflugzeugen weitergearbeitet.
Multipolar: In den USA firmierte diese Atomwaffenforschung unter dem internen Namen Manhattan-Projekt, was unter größter Geheimhaltung über viele Jahre lief – ein Beispiel dafür, wie man ein großes Regierungsprojekt über mehrere Jahre geheim halten kann, obwohl Tausende Leute daran beteiligt waren. Das begann in den 1940er Jahren. Ergebnis waren die Bombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki und eine Fülle von oberirdischen Atomtests. Das ließ sich dann nicht mehr geheim halten und Präsident Eisenhower hat in diesem Zusammenhang Anfang der 1950er Jahre ein Programm ins Leben gerufen namens „Atoms for Peace“, wo man aktiv den Schritt an die Öffentlichkeit gegangen ist. Da begann die zivile Nutzung der Atomenergie. Und dann erst ging es los mit den Atomkraftwerken. Dieser Schwenk von Eisenhower, an die Öffentlichkeit zu gehen, wie lief das damals ab, vom supergeheimen Atombombenbau hin zum öffentlich gefeierten Bau von Atomkraftwerken?
Pflugbeil: Also, das erste Kapitel, das Interesse an der Kernspaltung war eindeutig militärisch. Dann kam Hiroshima und Nagasaki, wo man auch zeigen konnte, dass Atombomben funktionieren. Und da fing das schon an, dass Geheimhaltung das Charakteristikum dieser Szene war. Da haben die Amerikaner für fünf Jahre jegliche Informationen über die Wirkung dieser Bomben unterbunden, sowohl was die Gesundheitsschäden, die Todeszahlen betraf, als auch jede Form von Fotografien, Filmaufnahmen und wissenschaftlichen Erhebungen über die Strahlenwirkung. Das wurde einfach verboten. Die Daten über Hiroshima und Nagasaki sind aber bis heute so etwas wie der Goldstandard zur Bewertung von Strahlenrisiken. Und dadurch, dass das Verbot von Anfang an die kritischen ersten Jahre betraf, fängt diese Zeit mit einem großen Loch an.
Natürlich führt das Verbot von Informationen immer dazu, dass die Schäden dadurch besser aussehen. Das wurde ganz systematisch betrieben und nur durch zähe Kritik von außen ist Schritt für Schritt die Einschätzung der Gefährlichkeit von ionisierender Strahlung und von dem Spaltmaterial, von den ganzen Radionukliden, die dabei entstehen, immer weiter angehoben worden. Aber stets nur so weit, dass es den weiteren Betrieb nicht behindert hat – also gerade so angehoben, wie man das noch gut regeln kann. Und das ist bis heute so geblieben. Eisenhower hatte zwar gehofft, dass das weiter geheim gehalten werden kann nach der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki, aber er hat gemerkt, dass dann doch so nach vier bis fünf Jahren Material wie Fotos und Filmaufnahmen an die Öffentlichkeit gelangten. Er hat dann in einer Arbeitsbesprechung im kleinen Kreis die Mitarbeiter angewiesen, die Bevölkerung unbedingt über Kernspaltung und Kernfusion im Unklaren zu lassen. Ihm war klar, dass man große Schwierigkeiten hätte, weiter an Atomwaffen zu arbeiten oder sich überhaupt mit Kernenergie zu beschäftigen, wenn die tatsächliche Gefährlichkeit publik würde. Das war eine richtige Einschätzung.
Ein US-Atomwaffentest im Pazifik am 25. Juli 1946 (Baker Test, Operation Crossroads, Bikini-Atoll, Bombe unter Wasser gezündet) | Bild: picture alliance / Everett Collection
In dieser Zeit kam die Idee auf, dem Ding irgendwie einen positiven Touch zu geben. Da entstand die Idee für „Atoms for Peace“ mit der großen Rede von Eisenhower, wo er diese Vision skizziert hat. Man konnte das dann auch in Hiroshima sehen, wo direkt neben dem Nullpunkt der Explosion ein Museum aufgebaut wurde, schon ziemlich bald nach der Bombardierung. In der ersten Fassung dieses Museums wurde, wenn man das Erdgeschoss betrat, dort für die friedliche Nutzung der Atomenergie geworben. Und erst dann wurde über Hiroshima und Nagasaki informiert. Das war einfach pervers, später ist das dann korrigiert worden. Aber das war die Idee.
US-Präsident Dwight D. Eisenhower (zweiter von rechts) 1955 bei der Vorstellung einer Briefmarke zum "Atoms for Peace"-Programm | Bild: U.S. Department of Energy
Und dann gab es eine Zeit, die ging bis in die 1970er, 80er Jahre eigentlich, dass man sich Kernenergie und Kernfusion zur friedlichen Nutzung auf die Fahnen geschrieben und Prognosen entworfen hat, wie der weitere Ausbau der Kernenergie weltweit vonstatten gehen wird. Diese Prognosen sind irrwitzig optimistisch gewesen, sowohl in den internationalen Gremien wie der IAEA als auch in den einzelnen Staaten. Das kann man zum Beispiel in Deutschland sehen in den westdeutschen Prognosen und denen der DDR. Die gingen praktisch bis zum Ende der DDR von einem drastischen Ausbau der Kernenergie aus. In der DDR hat man in den 1950er Jahren gedacht, dass dort 100 Kernkraftwerke gebaut werden müssen. In der Bundesrepublik waren das 500 Kernkraftwerke und ein Dutzend Wiederaufbereitungsanlagen und mehrere Schnelle Brüter. (9)
Multipolar: Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Bau und der Planung der allerersten Atomkraftwerke und der Herstellung von Atomwaffen? Sind die notwendig für die Waffenherstellung, um die Grundstoffe zu gewinnen? Oder ist das eine völlig separate Sache?
Pflugbeil: Für beide Sparten braucht man Uran. Also, der Uranbergbau ist ambivalent nutzbar. Für den gesamten Uranbergbau und die ganzen Probleme, die damit verbunden sind, sind praktisch beide Sparten verantwortlich. Und dann braucht man die Fachleute, die mit Kernenergie umgehen können, die Messgeräte haben, die die Zubereitung des Urans beherrschen. Die Messgeräte und die Technik sind praktisch identisch bei den beiden Formen. Die Fachleute sind die gleiche Sorte.
