„Darüber wird nicht geredet“
PAUL SCHREYER, 27. November 2023, 20 Kommentare, PDFMultipolar: Lieber Herr Pflugbeil, ich würde gern – wir sprachen im ersten Teil unseres Interviews bereits davon – noch einmal auf den Zusammenhang zwischen Atomwaffen und Atomkraftwerken kommen. In der öffentlichen Wahrnehmung sind das zwei völlig getrennte Dinge. Offenbar ist es aber nicht so einfach. In Vorbereitung auf dieses Gespräch habe ich mich noch einmal zur Atomkatastrophe 1986 in Tschernobyl belesen und zu meiner Überraschung festgestellt, dass die Ursache des Unfalls bis heute gar nicht so klar ist, wie man glauben könnte. Da gibt es immer noch heftige Debatten. Wenn man die offiziellen Darstellungen dazu liest, begegnen einem häufiger die Worte „vielleicht“, „möglicherweise“ und „wahrscheinlich“. Sie selbst sind oft in der Region gewesen, haben auch mit Forschern dort Kontakt. Es gibt von russischen Fachleuten die These, dass in Tschernobyl eine Kernexplosion stattgefunden hat, etwas, was es nach der gängigen Wissenschaft in einem Atomkraftwerk eigentlich gar nicht geben dürfte. Das wird in Russland, wie Sie sagen, in Wissenschaftskreisen offen diskutiert. Wie ist diese These aus Ihrer Sicht einzuschätzen?
Pflugbeil: Direkt nach Tschernobyl gab es in der Sowjetunion Geheimhaltungsvorschriften von allen damit irgendwie in Verbindung stehenden Ministerien. Es wurde verboten, Daten über die Liquidatoren, also die Menschen, die dort die Aufräumarbeiten erledigt hatten, und die Gesundheitsschäden zu erfassen. Es wurde verboten, Daten über den Unfallablauf zu dokumentieren und Daten über die Verbreitung der Kontamination zu erfassen. Das war alles Tabu und durfte nicht einmal aufgeschrieben werden – ähnlich wie bei Hiroshima. Dort ist ein mehrjähriges Informationsloch entstanden, was sich nicht reparieren lässt. Man weiß nur Bruchstücke.
Der erste Bericht über den Unfall wurde im August 1986 abgegeben, also wenige Monate später. Dieser Vortrag wurde in Wien bei der IAEA gehalten und der Vortragende war Professor Legassow. Das war einer der führenden Leute im Kurtschatow-Institut in Moskau. Er war an der Konstruktion des Reaktors beteiligt gewesen. Legassow hielt einen einigermaßen sachlichen Vortrag und machte auch erste Abschätzungen über das Schadenspotenzial. Von den westlichen Kollegen, die dort waren, ist er dort unter Druck gesetzt worden, den Ball flach zu halten. Die hatten von vornherein Interesse daran, das Thema herunterzudiskutieren, weil sie Angst hatten, wenn dieser Kernkraftwerksunfall zu einem großen Thema wird, betrifft sie das auch. Das war ganz klar und kam eben interessanterweise von der westlichen Seite.
IAEA-Direktor Hans Blix und Valeri Legassow im August 1986 in Wien | Bild: picture alliance / Robert Jäger / APA-Archiv
Legassow ist dann eben heftig unter Druck gesetzt worden und hat in der zweiten Version dieses Berichtes einige Dinge weggelassen. Ich habe den Bericht sofort in die Finger bekommen und den Satz für Satz durchgekaut. Mich hat es sehr erstaunt, wie offen der geredet hat. Dieser Mann hat zwei Jahre nach Tschernobyl, am Jahrestag des Unglücks, Selbstmord begangen und hat so etwas wie ein politisches Testament hinterlassen, auf Tonbandkassetten gesprochen. Und das ist interessanterweise zu einem großen Teil in der sowjetischen Parteizeitung Prawda abgedruckt worden. Prawda war eine Zeitung mit großen Seiten, die gab es an jedem Zeitungskiosk in der DDR. Keiner hat die gekauft, aber die lag überall. Nach Tschernobyl habe ich mir die Prawda öfter geholt, weil dort viel bessere und genauere Artikel enthalten waren als in den DDR-Medien. Da konnte man etwas lernen. Und da ist mir dieser Legassow das erste Mal aufgefallen.
Da fing das schon an, dass der Westen eigentlich gar nichts genau wissen wollte. Später hat sich das fortgesetzt bei den Gutachten, die von der IAEA gemacht wurden und den Äußerungen von UNSCEAR, dem UNO-Komitee. Überall findet man das, dass man nach unten diskutiert. Der Schwerpunkt im Westen war, dass es ein Bedienungsfehler, also menschliches Versagen war – kein technisch-prinzipielles, sondern menschliches. Da wurden einige Leute auch eingesperrt für kurze Zeit und haben gestanden. Da gibt es aber dicke Fragezeichen.
