Eleanor Roosevelt hält ein Plakat der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, New York, November 1949 | Bild: FDR Presidential Library & Museum

Westliche Identität und Weltpolitik

Wirtschaftliche Schwierigkeiten, verschärfte gesellschaftliche Auseinandersetzungen, die Verrohung von Umgangsformen sowie Spaltungstendenzen lassen keinen Zweifel daran, dass sich der Westen in einer kritischen Phase seiner Entwicklung befindet. Um eine konstruktive Rolle im sich neu ordnenden globalen Miteinander zu spielen, ist eine Rückbesinnung auf die Wurzeln der westlichen Identität nötig.

JÜRGEN WENDLER, 28. Oktober 2023, 1 Kommentar, PDF

„Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.“ (1) Gleichsam wie unter einem Brennglas verdichtet sich in diesem berühmten Satz des Philosophen Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) ein entscheidendes Moment der abendländischen Geschichte: die Erkenntnis, dass Phänomene wie Sklaverei und andere Formen der Unterjochung, etwa die vollständige Unterwerfung von Bauern unter den Willen von Großgrundbesitzern, nicht naturgegeben, sondern Ergebnis historischer Entwicklungen waren. Sie mündete in Revolutionen wie die englische des 17. und die nordamerikanische und französische des 18. Jahrhunderts sowie in die Formulierung von Grund- oder Individualrechten, wie sie unter anderem in der 1948 von den Vereinten Nationen beschlossenen Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder auch im deutschen Grundgesetz zu finden sind.

Die Individualrechte schützen den Einzelnen vor Übergriffen des Staates oder auch politischer Mehrheiten und gelten als ihrem Wesen nach unantastbar. Sie umfassen unter anderem das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Meinungsfreiheit und das Recht auf Eigentum. Der Eröffnung rechtlich geschützter individueller Freiheitsräume verdankt der Westen eine Vielzahl positiver Errungenschaften in Wissenschaft und Wirtschaft.

Zu den Gelehrten, die sich um das Herausschälen wesentlicher Merkmale westlicher Identität bemüht haben, gehört der US-amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington (1927-2008). Er rechnete neben dem Christentum und der gesellschaftlichen Vielfalt (Pluralismus) vor allem den Individualismus und die Rechtsstaatlichkeit dazu. (2) Dafür, sich seiner zu erinnern, gibt es gute Gründe. Zum einen sah er bereits in den 1990er-Jahren klare Anzeichen für den Verfall der westlichen Kultur und den Verlust der Identität, die sich seither verstärkt haben. Zum anderen machte er deutlich, dass es zur Bewahrung der westlichen Kultur neben einer Rückbesinnung auf die eigene Identität und ihre Wurzeln auch der Einsicht bedarf, dass ein konstruktives globales Miteinander die Einhaltung einiger Grundprinzipien erfordert.

Verhandeln und nach Gemeinsamkeiten suchen

Um große Kriege zu vermeiden, gelte es, die Tugend der Enthaltung zu üben und sich nicht in Konflikte innerhalb anderer Kulturen einzumischen, mit den Vertretern anderer Kulturen zu verhandeln und über Kulturgrenzen hinweg nach Gemeinsamkeiten zu suchen. In seinen eigenen Worten klingt es so: „Eine multikulturelle Welt ist unvermeidbar, weil das globale Imperium unmöglich ist. Die Bewahrung der USA und des Westens erfordert die Erneuerung der westlichen Identität. Die Sicherheit der Welt erfordert das Akzeptieren der multikulturellen Welt.“ (3)