Multipolar: Könnte man vielleicht von einer Eigendynamik sprechen? Frankreich beispielsweise ist ja weltweit gesehen das Land mit dem höchsten Anteil an Strom aus Atomenergie, derzeit immer noch 60 bis 70 Prozent. Da war es so, dass am Anfang in den 1950er Jahren die Entscheidung von Präsident de Gaulle stand, dass Frankreich eine Atommacht werden sollte, dass man eigene Atomwaffen haben wollte, auch ein selbst entwickeltes Flugzeug, das die Atomwaffen dann abwerfen kann. Dieser Bomber wurde auch entwickelt. Und als das geschafft und das französische Militär Ende der 50er Jahre mit Atomwaffen ausgerüstet war, da existierte ein riesiger Stab mit Tausenden von Leuten, die daran geforscht hatten und deren Aufgabe nun eigentlich erledigt war. Und die fingen dann an zu sagen, dass man jetzt doch auch Atomkraftwerke in Frankreich bauen könnte. Daher die Frage nach der Eigendynamik. Könnte man sagen, dass durch so ein Projekt Ressourcen aufgebaut wurden, die sich dann selbst weiterentwickeln, dass sich das Ganze einfach verstetigt?
Pflugbeil: Zwischen Frankreich und Deutschland gab es einen Unterschied, weil die Franzosen einen ungebrochenen nationalen Stolz entwickelt haben, Atomwaffen zu besitzen, um als Atommacht zu gelten. Das ging bis in die Bevölkerung herunter. Die fanden das toll. Und da war das leicht, das auszudehnen auf die Kernkraftwerke und diese Kraftwerksstruktur aufzubauen. Da mussten Haushaltsbeschlüsse gefasst werden, aber das lief alles von ganz allein in Frankreich. In Deutschland war das anders. Es gab diese Last der Nazivorgeschichte, obwohl man in der Öffentlichkeit noch gar nicht so richtig wahrgenommen hat, wie weit die Nazis mit der Atombombe gekommen sind. Aber dass sie daran gearbeitet haben, wusste man schon. Und dadurch war die öffentliche Meinung vergleichsweise kritisch. Es war schwierig, Geld mobil zu machen für Kernkraftwerke, schwieriger als in Frankreich.
Dort ist das als Staatsunternehmen betrieben worden. Diese Kernkraftwerksszenerie, die hoch unökonomisch war, hochverschuldet, wurde in Frankreich mit viel Staatsgeld gefüttert. Als Staatsbetrieb konnte sie überleben. Die Leute, die dieses kerntechnische, kernchemische und technologische Wissen im Umgang mit Spaltmaterial hatten, konnten beliebig hin- und herwandern zwischen der friedlichen und der militärischen Nutzung. Die Wiederaufbereitung und die Herstellung von metallischem Uran haben sich überlappt. Zum Beispiel war die Wiederaufbereitung von Kernbrennstoffen die Stelle, wo man an spaltbares Material für die Plutoniumbombe herankam. Das war praktisch und ideologisch nicht zu trennen.
In Deutschland ist das halt sperriger gewesen, aber trotzdem hat es Leute gegeben, die nach Kriegsende in Westdeutschland gleich die militärische Nutzung weiterverfolgt haben, ohne viel darüber zu reden. Das wurde vom Staat toleriert.
Multipolar: Sie sprechen über die „Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schifffahrt“, GKSS, in Geesthacht bei Hamburg. Dort ging 1958 ein Forschungsreaktor in Betrieb, auf historischem Gelände. Am gleichen Ort war zuvor Dynamit hergestellt worden, zeitweise die größte Sprengstofffabrik Europas, die nach dem Zweiten Weltkrieg dann demontiert wurde. Dort forschte man ab den 1950er Jahren an der Atomenergie. Damals waren die Pläne der GKSS, dass man damit auch Schiffe betreiben könnte. In den 60er Jahren baute die Gesellschaft mit öffentlichem Geld auch einen großen Frachter, die „Otto Hahn“, der mit einem Atomreaktor betrieben wurde. Die Vision war, dass man ganze Handelsflotten so ausrüsten könnte. Das scheiterte unter anderem schon daran, dass viele Häfen der Welt diesem Schiff keine Genehmigung erteilten einzulaufen, aus Sicherheitsbedenken.
Der Atomfrachter Otto Hahn
Bei dieser Gesellschaft, der GKSS, standen an führender Stelle die gleichen Leute, die auch in der Nazizeit am Bau der deutschen Atombombe geforscht hatten, unter anderem Kurt Diebner und Erich Bagge. Sie gaben ab den 50er Jahren auch eine eigene Zeitschrift heraus namens „Atomkernenergie“, wo ihre Forschungen publiziert wurden. Alles war sehr ambivalent, ließ sich sowohl zivil als auch militärisch nutzen. Darüber war später auch die Stasi besorgt. Es existiert ein Bericht des DDR-Geheimdienstes von 1987, den Sie in den Archiven entdeckt haben, wo die Stasi nach der intensiven Beschäftigung mit den in dieser Zeitschrift publizierten Artikeln schlussfolgert, dass nicht ganz klar sei, ob die westdeutschen Forschungen nicht einen militärischen Hintergrund hätten, ob dort nicht an sogenannten „Mini-Nukes“, an miniaturisierten Atomwaffen, geforscht werde. Das war damals keine Propaganda der DDR gegenüber der Öffentlichkeit, sondern das war ein internes Stasi-Papier. Das Thema wurde dort also ernst genommen.
1986 ereignete sich dann ein Unfall in dem Geesthachter Forschungsreaktor, der vertuscht wurde. Danach registrierte man in der Gegend ein signifikant verstärktes Auftreten von Leukämie bei Kindern. In Umgebungsproben fanden sich sogenannte Mikrokügelchen. Das deutet – darüber haben Sie selbst viel geschrieben und auch in den Untersuchungskommissionen mitgearbeitet – auf verbotene militärische Experimente hin. Daher die Frage: Gab es in den 80er Jahren in Westdeutschland eine geheime Atomwaffenforschung?