In der Sowjetunion haben hochrangige Leute aus der Kerntechnik, der Kernphysik, der Kernchemie sich dazu geäußert. Und viele von ihnen haben ganz selbstverständlich davon gesprochen, dass eine Kernexplosion stattgefunden hat. Also, nicht zum Beispiel eine Wasserstoffexplosion, dadurch, dass das heiße Graphit das Wasser aufgebrochen und Wasserstoff erzeugt hat und es dann eine Wasserstoffexplosion gab. Die hätte die Gewalt, die den Reaktor zerlegt hat, niemals zustande gebracht. Das ist im Detail in diesen russischen Fachkreisen immer genauer analysiert worden, zum Beispiel bis zu solchen Fragen, wie das mit der genaueren Isotopenzusammensetzung der Wolke ist. Es ist so, dass man praktisch an den Emissionen, wie an einem Fingerabdruck feststellen kann, von welcher Anlage das stammt. Sogar von welchem Kraftwerk, von welchem Kernforschungszentrum oder ob es von einem nicht gemeldeten Kernwaffentest stammt. Das kann man genau analysieren. Da gibt es bestimmte Isotope, die weltweit in den Stationen, die die Kernwaffentests überwachen, gemessen werden. Und da gibt es zum Beispiel ein Isotopenverhältnis zweier Xenonisotope. Und an dem Verhältnis dieser Xenonisotope kann man genau sehen, ob das eine Bombe, eine Atomexplosion oder ein Kernkraftwerk ist. Das haben die nach Tschernobyl in St. Petersburg gemessen und das war eindeutig eine Bombe. Das ist so ein Indiz.
Das zweite Indiz, das sie ganz aufwendig analysiert haben, waren die Spuren der Explosion. Sie haben in dem Reaktorsaal – das ist dieser hohe freie Raum, der oberhalb des eigentlichen Reaktortopfes existiert, wo man viel Platz braucht, um von oben die Brennelemente in die Schächte hineinfädeln zu können –, dort haben sie an den stehengebliebenen Bauelementen der Beton- und Stahlkonstruktionen die Spuren der Temperatur gesehen. Die hohen Temperaturen verursachten Kristallveränderungen im Beton zum Beispiel, auch Veränderungen im Stahl. Wenn ich mich recht erinnere, kommen die da auf Temperaturen von 40.000 Grad Celsius. Das sind Temperaturen, die man mit konventionellen, mit chemischen Sprengstoffen nicht hinbekommt. Das ist nach oben begrenzt. Die kriegt man nur zustande mit einer Kernexplosion. Eine Explosion ist, wenn die Energie schneller entsteht, als sie nach außen abgeleitet werden kann. Das ist bei chemischen Explosionen auch so. Aber diese hohe Temperatur, die dort angefallen ist, die ist nur mit einer Kernenergiequelle zu verstehen. Da ist das Modell, das mir am Einleuchtendsten scheint, und das eben viele der hochrangigen Kernfachleute in Russland auch favorisieren, dass der größte Teil des Inhalts von dem Reaktortopf, Kernbrennstoff und Graphit, aus Gründen, die man nicht genau weiß, nach oben herausgeflogen sein muss, den 2.000 Tonnen schweren Betondeckel, der das ganze abdeckte, durch die Luft umhergewirbelt hat, daran vorbeigezischt ist und dann diese Wolke aus verdampftem Kernbrennstoff und Graphit auf eine nicht vorhergesehene Weise zu einer Kernexplosion geführt hat.
Das hat keiner bisher für möglich gehalten, dass so etwas passieren kann. Dafür gab es keine Rechenmodelle, die es für alle Atomunfälle, die man sich hat vorstellen können, so gibt. Auch für die Atombombe gibt es Rechenmodelle, wo man alle Ausgangsdaten eingibt und dann sehen kann, wie die Verbreitung von welchen Isotopen aussieht. Das gab es dafür nicht. Aber es gibt eben die Spuren und es gibt das Fehlen des geschmolzenen Kernbrennstoffs, den man unten auf dem Boden des Reaktortopfes eigentlich erwartet hat. Da hatte man befürchtet, dass sich das nach unten durchfrisst, mit dem Grundwasser in Berührung kommt und dann eine Dampfexplosion das gesamte Kernkraftwerk zerlegt. Das ist alles nicht passiert. Mein Freund Tschetscherow aus Moskau ist mit seinen Leuten dort immer wieder hineingekrochen.