Schon an den gegenwärtigen westlichen Versuchen, die eigene globale Vorherrschaft zu bewahren und eigene Vorstellungen unter dem Schlagwort „regelbasierte internationale Ordnung“ im Interesse der Umformung anderer Kulturen durchzusetzen, lässt sich ablesen, wie weit das Denken westlicher Machthaber einschließlich der von den Leitmedien geprägten breiten Öffentlichkeit von den Erkenntnissen Huntingtons entfernt ist. Tatsächlich gäbe es allen Anlass, Eliten anderer Länder wie China oder Russland genauer zuzuhören, wenn sie vom Ziel einer „multipolaren Welt“ oder einer „Demokratie der Staaten“ sprechen. In öffentlichen Erklärungen bekennen diese sich ausdrücklich zum Nebeneinander unterschiedlicher Zivilisationen und zum Verzicht auf Bestrebungen, anderen Kulturen das eigene Zivilisations- und Entwicklungsmodell überzustülpen.

Im Folgenden soll anhand zentraler Aspekte des Umgangs mit den Themen Corona, Klima und Ukrainekrieg aufgezeigt werden, wie sich westliche Gesellschaften immer stärker von den Grundlagen ihrer Identität zu entfernen drohen, was dies mit einer veränderten Vorstellung von den Aufgaben des Staates zu tun hat, wie sich infolgedessen von Huntington beschriebene Verfallstendenzen verstärkt haben und welche Rolle dabei mächtige Kräfte der global agierenden westlichen Wirtschaftswelt spielen. Kurzum: Es geht darum, Hintergründe dessen durchschaubar zu machen, was in gesellschaftspolitischen Debatten mit dem Schlagwort Transformation belegt wird. Erst diese Gesamtschau ermöglicht ein tieferes Verständnis gegenwärtiger Fehlentwicklungen. Und nur so wird erkennbar, wo notwendige Korrekturen anzusetzen hätten.

Einzigartigkeit und Selbstbestimmung

Dass jeder Mensch einzigartig ist, zeigt sich bereits bei einem oberflächlichen Blick auf die Vererbung der genetischen Ausstattung. Das Erbgut befindet sich in den 46 Chromosomen der menschlichen Körperzellen. Bei der Herstellung einer Keimzelle, das heißt einer Ei- oder einer Samenzelle, wird der Chromosomensatz halbiert. Verschmelzen eine Eizelle einer Frau und eine Samenzelle eines Mannes, entsteht ein neuer vollständiger Satz aus 46 Chromosomen. Bei der Halbierung und Verschmelzung gibt es insgesamt mehr als 70 Billionen Möglichkeiten, die Chromosomen zu kombinieren.

Einzigartig ist jeder Mensch jedoch nicht nur wegen seiner genetischen Merkmale, sondern auch aufgrund seines individuellen Erlebens, seiner Gefühle und Gedanken. Daraus resultieren individuelle Bedürfnisse und Vorlieben beziehungsweise das Streben nach einem selbstbestimmten Leben. Das aber setzt Freiheiten voraus – Freiheiten, ohne die auch die Wissenschaft nicht denkbar wäre, wie der Philosoph Michael Esfeld betont: „Jedes Schaffen von Wissen erfordert Selbstbestimmung im Bilden von Urteilen auf der Basis von Sinneseindrücken.“ (4)

Schon der Grieche Thukydides, der vor etwa zweieinhalb Jahrtausenden lebte und zu den bedeutendsten Geschichtsschreibern des Altertums gehört, betrachtete das Streben nach Freiheit als einen Urtrieb des Menschen. Einen anderen sah er im Streben nach Herrschaft. (5) Gegenwärtig scheint Letzteres ein weiteres Mal in Politik und Gesellschaft die Oberhand zu gewinnen. Für den Westen käme dies einem Rückschritt in seiner Entwicklung, einem Identitätsverlust und damit zugleich dem Verlust dessen gleich, was Huntington als Grundlage westlicher Einzigartigkeit betrachtete.