Pflugbeil: Die gab es schon viel früher. Diese beiden Namen, Erich Bagge und Kurt Diebner, die sind weder nach Amerika noch nach Russland gegangen, sondern in Westdeutschland auf Tauchstation. Sie sind hiergeblieben und haben zunächst in Stol ein Forschungsinstitut aufgebaut und dort vor sich hin geforscht. Stol war eine Außenstelle der Uni Kiel, dort war Erich Bagge Professor für Reine und Angewandte Kernphysik. Im Prinzip hat er das weiterbetrieben, was zu der Explosion auf dem Truppenübungsplatz in Thüringen geführt hat. Und das war eine ganz pfiffige physikalische Idee, die erst viel später von den Amerikanern im Bereich von Neutronenwaffen aufgegriffen wurde, als es darum ging, eine Atomwaffe zu konstruieren, die nicht so viel materiellen Schaden anrichtet, sondern nur die Leute umbringt. Die Physik, die hinter der Neutronenbombe steht, ist ganz ähnlich wie diese Sache, die die Nazis betrieben haben. Also eine Verquickung von Kernspaltung und Kernfusion mit einem kleinen Kaliber. Damit kann man dies und jenes ziemlich effektiv machen. Das haben die schon in Stol angefangen. Da habe ich auch Literatur von den Leuten. (10) Später sind die noch einmal an einen anderen Ort umgezogen und dann nach Geesthacht. Und in Geesthacht haben Diebner und Bagge das Forschungszentrum für Kernenergie in Schiffbau und Schifffahrt aufgebaut und nebenbei an diesen militärischen Themen gearbeitet. Die Stasi hat das ziemlich spät bemerkt und hat darüber ein Gutachten geschrieben und auch eine Literaturrecherche dazu gemacht. (11) Dabei sind sie auf die gleichen Namen aufmerksam geworden, die ich auch bei meinen Recherchen gefunden habe. Leute, die sich international damit beschäftigen, diese beiden Verfahren, Kernfusion und Kernspaltung, auf eine winzige Dimension zu bringen.
Multipolar: Ein Forscher, der dazu viel veröffentlicht hat, ist Friedwardt Winterberg.
Pflugbeil: Winterberg ist für die Einschätzung der Sache eine interessante Figur. Er war Assistent von Diebner und Bagge in Geesthacht. Er war damals, in den 1950er Jahren, noch ein relativ junger und ehrgeiziger Mann und hatte sich dann von diesem Forschungszentrum und den beiden Männern getrennt, weil die ihn, seiner Meinung nach, nicht genügend wertgeschätzt haben. Er ist dann 1959 in die USA gegangen und ist mir begegnet, als in Deutschland das Buch „Hitlers Bombe“ von Rainer Karlsch veröffentlicht wurde.
Multipolar: Das war 2005.
Pflugbeil: Winterberg ist angereist gekommen zu Karlschs Buchvorstellung. Ich bin damals bei dieser Buchvorstellung gewesen und habe mir das angehört und Winterberg saß am Rand. Das lief alles ganz gut, es war auch der amerikanische Autor Mark Walker anwesend, der über die Geschichte der Atomwaffen viel geschrieben hat. Der hat sich ein wenig gesträubt, von Hitlers Bombe zu reden. Er meinte, eine Bombe wäre so etwas wie in Hiroshima, aber das könne man überhaupt nicht mit den Versuchen der Nazis vergleichen. Das sei ja nur ein Kernsprengkörper gewesen, aber keine Bombe. Dem ging es darum, dass er seine Bücher nicht umschreiben musste. Er hatte diese Geschichte übersehen, wie weit das in Deutschland gelaufen ist und sich gesträubt, aber sich wohlwollend an der Diskussion beteiligt. Und nachdem das vorbei war, die Fernsehleute ihre Kabel einrollten und die Leute hinausgingen, stand der Herr Winterberg auf, ging an einen Papierbogenhalter und begann, Skizzen zu machen. Er hat erklärt, wie man das machen kann. Dass man eine Bombe mit Material weit unterhalb der kritischen Masse, über die man immer so in der Schule gelernt hat, bauen kann. Bei Uran war das immer etwa 15 bis 20 Kilogramm und bei Plutonium vielleicht die Hälfte – das ist das Mindeste, was man braucht, damit es richtig losgeht. Winterberg hat erklärt, dass man das drastisch reduzieren kann durch dies und durch das. Er hat dann praktisch an diesem Papierbogen skizziert, hat einen nach dem anderen vollgemalt, wie man diese kleinen Flämmchen macht. Aber da hat keiner mehr drauf geachtet.
Friedwardt Winterberg als junger Mann (Originalpressetext zu diesem Foto von 1964: „Der 35jährige deutsche Atomphysiker Prof. Dr. Friedwardt Winterberg hat einen neuen Weg zur kontrollierten Kernverschmelzung vorgeschlagen, die der Menschheit die Aussicht auf eine praktisch unerschöpfliche neue Energiequelle eröffnen könnte“ | Bild: picture alliance / Alfred Assmann
Ich habe ihn dann angesprochen und mit ihm Kontakt aufgenommen und gesagt, dass mich diese ganze Geschichte sehr interessiert. Ob er mir nicht Literatur schicken könne, und was er denn jetzt mache. Und der ist Reno, Nevada, gelandet. Das ist eine Universität, an der auch an militärischen Projekten geforscht wird. Und dann habe ich ihn gefragt, ob er weiterhin an Atomwaffen arbeitet, und er sagte: Nein, nein, nein. Das könne man nicht sagen. Aber man solle sich doch mal vorstellen, es komme ein Meteor auf die Erde zugeflogen, großes Kaliber, den müsse man doch irgendwie beseitigen können. Da gäbe es zwei Möglichkeiten, entweder indem man ihn durch eine kräftige Sprengladung ein bisschen von der Bahn ablenkt, so dass er nicht die Erde trifft, sondern daneben vorbeizieht oder dass er in kleine Stücke zersprengt wird, die dann nicht so viel Schaden anrichten. Winterberg hat also praktisch weitergemacht. Er hat mir tatsächlich auch einen Berg an Literatur geschickt. (12) Es ist ganz klar, wie er die Sache sieht. Und solche Forschungen wurden international von verschiedenen Leuten betrieben, von der GKSS in Geesthacht, von Winterberg in den USA oder auch von Professor Walter Seifritz in der Schweiz beim Eidgenössischen Institut für Reaktorforschung, die heißen inzwischen ein bisschen anders. Auch eine Schweizer Institution hat sich also mit der Frage dieser Kügelchen ausdrücklich beschäftigt. (13)
Multipolar: Kernfusion für Waffentechnik.
Pflugbeil: Nicht nur für Waffentechnik, sondern überhaupt, um das anzuwenden. Die haben eine Vorstellung gehabt, dass man zum Beispiel große unterirdische Kavernen sprengen könnte, möglichst unauffällig, sodass die internationale Überwachung von Atomtests nicht anspringt, mit einer Serie solcher kleinen Explosionen. Sie haben die entsprechenden Zeichnungen gemacht. Es gibt ein Buch von dem Seifritz, da beschäftigt sich die eine Hälfte mit militärischen Aspekten und die andere Hälfte mit friedlichen Aspekten, aber mit dieser interessanten kleinteiligen Physik. Das ist keine Teufelei, die deutsch ist, sondern die hat sich relativ schnell verbreitet.