Multipolar: Wer ist das?
Pflugbeil: Tschetscherow ist ein Ingenieurphysiker aus dem Kurtschatow-Institut, der bald nach der Explosion den Auftrag erhielt, aus der Luft die Temperatur in der Ruine zu messen, mit sehr empfindlichen Messgeräten. Aber das hat irgendwie nicht funktioniert. Dort, wo der Reaktor war, war die Temperatur geringer als außerhalb des Reaktors. Dann haben sie schließlich dort, wo sie dachten, dass das Material blubbert, eine lange Nadel mit einem empfindlichen Temperaturmesser hineingeworfen. Es stellte sich heraus, dass die an einer Stelle gelandet ist, wo gar nichts mehr war. Dann sind sie hineingestiegen.
Er ist mehr als tausend Mal im Reaktor gewesen. Es war sein physikalisches Interesse, herauszubekommen, was dort passiert ist. Und er ist das Risiko mit ein paar wenigen verrückten Leuten eingegangen. Die sind in diesen Rest vom Reaktortopf hineingeklettert, wirklich unter hohem Risiko, sind unten spazieren gegangen und haben festgestellt, dass dort nichts war. Es war leer. Dann sind sie unter den Reaktortopf gekrochen und haben diese berühmten Elefantenfüße gefunden. Das war geschmolzener Sand, geschmolzener Kernbrennstoff – aber eine vergleichsweise kleine Menge im Vergleich zu den 90 Tonnen Kernbrennstoff, die in dem Reaktor waren.
Es gab also keine hinreichende Erklärung über den Verbleib. Die haben sich dann ausgetauscht mit anderen Kollegen und haben sich die Berichte und Abschätzungen angeguckt, die vorher gemacht worden waren. Sie sind sich sicher, dass die offizielle Darstellung nicht stimmt und dass es anhand der festgestellten Spuren und der in St. Petersburg gemessenen Isotopenverhältnisse eine Kernexplosion gegeben haben muss. Es ist aber nicht ganz klar, was die Ursache war. Möglicherweise ein Erdbeben direkt unter dem Reaktor. Das ist gemessen worden und auch zum Beispiel von Fischern beobachtet worden. Die haben das mitbekommen, dass es gegrummelt hat, wenige Sekunden bevor die Sache in die Luft gegangen ist.
Es könnte sein, dass ein Erdbebenstoß direkt unter diesem schweren Koloss von Kernkraftwerk dazu geführt hat, dass vielleicht ein, zwei oder drei Kühlwasserrohre, die von unten dort hereingeleitet werden, abgeschert sind. Wenn so etwas passiert und das Kühlwasser wegbleibt, gibt es in Sekundenbruchteilen geschmolzenen Kernbrennstoff. Da könnte man sich vorstellen, dass es unten wie so eine Art Schweißbrenner herausgepfiffen ist, dass es möglicherweise auch noch andere Rohre beschädigt hat und dass dann der ganze Inhalt des Reaktors durch diesen Rückstoß wie eine Rakete nach oben gedonnert ist, das meiste dann wie eine Atombombe 15 Kilometer nach oben gedonnert ist. Und dadurch, dass es so hochgepresst wurde, anders als in Fukushima, konnte sich das dann über die gesamte Nordhalbkugel verteilen. Das ist eine Vorstellung, die bis heute im Westen ignoriert wird.
Multipolar: Weil das bedeutet, dass in einem Atomkraftwerk eine Kernexplosion stattfinden kann.
Pflugbeil: In jedem Lehrbuch über Kerntechnik steht drin, anders als bei Atombomben kann ein Kernkraftwerk aus prinzipiellen physikalischen Gründen nicht explodieren. Diese heilige Kuh will man nicht schlachten, aus verschiedenen Gründen. Das würde die Diskussion um Kernkraftwerke erheblich belasten, wenn man eingestehen muss, dass das passieren kann. Ich bin der Überzeugung, dass das so ist, obwohl mir natürlich viel Detailwissen fehlt und ich viele Sachen nicht aus erster Hand physikalisch einschätzen kann. Ich bin angewiesen auf Literatur und auf Kontakt zu anderen Fachleuten. Für mich ist das aber die plausibelste Geschichte. Auch die Offenheit, mit der in der russischen Fachwelt bis heute darüber geredet wird. Das ist seltsam, dass es dort möglich ist und im Westen unterbunden wird. (1)
Multipolar: Obwohl Russland ja auch noch sehr stark auf Atomenergie angewiesen ist. Ungefähr 20 Prozent der Stromerzeugung kommt in Russland aus der Atomkraft. Ähnlich ist die Größenordnung in den USA.