Angriff auf die Individualrechte

Dass die Ausübung der Meinungsfreiheit Menschen ins Abseits befördern kann, wenn sie der herrschenden Auffassung widersprechen, ist in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend deutlicher geworden, so nicht zuletzt im Zusammenhang mit Ereignissen wie den Terroranschlägen vom 11. September 2001, den Protesten auf dem Maidan in Kiew 2014 und der Flüchtlingskrise 2015. Inzwischen hat es den Anschein, als sei ein neues Niveau erreicht. Die Bedrohungen, denen Individualrechte als zentraler Bestandteil der westlichen Identität derzeit durch dem Kulturkreis innewohnende Kräfte ausgesetzt sind, sind nach Art und Umfang die größten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. In aller Deutlichkeit hat dies der Umgang mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 gezeigt.

Schon früh, nämlich im Mai 2021, konnte mit John Ioannidis einer der weltweit renommiertesten Gesundheitswissenschaftler statistisch belegen, dass sich die Infektionssterblichkeit nicht wesentlich von der schwerer Grippewellen unterschied. Dass die sogenannten Impfungen mit mRNA weder Infektionen mit dem Coronavirus verhindern noch schwere Krankheitsverläufe ausschließen können, stand bereits im Sommer 2021, ein gutes halbes Jahr nach Beginn der Impfkampagne, in führenden Wissenschaftsjournalen zu lesen. Auch an Studienveröffentlichungen mit Hinweisen, dass die mRNA-Behandlung schwerwiegende Gesundheitsschäden verursachen kann, mangelte es schon damals nicht.

„Regime der Unterdrückung und Zensur“

Dennoch sahen sich Menschen – selbst renommierte Experten –, die Coronamaßnahmen bezweifelten und/oder die sogenannte Impfung ablehnten, gezielten Kampagnen und einem gewaltigen öffentlichen Druck seitens maßgeblicher Politiker, verschiedener Wissenschaftler und der Leitmedien ausgesetzt. Wer sich gegen die mRNA-Spritze entschied, wurde in einigen westlichen Staaten, darunter Deutschland, aus dem öffentlichen Leben ausgegrenzt und verschiedener Freiheitsrechte beraubt, obwohl es dafür angesichts der Tatsache, dass auch sogenannte Geimpfte das Virus übertragen konnten, keine stichhaltige sachliche Begründung gab. Letztlich wurde versucht, durch gezielten Druck den individuellen Verzicht auf das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit zu erwirken. Der US-amerikanische Mediziner und frühere Wissenschaftler der Weltgesundheitsorganisation (WHO) David Bell spricht in einem Fachbeitrag von einem Regime der Unterdrückung und Zensur sowie einem Angriff auf die menschliche Selbstbestimmung.

In der Coronazeit schälte sich ein Muster heraus, das sich seither auch in anderen Zusammenhängen beobachten lässt. Eine Gefahr wird von politisch maßgeblichen Kräften genutzt, um ihre eigenen Machtbefugnisse auszuweiten, Individualrechte einzuschränken und gewünschte gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen zu befördern. Dies geschieht unter Hinweis auf angeblich gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse, wobei zugleich einiges unternommen wird, um zu verhindern, dass kritische Wissenschaftler mit ihren Einwänden in der Öffentlichkeit Gehör finden und ein zentraler Wesenszug der Wissenschaft, nämlich der Zweifel und das immer wieder von Neuem erfolgende Überprüfen von Annahmen, zur Geltung gelangt. Wer sich den staatlich verordneten Maßnahmen widersetzte, wurde als Coronaleugner, Querdenker, Schwurbler oder Sozialschädling diffamiert. (6)

„Wissenschaftsleugner“ und wissenschaftlicher Diskurs

Ähnlich ergeht es jenen, die sich kritisch zur herrschenden Auffassung vom Ausmaß des Klimawandels und seinen Ursachen äußern. Sie werden pauschal als Klima- oder gar als Wissenschaftsleugner verunglimpft, obwohl sie genau das einfordern, was die Wissenschaft ihrem Wesen nach ausmacht: den Diskurs beziehungsweise die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Annahmen und Positionen sowie die Anerkennung der Tatsache, dass wissenschaftliche Erkenntnisse grundsätzlich einen vorläufigen Charakter besitzen und niemals die Möglichkeit besserer Einsichten ausschließen. Auch beim Ukrainekrieg kommt das inzwischen gängige Muster zur Geltung. Wer sich nicht zur vorherrschenden westlichen Sichtweise bekennt, wird als Putin-Versteher oder Opfer angeblicher Kreml-Propaganda bezeichnet.