Ich habe meine Literaturecherchen vor 9/11 gemacht und in den USA viel Literatur darüber gefunden, zum Beispiel Kongressberichte, wo man die Titel der Vorträge anklicken konnte und dann bekam man den Text angezeigt. Und ich hatte damals noch ziemlich hemdsärmelige Computertechnik und Kenntnisse und hatte das nicht gleich abgespeichert. Das heißt ICF, Inertial Confinement Fusion. Auf Deutsch kann man das mit Trägheitsfusion übersetzen. Dann kam 9/11 und danach war ich etwas besser aufgestellt mit der Technik und wollte mir die Artikel herunterladen. Und da waren zwar die Überschriften noch vorhanden und auch die Kongressgliederungen und Themenüberschriften waren noch da, wenn man es aber anklickte, waren die Seiten leer. Gar nichts! Dann sind wir der Sache nachgegangen und haben herausbekommen, dass es in den USA üblich war, dass man in gewissen Abständen Listen veröffentlicht hat von Staatsgeheimnissen und von neuen Staatsgeheimnissen und möglicherweise auch von alten aufgehobenen Staatsgeheimnissen zu ganz verschiedenen Themen. Und dort kam dieses Thema als Staatsgeheimnis vor. Da kann man sich seinen Teil denken.
Das Interesse zum Beispiel in den arabischen Staaten an diesem Thema war ziemlich ausgeprägt. Das kann man sich so erklären, dass die Herstellung dieser kleinteiligen Geschichten, dieser Bömbchen und alles, was damit zusammenhängt, relativ einfach ist. Man braucht so gut wie kein Spaltmaterial dafür. Das ist ja bei den großen Bomben ein Problem, genügend Uran zu kriegen, Plutonium und die kritische Masse herzustellen. Das ist für eine Terroristentruppe praktisch nicht zu stemmen, wenn man das nicht komplett irgendwo klaut. Aber solche kleinen Mengen zu beschaffen, das ist auf dem Schwarzmarkt locker zu stemmen. Davor bestand bei den Amerikanern offenbar ziemlicher Respekt, dass das in dieser Szene begriffen wird.
Multipolar: Noch einmal zurück zu dem Unfall in Geesthacht 1986. Was genau ist damals passiert? Würden Sie den Unfall auch in diesen Forschungskontext einordnen?
Pflugbeil: Dafür spricht viel. Wir sind in Geesthacht auf die Leukämiefälle aufmerksam geworden. Dr. Eberhard Forkel, der auf der anderen Seite von Geesthacht in der dörflichen Landschaft, in Marschacht, lebte, war der einzige Kinderarzt in der Gegend. Alle Kinder, die ordentliche Wehwehchen hatten, sind bei ihm aufgelaufen. Und dem fiel auf, dass etwa ab 1990 ein Kind nach dem anderen mit Leukämie ankam. Und Leukämie bei Kindern ist eine exotische Krankheit. Die gibt es ganz selten. Der hat sich bemüht, die Behörden aufmerksam zu machen und gefragt, was denn los ist. Die haben ihn aber alle abblitzen lassen. Überhaupt nicht reagiert. Die Leute, die dort wohnten, kriegten das natürlich mit und machten sich große Sorgen. Zunächst vermutete man, dass das große Kernkraftwerk Krümmel, das auf der anderen Seite der Elbe zu sehen war, dafür verantwortlich sein könnte. Es gab drei Kommissionen, die sich mit der Frage beschäftigt haben. Eine in Bremen, eine in Schleswig-Holstein und eine in Niedersachsen. Die haben die Leute in Krümmel auf Herausgabe von Unterlagen gedrängt. In der Regel sind die aber auch abgeblitzt bei den Atomaufsichtsbehörden, beim Umweltministerium, bei allen politischen Parteien und natürlich bei Krümmel selber. Sie haben ganz wenig herausbekommen, manchmal aber etwas aus Versehen.
Gelände der Atomforschungsanlage GKSS bei Geesthacht an der Elbe | Bild: Hereon/ Niemann
Es ist zum Beispiel herausgekommen, dass auf dem Dach von Krümmel Messgeräte fest installiert worden waren und dass die auffällige Werte angezeigt haben. Man hat dann die Messgeräte ausgetauscht und neue aufgebaut. Die haben wieder auffällige Werte angezeigt. Dann hat man nochmal das Gleiche gemacht und als dann Mitglieder von der Kommission auf das Dach steigen wollten, um zu sehen, was da passiert sein kann, ist ihnen das verwehrt worden. Dann gab es in einer Kommissionssitzung eine Grafik von der Strahlenüberwachung in dem Bereich. Auf dieser konnte man einen waagerechten Strich sehen. Und in dem Zeitraum, wo dieses Ereignis stattfand, im September 1986, war ein leeres Stück und danach ging die waagerechte Linie weiter. Und zufällig ist in den vielen Unterlagen, die dann doch hin- und hergingen, ein Blatt versehentlich drin gewesen, wo genau diese Kurve drin war. Aber genau dort, wo der leere Platz in der Kurve war, die offiziell vorgezeigt wurde, da war ein Peak zu sehen. Darauf sagte die Person von der Behörde, das sei ganz normal. Wenn solche Ausreißer passieren, die nicht plausibel sind, würden sie die immer entfernen. Also, so sind die damit umgegangen. Das hat natürlich die Leute aufgeregt. Was dann bei Krümmel herausgekommen ist, waren eine Menge Ungereimtheiten, ein fragwürdiger Umgang mit Messgeräten und Werten, mit Atomaufsicht, eine seltsame Haltung von den Politikern, die die Debatte immer abgewürgt haben, die das nicht diskutieren wollten.
Multipolar: Auch nicht die Grünen?
Pflugbeil: Auch nicht die Grünen! Besonders scharf die Grünen nicht. Aber so richtig stimmig war es nicht. Eine Geschichte war zum Beispiel, dass es Fotos gab, wo Leute im Strahlenschutzanzug Messungen in der Nähe von dem Kernkraftwerk gemacht haben. Da wurde dann gesagt, dass dort eine Inversionswetterlage gewesen ist, dass dort ein bisschen mehr Radon als sonst üblich aus dem Boden gekommen ist. Das sei aber alles völlig harmlos gewesen. Dann stellte sich heraus, dass im Kernkraftwerk Alarm geschlagen wurde, weil mit einem Mal die saubere Luft, die in das Kernkraftwerk hineingesaugt wurde, Strahlen enthielt, die dort nicht hingehörten.
Multipolar: Das Problem kam also von außerhalb des Atomkraftwerks.