Pflugbeil: Ja, auch die Leute, die das mit der Atomexplosion in Tschernobyl einschätzen, sind nicht gegen Kernenergie. Die finden das schon ganz in Ordnung und halten den Nutzen für größer als das Risiko. Jedoch bemühen sie sich ehrlich darum, so banal das klingt, die Wahrheit herauszufinden. Und sie versuchen, daraus Schlüsse zu ziehen. Das beeindruckt mich schon. Ich habe viele Leute kennengelernt, auch Leute aus der Mannschaft von Tschernobyl, die sich wirklich darum bemüht haben, ihren Job ordentlich zu machen. Wie ein Kapitän auf einem sinkenden Schiff. Das hat mich sehr beeindruckt. Ich würde mir wünschen, diese Haltung auch in der westlichen Welt zu finden. Da muss man aber lange suchen.
Multipolar: Genau 25 Jahre nach Tschernobyl gab es 2011 die nächste große Atomkatastrophe: Fukushima. Das hat in einigen Teilen in der Welt dann zu einem Umdenken geführt, auch in Deutschland. Angela Merkel hatte zunächst, 2010, ja noch die Laufzeit der Atomkraftwerke verlängern wollen und das dann unmittelbar nach Fukushima gestoppt. Eine 180-Grad-Wende von der Verlängerung zum Ausstieg, der 2023 nun abgeschlossen ist. In Japan gab es nach Fukushima auch ein Umdenken. Man hat die Atomkraftwerke abgeschaltet. Aktuell scheint das wieder in Vergessenheit zu geraten. In Japan werden die Atomkraftwerke wieder in Dienst genommen, in Deutschland wird debattiert, ob man sie nicht doch braucht. In vielen Ländern wird neu gebaut. In Polen, das bislang keine Atomkraftwerke hatte, steigt die Regierung jetzt groß in den Kauf amerikanischer Kraftwerke ein. In Schweden, wo man mehrfach schwankte, will man jetzt auch wieder bauen. Es gibt einen großen Trend, trotz der Ereignisse in Tschernobyl und Fukushima. Sie waren in Fukushima, in Japan, haben auch viele Leute von dort, die sich erkundigt hatten, was man machen kann, beraten und mit dem westlichen Wissensstand versucht, einen Austausch herzustellen. Wie ist denn heute der Stand in Fukushima, in Japan, was das Ausmaß der Schäden angeht?
Pflugbeil: Das ist ganz schwer zu sagen, weil in Japan das Thema Atom praktisch seit Hiroshima und Nagasaki tabu ist. Sowohl, was die Auswirkungen der Bomben angeht, als auch, was die Probleme der Kernenergie angeht. Das ist in den Hochschulen tabu. Darüber wird nicht geredet. Die Opfer der Atombombenabwürfe haben große soziale Probleme gehabt, weil keiner mit ihnen zu tun haben wollte, geschweige denn eine Entschädigung zahlen. Das Tabu ist tief verinnerlicht, in den Medien und in der Politik. Man will damit nichts zu tun haben. Das war nach Fukushima nicht anders.
Aus der deutschen Sicht: Frau Merkel hat vor Fukushima durchgedrückt, dass die Laufzeit von Kernkraftwerken verlängert wird, wo es vorher eine Vereinbarung gab, dass sie auslaufen und als Gegenleistung kriegen, dass sie keine Reparaturen mehr machen müssen. Ein sehr fragwürdiges Geschäft, noch von Trittin. Aber dadurch hatte man das Einverständnis der Kernkraftwerksbetreiber, nicht dagegen zu klagen. Dann kam Fukushima. Die westliche Reaktion nach Tschernobyl war gewesen: russische Technik, kein Wunder. Bei Japan fiel dieses Argument weg. Da sind ja westliche, amerikanische Reaktoren gebaut worden. Das war schon ein Schock. Und Frau Merkel hat einen ganz guten Instinkt und das Gefühl gehabt, dass die bevorstehenden Landtagswahlen vor den Baum gehen könnten, wenn sie nicht auf Fukushima reagiert. Weil mit Fukushima die Erinnerung auch an die Zeit nach Tschernobyl hervorkam. Wo man damals darüber nachdenken musste, was man den Kindern zu essen gibt zum Beispiel. Das habe ich nicht vergessen. Das war im Westen ganz deutlich, dass man angefangen hat zu messen, die Milch nicht zu nehmen und all diese ganzen Geschichten. Das kam wieder hoch und es kam wirklich hoch in Ost- und in Westdeutschland.