So wie beim Thema Corona die Durchsetzung der neuartigen mRNA-Behandlung ins Zentrum rückte, so konzentriert sich beim Thema Klima alles auf die Vermeidung von Kohlendioxidemissionen. Begleitet werden entsprechende Bestrebungen wie beim Coronavirus mit Angstkampagnen, etwa der Praxis, nicht mehr nur von einer globalen Erwärmung, sondern von Erderhitzung zu sprechen. Wie beim Thema Corona ist die Herangehensweise allerdings nach streng wissenschaftlichen Maßstäben nicht zu rechtfertigen. Dies lässt sich bereits erahnen, wenn man sich vor Augen führt, dass sich die Erde seit rund 11.700 Jahren in einer Warmzeit (Holozän) befindet und die Temperaturen in der letzten Warmzeit davor (Eem-Warmzeit, vor etwa 126.000-115.000 Jahren) nach gegenwärtigem Kenntnisstand deutlich über denen von heute lagen.

Die öffentliche Konzentration auf den menschlichen Anteil am Ausstoß des Treibhausgases Kohlendioxid legt nahe, dass der heutige Klimawandel vom Menschen zu verantworten ist und eine eindeutig identifizierte Ursache hat. Nicht erwähnt wird dabei, dass das Erdklima und die zahllosen Faktoren, die es beeinflussen, nach wie vor weit davon entfernt sind, vollständig verstanden zu sein. So ist – um nur einige wenige Beispiele zu nennen – keineswegs endgültig geklärt, welcher genaue Anteil der wechselnden Aktivität der Sonne mit den damit verbundenen Phänomenen sowie der sich stets verändernden Entfernung des Zentralgestirns zur Erde zuzuschreiben ist und welche Rolle die unterschiedlichen Typen von Wolken sowie schwebende Teilchen in der Erdatmosphäre (Aerosole) spielen. (7) Auch der angenommene Zusammenhang zwischen einem Anstieg der Kohlendioxidkonzentration und Temperaturerhöhungen wirft nach wie vor Fragen auf; Daten zur Erdgeschichte deuten auf Phasen hin, in denen ein Anstieg der Kohlendioxidkonzentration nach Temperaturerhöhungen auftrat. (8)

Wer jedoch wie etwa John Clauser, Physik-Nobelpreisträger von 2022, und die anderen Unterzeichner einer Erklärung zum Weltklima den vermeintlichen Klimanotstand und die Aussagekraft von Computermodellen zur Klimaentwicklung anzweifelt, läuft Gefahr, als interessengeleitet oder inkompetent abqualifiziert und letztlich ignoriert zu werden.

Was früher in der westlichen Welt zu erwarten gewesen wäre, geschieht nicht: Politik und Medien nehmen solche Beiträge nicht zum Anlass, um eine breit angelegte Debatte zu starten. Vielmehr richtet sich ihr Blick weiterhin auf die Vermeidung von Kohlendioxidemissionen, die mit der Einschränkung von Freiheitsräumen verbunden wird. Stand bei Corona die Selbstbestimmung über den eigenen Körper zur Disposition, so geht es nun darum, den Verzicht auf die Nutzung fossiler Energieträger zu erzwingen. Menschen wird vorgeschrieben, andere Technologien zum Beheizen von Häusern und zur Fortbewegung einzusetzen.