Pflugbeil: Es kam von außerhalb. Die Kraftwerke sind so gebaut, dass die Frischluft von außen nach innen gesaugt wird und die Abluft geht nur über den hohen Schornstein raus. Und das hat sich dann die Frau Professor Schmitz-Feuerhake angeguckt ...
Multipolar: Die Physikprofessorin Inge Schmitz-Feuerhake hat zu Strahlenschutz und auch zu den Leukämiefällen dort bei Geesthacht geforscht.
Pflugbeil: Da war erstens keine Inversionswetterlage, zweitens gibt es im Boden von Norddeutschland nur eine niedrige Radonbelastung. Die kommt aus dem Urangehalt im Boden, aber dort gibt es kein Uran. Und dann hat sie geschaut, wo das Kraftwerk die Frischluft herbekommt. Die wird in einer Höhe von ungefähr 40 Metern angesaugt. Radon ist schwerer als Luft und dann kann man sich ausrechnen, wenn dort oben 40 Meter über dem Boden solch eine überdurchschnittlich hohe Radonbelastung in das Kraftwerk eingesaugt wird, wie hoch ganz unten die Strahlenbelastung sein müsste, damit das zustande kommt. Das Ergebnis ist völlig abwegig. Das kann so nicht sein. Da muss etwas anderes passiert sein.
Multipolar: Zu welchem Ergebnis ist man gekommen?
Pflugbeil: Es gab einen Pannenbericht zu dem gleichen Datum, wo die Leute beschrieben haben, ein eigenartiges Licht, bläulich, grünlich, gelblich, gesehen zu haben. Nicht so richtig wie ein Brand, aber seltsam leuchtend. Dazu gibt es Berichte von mehreren Personen. Und das fällt zusammen mit diesen Berichten über die angebliche Radonstrahlenmessung. Es gibt einen Bericht von der Feuerwehr, die dort zugange war. Und als die Initiativen überlegten, wie man das aufklären kann, dachten einige, einfach die Feuerwehrleute zu fragen. Schließlich waren die vor Ort. Die standen auch in der Zeitung und müssten darüber Bescheid wissen. Zuerst war nicht so richtig etwas herauszukriegen. Sie haben aber mehrfach nachgebohrt und da war die Erklärung von der Feuerwehr, dass es leider in der Feuerwehr einen Brand gegeben habe, sodass alle Unterlagen über diesen Einsatz im Schrank verbrannt sind. Solche Geschichten gibt es jede Menge.
Multipolar: Es gab also einen Brand in dieser Geesthachter Kernforschungsanlage?
Pflugbeil: Ja, von einem Schiffer, der auf der Elbe unterwegs war, wurde das gesehen. (14)
Multipolar: Und dann wurden Umgebungsproben genommen?
Pflugbeil: Ja, noch kurz dazwischen: Die Leute, die sich um Aufklärung bemüht haben, zunächst bei Krümmel, die wurden ziemlich böse angegangen von den Medien, von der Politik und wurden auch in ihren Arbeitsstellen schlecht gemacht. Auch an Universitäten, es waren mehrere Professoren dabei. Die haben richtig ernsthaft Ärger bekommen. Das nahm dann noch zu, als die letzten Zweifel aufkamen, ob Krümmel überhaupt der alleinige, der wesentliche Punkt ist – als man überlegte, was es denn noch dort gäbe und auf das Kernforschungsinstitut GKSS kam, worüber man noch nicht viel wusste. Wo Kernphysik und verschiedene andere Sachen wie Umweltthemen betrieben worden sind. Was aber genau, dazu gab es irgendwie keinen Eindruck. Damit hat sich niemand beschäftigt.
Multipolar: War das Institut staatlich angebunden?
Pflugbeil: Das ist ein Forschungsinstitut gewesen, das staatlich finanziert worden ist, wie die anderen Kernforschungsinstitute auch. Es hat sich aber einfach keiner dafür wirklich interessiert. Das Schiff „Otto Hahn“ ist ja dann aufgegeben worden. Aber dann ging es wirklich hoch her. Auf diese Angriffe auf die Aufklärerfraktion ist eine Gutachtergruppe – die Arbeitsgruppe Physikalische Analyse-Methoden (ARGE PhAM) (15) – aufmerksam geworden, die einen Staatsauftrag hatte, Gutachten über kerntechnische Probleme verschiedener Art zu machen. Sie fanden den rüden Umgangston mit der Aufklärerfraktion fragwürdig. Es gehörte zu ihrem Handwerk, dass sie sich erstmal einen Überblick über die Lage verschaffen und sie sind in die Elbmarsch gefahren und haben Bodenproben genommen. Zuvor hatten sie den Auftrag gehabt, einen Unfall in den Atomanlagen in Hanau aufzuklären, auch in 80er Jahren. Da ist ein Gebäude in die Luft geflogen, worüber praktisch nicht berichtet wurde.
Multipolar: Was war das in Hanau für eine Anlage?
Pflugbeil: In Hanau gab es zwei technische Atomanlagen. Die eine hieß „Nukem“ und die andere „Alkem“. Die hatten sich in verschiedener Form mit Kernbrennstoff beschäftigt, Material hergestellt, aufbereitet, erforscht und untersucht. Die waren blendend ausgestattet mit Messtechnik und eben auch mit der Herstellung von Spielmaterial für verschiedenen kernphysikalischen Brennstoff für Forschungsreaktoren. Aber ziemlich hinter verschlossenen Türen. Das war von außen schlecht einsehbar und auch verstehbar, was da eigentlich los ist. Und die Gutachter der ARGE PhAM durften hinein, um das aufzuklären. Dabei ist ihnen aufgefallen, dass die Explosion, die dort stattgefunden hat, in einer Halle passierte, wo solche kleinen Kügelchen hergestellt worden sind, die im Inneren kerntechnisches Material enthielten. Außen harte Schale, korundartig oder metallisch titanartig oder eisenhaltig und innen kleine Teilchen leichter Isotope Deuterium, Tritium, Lithium, Beryllium und zum Teil auch Uran, Thorium und andere exotische Isotope. Das haben die dort festgestellt und eine gewisse Technik entwickelt, wie man das Zeug dingfest machen kann. Sie haben versucht zu untersuchen, wie weit das verbreitet worden ist.
Mit der Vorgeschichte kamen die nach Geesthacht, haben ein paar Schippen Sand genommen und haben, so wie sie das immer machen – Bodenproben werden immer erst auf einer Art Kuchenblech breit gestrichen –, ganz schnell gemerkt, dass beim Ausstreichen des Sandes offensichtlich rollendes Material dabei war. Das merkt man gleich. Dann haben sie es unters Mikroskop gelegt und sehr schnell festgestellt, dass dort die gleichen Partikel vorhanden waren, die sie auch im verunfallten Atomzentrum in Hanau gefunden hatten. Da sind natürlich die Alarmlampen angegangen. Zum Kernkraftwerk Krümmel passte das nicht. Aber was war denn mit Geesthacht?