Es standen Landtagswahlen bevor und sie dachte, wenn sie jetzt sagt, Japan ist weit weg, dann verliert die CDU die Wahl. Deshalb hat sie dann gesagt, dass wir jetzt aus der Atomenergie aussteigen – also nicht aus echter Risikoeinschätzung oder Ablehnung der Kernenergie, sondern aus parteitaktischen Gründen. Sie hat das dann auf eine juristisch stark anfechtbare Weise gemacht, geschlossen mit zwei Herren zusammen, die tief in der Kernenergie verwurzelt waren. Die Länderbehörden, die eigentlich zum Abschalten ihrer Kernkraftwerke zuständig gewesen wären, haben alle protestiert, dass das nicht gerichtsfest ist und vor den Baum geht, zudem auch viele Kosten verursacht. Das ist später auch so passiert. Die Kernkraftwerke haben geklagt und hohe Entschädigungszahlungen bekommen.
Multipolar: Noch einmal zurück zur Frage, wie das Ausmaß der Schäden in Fukushima aussieht.
Pflugbeil: Das Ausmaß der Schäden ist durch diese informationsfeindliche Haltung der japanischen Öffentlichkeit schwer einzuschätzen. Man kann solche Schäden nur ermitteln, wenn man das von Staats wegen will. Wenn man das von Staats wegen nicht will, ist das für Einzelne praktisch nicht möglich. Zum Beispiel ist gleich nach Fukushima von der Präfektur Fukushima der Professor Yamashita aus Nagasaki eingeladen worden. Das ist ein Fachmann, der seine berufliche Laufbahn mit der Untersuchung des Atombombenabwurfs auf Nagasaki begründet hat. Der ist von der Präfektur Fukushima eingeladen worden, nicht um die Bevölkerung über die Risiken von Strahlung aufzuklären, sondern ihr beizubringen, dass das alles harmlos ist. Und das hat er gemacht. Er ist hingefahren und hat den Leuten in einer der ersten Bürgerversammlungen gesagt, dass das nur gefährlich ist, wenn man sich Sorgen macht. Leute, die fröhlich sind, die trifft es nicht. (2) Übler kann man das nicht darstellen.
Das hat mich sofort an die Äußerungen der russischen Obrigkeit erinnert, die nach Tschernobyl von Radiophobie geredet hat, also von unbegründeter Angst vor Strahlung. Wenn man sich normal verhalten hätte, spazieren gegangen wäre und ordentlich Gemüse gegessen hätte, dann wäre alles gut gewesen. Unbegründete Angst. Das wurde in Japan wiederholt. Bei meinen Besuchen dort, wo ich versucht habe, die Erfahrungen, die wir nach Tschernobyl gesammelt hatten, zu vermitteln, war der Zugang zu Universitäten praktisch ausgeschlossen – nur zu einzelnen Wissenschaftlern gab es Kontakt, aber zu Universitäten so gut wie nicht.
Es bildeten sich dann schnell Bürgergruppen, die sich dafür interessierten. Dort konnte man darüber reden. Und Gruppen, die sich ganz schnell angeeignet hatten, wie man zum Beispiel Lebensmittel messen kann, die sind nach Frankreich und auch zu uns nach Deutschland gekommen und haben gefragt, wie man das macht, haben sich ganz schnell Hightech-Maschinen besorgt und das wirklich professionell zustande gekriegt, das flächendeckend zu machen. Das war sehr eindrücklich. Das hat sehr gut funktioniert. Die Leute waren hoch qualifiziert innerhalb kürzester Zeit und haben die technischen Möglichkeiten Japans benutzt, die viel besser waren als die damals nach Tschernobyl bei uns. Das ist positiv gelaufen. Aber eben in der offiziellen Szene ging gar nichts mit den Kernkraftwerken. Mit der Politik auch gar nicht, mit den Medien praktisch auch nicht. Aber ein Teil der Bürger ist wirklich aktiv geworden. Der hat sich damit beschäftigt, etwa mit Evakuierungsproblemen. Viele Frauen sind mit den Kindern weggezogen, die Männer sind zum Brötchen verdienen dortgeblieben. Viele Familien sind daran zerbrochen. Es gibt große soziale Schwierigkeiten bis heute.
Multipolar: Sie haben auch geschildert, dass es unmittelbar nach Fukushima Überlegungen gab, ob man die Region Tokio evakuieren kann, je nachdem wohin die radioaktive Wolke ziehen würde. Man ist dann schnell zu dem Ergebnis gekommen, dass das unmöglich ist, weil es zu viele Menschen sind. Man hatte Glück, dass der Wind in eine andere Richtung geweht hat, man hätte sonst überhaupt nichts machen können.