Reduzierung von Vielschichtigkeit

Das herrschende Verfahren lässt sich auch so beschreiben: Ein vielschichtiges Thema – seien es im Falle von Corona die Risiken von Infektionen, die individuell unterschiedlichen Immunantworten und Gefahren pharmazeutischer Eingriffe oder im Falle des Klimas die Faktoren, die den ständigen Wandel beeinflussen - wird unter Ausklammerung der Vielschichtigkeit mit einem einfachen Lösungsansatz versehen. Dieser besteht in der Anwendung eines neuen pharmazeutischen Produkts, der sogenannten Impfungen mit mRNA, oder in der Anschaffung neuer Autos und Produkte zum besseren Dämmen beziehungsweise Beheizen von Gebäuden. Auch im Ukrainekrieg haben sich die maßgeblichen westlichen Politiker sofort auf einen einfachen Ansatz konzentriert, nämlich die Lieferung immer neuer Waffen.

Dies ist jedoch bei Weitem nicht die einzige Gemeinsamkeit, die der Umgang mit dem Krieg mit den Themen Corona und Klima aufweist. Dass auch beim Ukrainekrieg die Vielschichtigkeit gezielt reduziert wird, zeigt sich eindrucksvoll in der gebetsmühlenartig wiederholten Formulierung vom „unprovozierten brutalen russischen Angriffskrieg“. Damit wird der Debattenraum von vornherein stark eingeschränkt. Der Öffentlichkeit wird der Eindruck vermittelt, dass sich Russland eines besonders schweren, in seiner Brutalität wenn nicht einzigartigen, so doch außergewöhnlichen Völkerrechtsbruchs schuldig gemacht habe und dass dieser gewissermaßen aus heiterem Himmel erfolgt sei. Wie jedes historische Ereignis, so hat allerdings auch der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine im Februar 2022 eine Vorgeschichte. Zu ihr gehören nicht zuletzt die von der russischen Seite vorgebrachten Sorgen um die eigene Sicherheit in Verbindung mit der NATO-Osterweiterung und der Militarisierung der Ukraine, die selbst NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg als zentrales russisches Motiv benannt hat, sowie der seit 2014 erfolgte Kampf des ukrainischen Militärs gegen prorussische Kräfte und Bevölkerungsteile mit Tausenden Toten im Osten des Landes. (9) Wie bei den Themen Corona und Klima, so haben es auch hier Wissenschaftler, die alle Facetten des Problems ausleuchten und sich im konkreten Fall statt für Waffenlieferungen für Friedensverhandlungen einsetzen möchten, schwer, sich im öffentlichen Raum Gehör zu verschaffen. Statt des im Sinne der westlichen Identität notwendigen Pluralismus dominiert abermals das Bestreben, den Meinungskorridor möglichst eng zu halten und eine bestimmte Sichtweise durchzusetzen.

Wem nützt die Verengung des Debattenraums?

Solche Beobachtungen werfen zwangsläufig die Frage nach dem Warum auf. Wem nützt es, wenn der Debattenraum verengt und bestimmte Sichtweisen als alternativlos präsentiert werden? Dass Regierende ein Interesse haben, ihre aktuellen Vorhaben zu verwirklichen, liegt auf der Hand. Die geschilderten Beispiele lassen indes vermuten, dass es um sehr viel mehr geht, nämlich die Ausdehnung von Macht und darüber hinaus um sehr viel Geld.

Die Wiener Wirtschaftshistorikerin Andrea Komlosy hat das Thema Corona zum Anlass genommen, um unter anderem auf die Bedeutung der langen, viele Jahrzehnte umfassenden Wellen, der sogenannten Kondratieff-Zyklen, im Wirtschaftsgeschehen hinzuweisen. Einer dieser Zyklen begann nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Automobilindustrie und der Petrochemie als Leitsektoren in einer Phase des wachsenden Massenkonsums. Für die Zukunft könnten Medizin- und Biotechnologien sowie zunehmende Digitalisierung neue Möglichkeiten eröffnen. (10) Die Pharmabranche verspricht sich von der mRNA-Technologie auch weiterhin große Gewinne. Auf diese dürften zudem jene hoffen, die von der angestrebten Transformation im Energiesektor profitieren möchten.