Und dann ist das systematisch untersucht worden. Von verschiedenen Stellen sind Bodenproben genommen worden und man hat versucht, so eine Art Ausbreitungskarte zu erstellen. Man hat geguckt, wie viel Kügelchen findet man in welcher Entfernung und auch an welchen Stellen in Bezug auf die GKSS, und wo man sinnvollerweise suchen muss. Zum Beispiel nicht dort, wo es offensichtlich Bodenaufschüttungen gab, sondern dort, wo der Boden möglichst lange ungestört war, zum Beispiel im Wurzelbereich von Bäumen oder im Waldbereich. Es gab auch Sportanlagen, bei denen man wusste, dass die schon lange Zeit existieren, wo nicht dran gebaut wurde. Oder zum Beispiel auch auf Strohdächern. Strohdächer wirken wie ein Schwamm und sammeln alles an Zeug, was in der Luft herumfliegt, und bewahren es auf. Das ist alles gemacht worden. Und da sind immer mehr Befunde zustande gekommen von solchen Kügelchen in verschiedener Größe und mit verschiedenem Inhalt. Da hat man natürlich das Grübeln gekriegt, was da los ist.
Das hat mich dazu geführt, mich mit diesen beiden Professoren zu beschäftigen, die da zu Gange waren, Diebner und Bagge. Und dadurch bin ich eigentlich erst aufmerksam darauf geworden, welche Rolle die zuvor gespielt haben. Die dazu geführt haben, dass in Ohrdruf ein Atomwaffentest stattgefunden hatte. Das war mir vorher nicht klar. Dann habe ich in die Fachliteratur geschaut. Dieses Stasi-Gutachten ist mir in die Hand gefallen, zufällig. Und da tauchten wieder diese gleichen Personen auf und dann habe ich recherchiert.
Multipolar: In dem Stasi-Gutachten wird auch Friedwardt Winterberg hervorgehoben.
Pflugbeil: Der kommt vor. Im Stasi-Gutachten ist zum Beispiel auch eine Zeichnung von so einem Kügelchen. Winterberg hatte das Gutachten noch nicht. Er hatte mich dann gebeten, ich möge ihm das doch schicken. Ihn würde das interessieren, was die Stasi geschrieben hat. Und er rief dann ganz aufgeregt zurück und sagte: Da ist eine Zeichnung drin, die ich selber mit der Hand gemacht habe. Er konnte sich nicht mehr genau erinnern, für wen er diese Zeichnung angefertigt hatte. Nachdem ich über dieses Gutachten und den möglichen militärischen Hintergrund dieser Kügelchengeschichte dann auch Artikel geschrieben hatte, kam von den amerikanischen Geheimdiensten die dringende Empfehlung an die Stasi-Unterlagen-Behörde, diesen Bericht unbedingt zu klassifizieren.
Multipolar: Das haben Sie aus der Behörde erfahren?
Pflugbeil: Ja. Die haben das dann nicht mehr herausgerückt. Die waren aber so nett und haben den Leuten, die nachgefragt haben, den Tipp gegeben: Fragen Sie mal den Pflugbeil. Es kamen dann ziemlich viele Nachfragen. Ich habe das den Leuten geschickt, da ist auch nichts passiert. Aber das haben die Amerikaner so eingeschätzt. Das ist für mich auch ein starkes Indiz dafür, dass die Stasi so schlecht nicht lag.
Multipolar: Da stellt sich natürlich die Frage, was aus diesen Forschungen geworden ist. Gibt es inzwischen diese Waffen? Das ist sicher ein Graubereich, über den man nur spekulieren kann.
Pflugbeil: Das ist ein Graubereich. Wofür es wirklich gut war, da gibt es verschiedene Spekulationen, Indizienketten, die man nicht gleichsetzen kann mit schlüssigen Beweisen, aber eben starke Indizien. Zum Beispiel wurde Deutschland ja verboten, Atomwaffen zu bauen. In verschiedenen Verträgen kommt das ausdrücklich vor, etwa im Zwei-plus-Vier-Vertrag. Es gibt auch ein Kriegswaffenkontrollgesetz, wo das Thema ebenfalls vorkommt. Dort gibt es mehrere Paragrafen, die sich mit Kernwaffen beschäftigen. Die sind dann dahingehend verändert worden, dass das generelle Verbot für Deutschland, sich mit Kernwaffen zu befassen, aufgeweicht worden ist. Das muss man sehr sorgfältig lesen, um darüber zu stolpern. Da steht sinngemäß drin: Das Verbot gilt nur für den Bau von Kernwaffen, die nicht im Einflussbereich der NATO-Staaten liegen.
Multipolar: Es geht also um die Weitergabe an andere Mächte.
Pflugbeil: Ja. Ein Bau von Atomwaffen für China wäre strafbar. Aber zum Beispiel ein Bau an einer Atomwaffe zusammen mit Frankreich oder Zulieferungen für bestimmte Sachen, für die Amerikaner, das ist durchaus möglich.
Multipolar: Wann ist das geändert worden?
Pflugbeil: Diese Gruppe von Gutachtern, die uns auf diese Schiene geschoben hat, meinten, dass dieses Gesetz gemacht wurde, nachdem die Geschichte in Hanau aufgeflogen ist.
Multipolar: Wann war das?
Pflugbeil: Soweit ich mich erinnere, wurde das im Bundestag 1990 beschlossen in dem Haufen von Gesetzesänderungen, die damals im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung gemacht worden sind. Da war das ein Thema. Da habe ich die Friedensforschungsinstitute gefragt, die gab es in Westdeutschland, ob sie sich mit diesem Thema beschäftigt haben und was sie davon halten. Die haben alle abwehrend geantwortet, haben gesagt, sie hätten zu wenig Leute, sie könnten sich das gar nicht vorstellen, das könne höchstens mit der nuklearen Teilhabe zusammenhängen. Es hat sie einfach nicht interessiert. Dann habe ich die Abgeordneten gefragt, die damals im Bundestag waren und die dazu gesprochen haben. Damals hatte ich noch nicht den Zugang gefunden zu den Bundestagsredeprotokollen. Was sie denn für eine Position dazu hatten und ob sie mir vielleicht sagen beziehungsweise schicken könnten, was sie damals dazu gesagt hatten. Ohne Ergebnis. Null. Am schärfsten war die Grünen-Abgeordnete in Berlin: Das sei schon so lange her, da könne sie sich nicht mehr dran erinnern. Sehr seltsame Geschichte. Ich habe das herausgesucht, ich habe das jetzt nur nicht in meinem aktiven Speicher, diese verschiedenen Fassungen des Kriegswaffenkontrollgesetzes. Über die Zeit ist das mehrfach verändert worden. Da kann man genau sehen, wann das passiert ist und auch die Kommentierungen dazu sind unmissverständlich.