Pflugbeil: Das ist leider so. Die Behörden waren zunächst auch geschockt, haben dann aber eine Kommission eingesetzt und sich sofort um Tokio gekümmert. In der Anfangszeit ging der Wind nämlich in die Richtung Tokio. Das ist gescheitert, weil es praktisch nicht lösbar war – in der Region Tokio leben über 30 Millionen Menschen – und dann drehte glücklicherweise der Wind in Richtung Pazifik. Der größte Teil des Drecks, der dort herausgespuckt wurde, ist auf den Pazifik gegangen. Die Fischerei ist an der japanischen Ostküste auf null gefahren worden. Darüber, was dann noch passiert ist Richtung Osten, Richtung amerikanische Küste, ist wenig berichtet worden.
Die Tsunamiwelle beim Aufprall auf den Kraftwerkskomplex Fukushima, 11. März 2011 | Bild: picture alliance / dpa | Handout
Zum Beispiel passierten kurze Zeit danach an der amerikanischen Westküste erstaunliche Sachen. Dort wurden haufenweise Seesterne und Krabben an die Strände gespült. Oder Seerobbenbabys, die immer mal wieder von ihren Müttern getrennt werden durch irgendetwas, dann am Strand landen und von Helfern mit der Flasche aufgepäppelt werden, bis sie wieder ins Wasser entlassen werden – sowas gab es immer mal, aber nun in großen Haufen, sodass die Rettungsstationen gar nicht mehr in der Lage waren, das zu bewältigen. Zum großen Teil mit kahlen, wunden Stellen im Fell. Es gab in der Anfangszeit einige Berichte darüber, doch dann wurde das Thema generell aus dem Verkehr gezogen. Ich habe zum Beispiel einen Bericht über einen Segelschiffkapitän gefunden, der so alle paar Jahre größere Touren von Australien über Japan bis zur amerikanischen Westküste gemacht hat. Der berichtete, dass er sich bei seinen Reisen praktisch die ganze Zeit von Gefischtem ernähren konnte, weil sofort irgendetwas angebissen hat. Nach Fukushima war es auf dem ersten Stück der Reise bis Japan noch in Ordnung, aber auf dem Stück von Japan nach Amerika hat er nichts zu essen gefunden. Es waren keine Fische da. Er hat eine tote Schildkröte treiben sehen und einen Wal mit einem riesigen Geschwür auf dem Kopf und ansonsten war nichts. Das ist, soweit ich weiß, nie ernsthaft untersucht worden.
Im Land hat man sorgfältig untersucht, wie sich die Radioaktivität aus dem Kernkraftwerk und den Bombenexplosionen verbreitet, auch in den USA. Es wurden richtige Experimente gemacht, was aus dem Schornstein herausgepustet wird, eine Wolke radioaktives Jod zum Beispiel. Sie haben sich angeguckt, wie weit das zieht und wie das auf das Gras geht. Und dann vom Gras in die Kuh und in die Milch. Wie die Anreicherungsprozeduren ablaufen, das weiß man ziemlich genau. Aber bei Wasser sind die Anreicherungsmaschinen viel drastischer als an Land. Erst geht es ins Plankton, die nächsten fressen das Plankton, die werden dann von den kleinen Fischchen gefressen, die dann von den mittelgroßen und die mittelgroßen von den ganz großen. Und jedes Mal finden drastische Anreicherungsfaktoren statt, sodass das, was am Anfang in die kleinsten Lebewesen hineingeht am Ende der Nahrungskette zu einer vieltausendfach erhöhten Strahlenbelastung führt. Zweifellos sind die Auswirkungen auf die Meereslebewesen heftig gewesen. Es ist aber nicht untersucht worden. Das war auch ein Problem bei den Opfern der Atombombentests im Pazifik. Die haben viel schärfere Belastungen verursacht und viel länger, als man das so gedacht hat. Das ist ein blinder Fleck, der bis heute nicht bearbeitet wird.
Multipolar: Meine Schlussfrage: Wenn man sich die Umfragen zur Atomenergie in der Bevölkerung anschaut, in verschiedenen Ländern, dann sieht man, dass die Stimmung relativ gespalten ist. Es schwankt. Mal ist eine Mehrheit dafür, mal ist sie dagegen. Es ist ziemlich halbe-halbe. Was in verschiedenen Ländern auch interessant ist: Männer sind mehrheitlich dafür, Frauen mehrheitlich dagegen. Aus einer Umfrage in Deutschland ergibt sich, dass alle Altersgruppen mehrheitlich dafür sind, außer den Jüngeren bis Mitte 30. Die sind mehrheitlich dagegen. Vielleicht hat das etwas mit Fukushima zu tun. Ein anderer Fakt aus einer aktuellen Umfrage in den USA: Menschen mit höherem Schulabschluss sind stärker für die Atomenergie. Polemisch könnte man fragen, ob diese Leute besser gebildet sind oder besser indoktriniert. Wie schätzen Sie die öffentliche Meinung zu diesem Thema ein?