Auch beim Thema Ukraine geht es längst nicht nur um Geopolitik und Völkerrecht, sondern auch um den Zugriff auf die fruchtbaren Böden sowie die mineralischen und Gasvorkommen (11) des Landes. Westliche Unternehmen sind dort seit vielen Jahren aktiv. Hinsichtlich Russlands, des größten Landes der Erde mit seinen gewaltigen Rohstoffvorkommen, haben US-amerikanische Denkfabriken wie die RAND Corporation oder das Hudson Institute in den vergangenen Jahren keinen Zweifel daran gelassen, dass sich wichtige US-Kreise eingehend mit dem Ziel einer Schwächung und im Idealfall sogar territorialen Zerstückelung dieses eurasischen Vielvölkerstaates befassen. (12)

Dass es auch dabei bei Weitem nicht nur um das Ausschalten eines machtpolitischen Konkurrenten gehen dürfte, hat schon vor Jahren der französische Anthropologe und Historiker Emmanuel Todd betont. Mit den folgenden Worten hat er auf den aus seiner Sicht bestehenden Zusammenhang zwischen der russischen Wirtschaftspolitik und der im Westen neuerdings wieder stark verbreiteten und geförderten Russophobie verwiesen: „Der tiefe ideologische Sinn der Übernahme des Protektionismus durch Moskau liegt in der Weigerung der russischen Führungsschicht, das Volk als billige Arbeitskraft an einen globalen Kapitalismus zu verkaufen. Diese unerwartete Entscheidung ist der Grund für die westliche Russophobie.“ (13)

Angstszenarien zerstören Freiräume

Aus dem bislang Dargelegten ergibt sich ein scharf umrissenes Bild der in jüngster Zeit zu beobachtenden politischen Praxis der westlichen Welt. Vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Motive wird versucht, Freiräume der einzelnen Menschen zu beschränken und zu erwartende Widerstände schon dadurch im Keim zu ersticken, dass Angstszenarien aufgebaut und mit wissenschaftlicher Unterstützung unterfüttert werden. Nach den Worten des Philosophen Michael Esfeld nimmt die Wissenschaft dabei die Rolle ein, die in vormodernen Gesellschaften die Religion gespielt hat. (14) Es werden angebliche Wahrheiten verkündet, und wer widerspricht, wird in die Rolle des Ketzers beziehungsweise ins gesellschaftliche Abseits gedrängt, etwa dadurch, dass er nicht mehr von Leitmedien zitiert oder sogar von seinem akademischen Posten entfernt wird. „Es geht darum, eine ‚neue Normalität‘ zu schaffen, die in einer umfassenden sozialen Steuerung besteht“, schreibt Esfeld. (15)

Von wesentlicher Bedeutung ist dabei das Aushebeln von Individualrechten. Dass entsprechende Bestrebungen im Westen nicht neu sind, hat schon Samuel Huntington verdeutlicht. Er verwies auf die gezielte Verwandlung der USA in eine multikulturelle, das heißt von Verschiedenartigkeit geprägte, Gesellschaft. Rechte von Individuen seien durch Rechte von Gruppen ersetzt worden, zum Beispiel Rechte von Gruppen, deren Zusammenhalt auf ihrer Herkunft, ihrem Geschlecht oder ihrer sexuellen Orientierung beruhe. (16) Hinzuzufügen ist, dass die unveräußerlichen und unantastbaren Individualrechte nun auch dadurch relativiert werden, dass angebliche Sicherheitserfordernisse von Gruppen ins Feld geführt werden. So wurden Menschen zu sogenannten Coronaimpfungen mit dem Hinweis genötigt, dass sie dadurch zum Gesundheitsschutz der Gemeinschaft beitrügen.