Multipolar: Es gibt eine Indizienkette, dass es auch nach 1990 noch Forschungen dazu gegeben hat?
Pflugbeil: Das ist nicht abwegig. Es geht nicht bloß um die Produktion von diesen Kügelchen und Experimente damals. Es gibt zum Beispiel eine Firma, die sich mit Hochleistungslasern beschäftigt. Eine Umgangsform mit den Kügelchen ist, dass man sie durch einen Luftstrom in einem Schwebezustand hält, von unten, und dann die Kügelchen mit Laserstrahlen unter physikalischen Stress setzt, also anschießt, und damit diese Kügelchen dazu bringt, dass eine starke Druckwelle nach innen, auf den Inhalt der Kügelchen ausgeübt wird, die den Atomabstand zwischen diesen kleinen Mengen Spalt- und Fusionsstoff so stark verringert, dass dadurch auch mit dieser winzigen Menge sowas wie eine kritische Masse entsteht und eine Kernreaktion losgeht.
Das hat man in Deutschland probiert. Aus Jülich gibt es Berichte, dass damit gespielt worden ist. Dazu braucht man eben diese Laser und überhaupt Laser mit einer hohen Leistung. Und Laser mit einer hohen Leistung waren sehr interessant für das Sternenkriegsprogramm in den USA in den 1980ern, für die Vorstellung, dass man anfliegende Interkontinentalraketen in der Luft abschießen könnte, möglicherweise mit Lasern direkt. Aber da ist die Frage, wo man die Energie dafür herbekommt.
Multipolar: Diese Anwendung taucht auch in dem Stasi-Gutachten auf. Dort wird das erwähnt.
Pflugbeil: Ja. Aber bei uns in der Öffentlichkeit kam das praktisch nicht vor. Es war da die Idee, dass man möglicherweise mit diesen kleinen Bömbchen, mit Laserstrahlen angefixt, eine Energiequelle schafft, die dann dazu reicht, um eine anfliegende Rakete außer Gefecht zu setzen. Damit ist gespielt worden. Wie weit das präzise getrieben worden ist, weiß ich nicht. Irgendwie ist das wieder aus der Öffentlichkeit verschwunden. Aber das war möglicherweise eine Schiene. Das hat einen militärischen Hintergrund, für verschiedene Zwecke, unter anderem eben diese Sternenkriegsgeschichte. Das ist auch so ein Thema, das mit Atomwaffen direkt nichts zu tun hat, aber möglicherweise doch mit kerntechnischen Gerätschaften, die in einem Atomkrieg durchaus eine wichtige Rolle spielen und die völlig ungestört betrieben werden.
Zum Beispiel wird lange die Frage diskutiert, wie das mit einer Atomstreitmacht in Europa ist. Wenn man schaut, wie das in Westdeutschland diskutiert worden ist, das Verhältnis zu einer eigenen Atombombe. Adenauer und auch die nachfolgenden Regierungen fanden es gar nicht gut, dass Deutschland das generell verwehrt werden sollte. Die haben sich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt, auch Leute wie Willy Brandt interessanterweise. Der fand das auch nicht gut und hat Einwände gebracht, wo man sich wirklich fragt, wie das gelaufen ist. Ich habe diesen Faden mal verfolgt und da sehr eigenartige Schlingereien gefunden in der Politik. Die immer wieder versucht hat, Wege zu finden, da doch irgendwie heranzukommen. Allein oder auch gemeinsam mit den Franzosen, also den Franzosen zu helfen, Atombomben zu bauen, aber dann eine gewisse Mitverfügung über diese Atomwaffen zu kriegen. Das ist mehrfach offiziell gescheitert, aber wie weit das praktisch längst läuft, weiß ich nicht.
Auch die Leute, die man jetzt hört in der „Zeitenwende“, die sich dazu äußern, die haben damals schon polemisiert gegen diese Einschränkung der Bewaffnung und haben gefordert, dass eine reine Abschreckung mit Atomwaffen nicht ausreichen würde. Man müsse nicht nur androhen zurückzuschlagen, sondern auch wirklich willens sein, das zu machen. Das haben die ganz offen gesagt. Die Leute treten jetzt auf, Kiesewetter ist so einer und auch andere Leute aus diesen Stiftungen. Die haben immer dagegen gekämpft und das auch immer offen gesagt, dass Abschreckung nicht hilft, wenn man es eigentlich nicht machen will – also, auch den Ersteinsatz von Atomwaffen. Das ist ein Geflecht von Themen, die sich gegenseitig besser verstehen lassen, wenn man mehrere davon ansieht und die historische Entwicklung betrachtet.
Ende des ersten Teils. Im zweiten Teil des Interviews geht es unter anderem um Indizien für die These, dass in Tschernobyl 1986 eine Kernexplosion stattgefunden hat, um die Schäden in Fukushima sowie um die wechselhafte öffentliche Meinung beim Thema Atomenergie.
Über den Interviewpartner: Dr. Sebastian Pflugbeil, Jahrgang 1947, studierte Physik in Greifswald. Er reichte 1983 eine Dissertation zur biomedizinischen Grundlagenforschung ein; die Promotion wurde ihm aus politischen Gründen verweigert und erst 1990 zuerkannt. Seit den 1970er Jahren forscht Pflugbeil zur Wirkung von Atomwaffen und den Gefahren der friedlichen Nutzung der Atomenergie. Gemeinsam mit anderen Bürgerrechtlern gründete er das Friedensseminar der evangelischen Immanuelgemeinde in Berlin und arbeitete nach dem Atomunfall in Tschernobyl 1986 an einer Studie über die Probleme der Energiepolitik der DDR. 1989 war er Mitbegründer des Neuen Forums und ab Februar 1990 Minister ohne Geschäftsbereich in der Regierung Modrow. Er trug zur Stilllegung der Atomkraftwerke in der DDR bei. 1993 wurde er Vorsitzender des Vereins „Kinder von Tschernobyl e.V.“ und beteiligte sich am Aufbau eines Reha-Zentrums für Kinder in der Region von Tschernobyl. Von 1999 bis 2021 war Pflugbeil Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz. 2019 erhielt er den Verdienstorden des Landes Berlin.