Pflugbeil: Ich habe in den letzten Jahren festgestellt, dass die wirklich stark professionalisierte Propaganda viel heftiger wirkt, als ich mir das vor 20 oder 30 Jahren hatte träumen lassen. Zur Propaganda gehört auch dieses Thema dazu. Wenn man sich die lange Vorgeschichte ansieht, dann sind da zunächst die Leute, die sich mit ihrer ganzen Kraft für die Aufklärung der Gefahren eingesetzt haben. Das waren in den Anfangsjahren führend Leute mit Lehrstuhl, Professoren von der Uni, die dem gemeinen Volk erzählt haben, was da läuft – das beschreibt die Situation in der BRD, in der DDR gab es solche Professoren nicht. Die sind jetzt zum überwiegenden Teil schon gestorben oder so alt, dass sie gar nicht mehr in den Kampf einsteigen können. Wenn man heute in die Bibliothek geht und nach Literatur sucht, dann stößt man auf die internationalen Gremien.
Und dann findet man plötzlich Tote in Tschernobyl. Dieses ganze Zwischenfeld, das wir in diesem Gespräch versucht haben zu eruieren, das ist für Schüler nicht zu finden und auch für Journalisten schwer zu finden. In der Wissenschaft ist das kein Thema, mit dem man Karriere macht, immer noch nicht. Der Trend geht darum dahin, dass diese Beobachtungen, die man nur über lange Zeit gewinnen kann, sowie die Beobachtungen über die Auswirkungen von konkreten Katastrophen immer mehr ins Hintertreffen geraten.
Zur Kernenergie gehört das Klimathema dazu. Ich verfolge die Klimadebatte zunehmend kritisch und halte viele Einwände gegen diese Klimahysterie für gut begründet. Ich bin aber sauer darüber, dass in diesem Kreis der Leute, die die Klimakatastrophe kritisieren oder infrage stellen, immer mehr Leute auftauchen wie zum Beispiel frühere Strahlenschutzbeauftragte von Kernkraftwerken. „Die können das doch beurteilen.“ Und das wird unkritisch in diesen Kreisen verbreitet. Professor Lengfelder hat probiert, die aufwachsende Sympathie für die Kernenergie dort in Frage zu stellen. Er ist zu entsprechenden Tagungen gegangen. Er sieht die Darstellung der Klimakatastrophe auch kritisch.
Multipolar: Wer ist das?
Pflugbeil: Professor Lengfelder war Strahlenbiologieprofessor, Strahlenmedizinprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Mit ihm habe ich nach Tschernobyl zusammengearbeitet. Sowohl was Kindertransporte angeht als auch speziell, was man medizinisch in Weißrussland und der Ukraine sinnvoll machen kann. Also, nicht bloß diese humanitäre Hilfe irgendwie organisieren, sondern die medizinische Versorgung verbessern. Und der ist zu Veranstaltungen gegangen, zum Beispiel von EIKE. Dort gab es schon interessante Vorträge.
Multipolar: Also die „Klimaskeptiker“, in Anführungszeichen.
Pflugbeil: Richtig. Aber eben auch diese Strahlenschutzbeauftragten, die Propagandisten für Kernenergie. Dort hat er den Chef gefragt, ob er in der nächsten Runde mal einen Vortrag halten könnte. Das haben die sofort abgelehnt. War nicht erwünscht. Dann hat er einen zweiten Versuch unternommen und sich in einer Diskussion zu Wort gemeldet und ist dort auch auf eisiges Schweigen gestoßen. Die Fraktion der Leute, die Kernenergie als die Lösung für das Klimaproblem propagieren, obwohl sie selber das Klimaproblem infrage stellen, wächst ständig. In der Öffentlichkeit gibt es kaum eine Möglichkeit das zu diskutieren. Die politischen Parteien diskutieren gerne, wie schnell man die CO2-Steuer hochsetzen oder was man verbieten sollte, die sind sich aber natürlich alle über die Klimakatastrophe einig. Sozusagen: wenn wir das jetzt nicht ganz schnell ändern, wird es ganz böse enden. Sicher ist das jetzt furchtbar teuer, aber wenn wir nichts machen, wird es noch viel teurer.
Multipolar: Es fällt zumindest auf, dass die ganzen Argumente, die wir jetzt in unserem Gespräch zusammengetragen haben, die die Sicherheit der Atomkraftwerke betreffen, nicht mit debattiert werden.