Staatliche Übergriffe

Grundrechtseinschränkungen in Verbindung mit dem Klimawandel – etwa hinsichtlich der Bewegungsfreiheit – könnten entsprechend damit begründet werden, dass dadurch künftige Generationen geschützt würden. Dass hier dem politischen Missbrauch Tür und Tor geöffnet werden, bedarf keiner näheren Erläuterung. Der Staat und seine politisch maßgeblichen Repräsentanten geraten dadurch in jene allmächtige Position, die der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588-1679) einst vor dem Hintergrund seiner Erfahrung mit politischen Unruhen und Bürgerkrieg als erstrebenswert beschrieben hatte. Hobbes maß dem Staat eine instrumentelle Funktion bei, nämlich die, Frieden und Schutz zu gewährleisten. Dazu sollte sich der Einzelne den Machthabern unterwerfen. (17) Erst unter den Nachfahren des Philosophen kam eine der wichtigsten Errungenschaften des Abendlandes voll zur Geltung: die Erkenntnis, dass zum Schutz, den ein Staat zu bieten hat, auch der vor den Übergriffen von machtpolitisch dominierenden Kräften auf die eigenen Bürger gehört. Dieser wird durch die unantastbaren Grundrechte sichergestellt.

Seit der Coronazeit sind die Tendenzen zur Ausdehnung der staatlichen Macht in der westlichen Welt unübersehbar. Kritiker befürchten, dass hinter den Bemühungen, immer mehr Daten über Menschen – ihre Gewohnheiten, Gesundheit und Bewegungsmuster – zu sammeln, das Ziel der Totalüberwachung und Verhaltenssteuerung steckt. (18) Rechte, etwa zu reisen, könnten an digitale Impfpässe, das heißt Eingriffe in das Recht der körperlichen Unversehrtheit, geknüpft werden, und digitale Währungen sowie der Verzicht auf Bargeld könnten die Möglichkeit eröffnen, staatlicherseits finanzielle Spielräume von Menschen mit einem Knopfdruck zu beschränken, falls diese unerwünschte Verhaltensweisen zeigen.

Kritiker hatten recht

Der Digital Services Act der Europäischen Union hat eine Grundlage für die Zensur der sozialen Medien und die Möglichkeit geschaffen, diese zur Unterdrückung von Protestbewegungen abzuschalten, und Internetkonzerne sind angehalten, gegen sogenannte „Desinformation“ vorzugehen; wie problematisch dieser Begriff und damit dieses Unterfangen ist, lässt sich leicht daran ablesen, dass viele Informationen von Politikern und Behördenvertretern zu den sogenannten Coronaimpfungen eindeutig falsch waren. Jene, die auf die begrenzte Wirksamkeit der Impfungen und das Risiko von ernsten Nebenwirkungen verwiesen und denen daraufhin Desinformation vorgeworfen wurde, hatten recht.

Mit den zahlreichen Anzeichen für eine zunehmende Einschränkung menschlicher Freiheitsräume sind zugleich Einrichtungen ins Visier von Kritikern gerückt, die vielen als Treiber solcher Entwicklungen gelten. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt das Weltwirtschaftsforum (WEF), eine in der Schweiz ansässige Lobbyorganisation, der eine Vielzahl global tätiger Unternehmen angehört und die großen Einfluss auf Entscheidungsträger ausübt. (19) Anlass für Kritik bieten zudem Bestrebungen, die Befugnisse der WHO auszuweiten. Wie weit Befürchtungen reichen, zeigt auch die Tatsache, dass der bereits erwähnte US-Wissenschaftler David Bell seinen Beitrag „Pandemic preparedness and the road to international fascism“ („Pandemievorsorge und der Weg zum internationalen Faschismus“) betitelt hat. Der Philosoph Michael Esfeld, der seinen Blick insbesondere auf die Rolle der Wissenschaft richtet, sieht die Gefahr des Totalitarismus, einer umfassenden Verfügungsgewalt über das Leben der Menschen: „Der Kern totalitärer Herrschaft ist eine angeblich wissenschaftliche Lehre, welche die Staatsgewalt einsetzt, um das gesamte soziale und auch private Leben zu lenken.“ (20)