Anmerkungen
(1) Klaus P. Masuhr, Heimfrid Wolff, Jan Keppler: Die externen Kosten der Energieversorgung, Hrsg. Prognos AG, Stuttgart 1992
(2) Hans-Jürgen Ewers, Klaus Rennings: Abschätzung der Schäden durch einen sogenannten „Super-Gau“, in Prognos-Schriftenreihe „Identifizierung und Internalisierung externer Kosten der Energieversorgung“, im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft, Band 2, Basel 1992.
(3) Carl Friedrich von Weizsäcker: Bewußtseinswandel, Hanser-Verlag 1988, S. 362ff
(4) Anmerkung Sebastian Pflugbeil: Die Geschichte von Luigi Romersa ist etwas verworren. Er wurde von Mussolini beauftragt, herauszubekommen, ob man mit der deutschen Wunderwaffe rechnen könne. Das führte dann nach Kontakten mit Goebbels und Hitler dazu, daß er eingeladen wurde, die erste Detonation zu beobachten. Sein Buch: Luigi Romersa: Le Armi Segrete di Hitler, Mursia-Verlag 2005. Spätere Untersuchungen haben den Ort der Detonation präzisieren können: Südspitze der Halbinsel Bug am 12. Oktober 1942.
(5) Rainer Karlsch: Hitlers Bombe, DVA 2005, S. 216
(6) Anmerkung Sebastian Pflugbeil: Es gibt inzwischen einen Berg Bücher über die Waffenentwicklungen der Nazis – insbesondere der Kernwaffen. Ich halte für ernsthaft Rainer Karlsch: Hitlers Bombe, DVA 2005 und das Folgebuch von Rainer Karlsch und Heiko Petermann: Für und Wider Hitlers Bombe, Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt Band 29, Waxmann Verlag 2007. Ich empfehle auch die Bücher von Günter Nagel: Wissenschaft für den Krieg, Franz Steiner Verlag 2012 und Das geheime deutsche Uranprojekt 1939-1945 – Beute der Aliierten, Heinrich-Jung-Verlagsgesellschaft 2016. Alle hier genannten Bücher gefallen den bekannten Bombenhistorikern eher weniger. Sie möchten nicht gerne ihre bisherigen Studien umschreiben – in denen sie die Arbeiten im III. Reich schlichtweg übersehen haben.
(7) Die US-Generäle Eisenhower, Bradley und General Patten standen Mitte April 1945 vor einem Rost, auf dem Leichen verbrannt worden waren. Rainer Karlsch zeigt in seinem Buch ein Foto davon – sie ahnten nicht, daß das die ersten Opfer der deutschen Atombombe waren. (Rainer Karlsch: Hitlers Bombe)
(8) Faksimile in Rainer Karlsch: Hitlers Bombe, S. 338-341
(9) Anmerkung Sebastian Pflugbeil: Es wäre vernünftig, sich in Ruhe die Prognosen der zuständigen Fachleute und nationaler wie internationaler Gremien zum Ausbau der Kernenergie in der BRD, der DDR und weltweit (zum Beispiel bei der IAEA) anzusehen. Sie stellten sich als völlig substanzlos falsch und viel viel zu hoch heraus. Das kann man heute mit Sicherheit sagen, weil die Jahre, für die die Prognosen abgegeben wurden, schon lange vorbei sind. Diese gravierenden Differenzen zwischen Prognosen und der dann folgenden Realität kann man als interessierter Laie finden. Dazu muß man die Details der Kernphysik nicht beherrschen. Die Zeit der Annäherung der Prognosen an die Realität ging etwa bis zum Ende der 80er Jahre, in einigen Fällen bis 2000. Seit einiger Zeit werden wir wieder mit Prognosen konfrontiert. Wir kennen sie aus der Corona-Zeit, die noch nicht vorbei ist, aus der Klima-Nicht-Diskussion und dem geplanten Ausbau von Solarzellen und Windmühlen. Es ist heute möglich, die Qualität der Prognosen einzuschätzen und daran den Sinn der getroffenen Maßnahmen zu messen. Was mich verärgert: Selbst bei den Fachleuten, die die Klimaveränderungen in der Erdgeschichte nicht bestreiten, aber bezweifeln, daß die Klimaveränderungen der vergangenen 150 Jahre überwiegend menschengemacht sind, wird fast flächendeckend auf die naheliegendste Lösung verwiesen: die Nutzung der Kernenergie. Die avisierten kleinen, transportablen Geräte gibt es noch nicht wirklich. Ob sie auch nur einige wenige der artikulierten Träume erfüllen können – niemand kann das wissen. Es gibt immerhin eine stattliche Liste von gescheiterten Versuchen in dieser Richtung.
(10) Klaus-Dieter Leuthäuser: Möglichkeiten und Grenzen der Implosion und Kompression von Kernspaltungsmaterial, Fraunhofer-Institut für Naturwissenschaftlich-Technische Trendanalysen, Bericht 72, 1975
(11) Kleinkernladungen (Mininukes) – HA XVII Generalmajor Kleine an AGM Generalleutnant Geisler, MfS-AGM 1001, 11 Blatt, Inhalt von Sebastian Pflugbeil zusammengefasst hier
(12) Anmerkung Sebastian Pflugbeil: Literatur von Prof. Winterberg kann vermittelt werden.
(13) Walter Seifritz: Nukleare Sprengkörper – Bedrohung oder Energieversorgung für die Menschheit, Teil I: Nukleare Sprengkörper als Kernwaffen, Teil II: Nukleare Sprengkörper zur Energieversorgung, Karl Thiemig AG München 1984, ISBN 3-521-061 43-4, ausleihbar in der Universitätsbibliothek Hannover – Technische Informationsbibliothek. Die Quellenangabe ist so ausführlich, weil diese Arbeit in der BRD nur in der Hannoveraner Bibliothek vorhanden war.
(14) Der Schiffer hieß Otto Kuhrwahl. Er und weitere Augenzeugen kamen 2006 in einer ZDF-Doku zu Wort.
(15) Anmerkung Sebastian Pflugbeil: Arbeitsgruppe Physikalische Analyse-Methoden (ARGE PhAM): Leiter: Prof. Arthur Scharmann (1928-2012) (war von 1987 bis 2003 Vorsitzender der Schutzkommission beim Bundesinnenministerium, lange im Vorstand der Physikalischen Gesellschaft, hohe Auszeichnungen, sein Stellvertreter Prof. R. Brandt (Strahlenchemie und Alphaspektrometrie), Dr. Dirk Schalch (Strahlenschutzverantwortlicher der Uni Giessen), und Dipl.Ing H.-W. Gabriel.
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