Pflugbeil: Die Leute, die das über Jahrzehnte mit wissenschaftlichen Methoden kritisch studiert haben, sind dort nicht gewollt. Was sich in der Propaganda und in den Medien entsprechend widerspiegelt, blöderweise zum Beispiel auch in den Kirchen. Die sind alle voll auf diesem Dampfer. Sie waren voll auf der Coronaschiene und sind jetzt voll auf der Klimaschiene auf eine so unqualifizierte Weise, dass einem das nackte Grausen kommt.
Dabei wäre es nicht so schwer, aus der früheren Kritik an der Kernenergie etwas für die heutigen Debatten zu lernen: Prognosen zur Kernenergie von damals trafen nicht zu, die Prognosen in der Coronazeit trafen nicht zu, wie vernünftig ist es, auf die Prognosen zu Klimakatastrophe und zu der noch nicht vorhandenen kleinteiligen Wunderkernenergie zu setzen?
Die negativen Begleiterscheinungen der Kernenergie wurden über Jahrzehnte bestritten, die Endlagerfrage ist selbst nach dem Ende der Kernenergienutzung in Deutschland auf Jahrzehnte ungelöst. Müssen wir jetzt die negativen Begleiterscheinungen des Traums von Wind und Sonne wieder ignorieren und uns nicht darum kümmern, was wohl aus den ausgedienten Solarzellen und Windmühlen wird? Damals hat die Begegnung mit Tschernobylkindern bei Vielen den Verstand eingeschaltet. Was schalten die halbverhungerten Kobaltkinder ein, die für uns das Schlüsselmaterial für Smartphones, Windmühlen und Elektroautos auf unabsehbare Zeit aus der Erde klopfen?
Da bin ich wirklich geneigt, von den Verhältnissen in der alten DDR zu träumen, wo zumindest die Kirchen offen waren für so schräge Vögel wie mich. Wir konnten uns dort treffen, konnten Veranstaltungen machen, konnten Papiere herstellen, so schwierig das damals war. Und die Kirchen haben das wohlwollend toleriert. Damals war mit wesentlich mehr Menschen eine offene und kontroverse Diskussion über diese Dinge möglich als heute. Das empfinde ich ganz stark so. Ich bin in Trauer darüber, dass viele meiner Freunde, gerade auch aus dem Ende der DDR-Zeit, mit denen wir ganz normal kooperiert haben, dass ich mit denen heute keine zwei Sätze reden kann über diese Dinge. Es hat einfach keinen Sinn. Ich bin da ziemlich ratlos. Wir stolpern durch ein tiefes Tal und ich bin mir nicht sicher, ob wenigstens unsere Kinder und Enkel da herausfinden.
Weiterlesen: Teil 1 des Interviews
Über den Interviewpartner: Dr. Sebastian Pflugbeil, Jahrgang 1947, studierte Physik in Greifswald. Er reichte 1983 eine Dissertation zur biomedizinischen Grundlagenforschung ein; die Promotion wurde ihm aus politischen Gründen verweigert und erst 1990 zuerkannt. Seit den 1970er Jahren forscht Pflugbeil zur Wirkung von Atomwaffen und den Gefahren der friedlichen Nutzung der Atomenergie. Gemeinsam mit anderen Bürgerrechtlern gründete er das Friedensseminar der evangelischen Immanuelgemeinde in Berlin und arbeitete nach dem Atomunfall in Tschernobyl 1986 an einer Studie über die Probleme der Energiepolitik der DDR. 1989 war er Mitbegründer des Neuen Forums und ab Februar 1990 Minister ohne Geschäftsbereich in der Regierung Modrow. Er trug zur Stilllegung der Atomkraftwerke in der DDR bei. 1993 wurde er Vorsitzender des Vereins „Kinder von Tschernobyl e.V.“ und beteiligte sich am Aufbau eines Reha-Zentrums für Kinder in der Region von Tschernobyl. Von 1999 bis 2021 war Pflugbeil Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz. 2019 erhielt er den Verdienstorden des Landes Berlin.
Anmerkungen
(1) Sebastian Pflugbeil: Thesen zum Sarkophag II, vorgetragen am 11. November 2002 in einem Seminar im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit in Bonn
(2) Shunichi Yamashita (gesprochen Yamashta) am 20. März 2011 in der ersten Bürgerversammlung in Fukushima: „Strahlenschäden kommen nicht zu Menschen, die glücklich sind und lächeln. Sie kommen zu Leuten, die verzagt sind.“– Yamashita 2011 im Interview mit dem Spiegel: „Ich glaube nicht, daß es irgendeinen Effekt der Strahlung gibt. Dazu sind die Dosen zu klein. Es herrscht Strahlenphobie“, Der Spiegel 33/2011, S. 130f
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