Errichtung eines Wahrheitsmonopols

Selbst wer solche Befürchtungen für überzogen hält, kommt nicht an der Tatsache vorbei, dass es im Westen unverkennbare, an zahlreichen Indizien ablesbare Bestrebungen zur Errichtung eines staatlichen Wahrheitsmonopols gibt. Das sichtbare, in verschiedenen westlichen Ländern unterschiedlich stark ausgeprägte Bemühen, missliebige Meinungen aus dem öffentlichen Raum zu verbannen und gegen gesellschaftliche Gruppen sowie politische Parteien vorzugehen, die sich herrschenden Auffassungen widersetzen, steht im Widerspruch zu demokratischen Grundprinzipien und Werten wie Pluralismus, die Huntington als Kernelemente der westlichen Identität identifiziert hat.

Der Westen läuft mithin Gefahr, über Generationen mühevoll erworbene Eigenarten einzubüßen und austauschbar zu werden. Thomas Jefferson (1743-1826), einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, fürchtete die Möglichkeit einer Oligarchie der Kaufleute und Fabrikanten. (21) Muss es da nicht Sorge bereiten, wenn global in großem Stil agierende Wirtschaftskräfte über Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen wie das Weltwirtschaftsforum einen starken Einfluss auf Regierungsvertreter ausüben, die über die einzig maßgebliche Wahrheit zu verfügen meinen?

Ein Wahrheitsmonopol begünstigt rasche Entscheidungen, wie sie durchaus in manchen Fällen hilfreich sein können. Zugleich aber birgt es die Gefahr, den Kern von Problemen zu verkennen und auf Abwege zu geraten. Einiges spricht beispielsweise dafür, dass auch menschliche Aktivitäten einen Einfluss auf das Klima haben. Wäre es aber – statt sich ganz auf das Klima zu konzentrieren und hier einen neuen Wachstumsmotor zu sehen (Green Deal) – nicht eher angebracht, grundsätzlicher über Fragen der Wirtschaftsweise mit ihrem gewaltigen Verbrauch an Flächen und anderen Ressourcen nachzudenken?

Gleich, wie diese Frage beantwortet würde – allein die Tatsache, sie zu stellen, gehört zur westlichen Identität. „Letztlich hängt der Fortschritt in sehr hohem Maße von politischen Faktoren ab, von politischen Institutionen, welche die Gedankenfreiheit garantieren“, schrieb der Philosoph Karl Popper (1902-1994). (22) Wenn es der Westen schaffte, seine alten Stärken zu bewahren und gleichzeitig die Andersartigkeit anderer Kulturen zu respektieren, wäre vermutlich nicht nur ihm selbst, sondern auch der Welt geholfen.

Über den Autor: Jürgen Wendler, Jahrgang 1960, hat Geschichte, Englische Philologie, Philosophie und Pädagogik an der Universität Kiel studiert und 1990 mit einer Arbeit unter dem Titel „Die Deutschlandpolitik der SED 1952-1958“ (Böhlau Verlag 1991) promoviert. Anschließend war er über mehr als drei Jahrzehnte als Tageszeitungsredakteur (Weser-Kurier, Bremen) tätig, überwiegend als Wissenschaftsjournalist. Außerdem hat er an den verschiedenen, in zahlreichen Ländern erschienenen Ausgaben von „Peters Weltatlas“ mitgewirkt und eine Monographie mit dem Titel „Wahrer Wohlstand. Wegmarken einer menschlichen und naturgerechten Wirtschaftsordnung“ (Xenomoi Verlag 2008) verfasst. Zuletzt erschien von ihm ein Beitrag über die Geschichte der russisch-europäischen Beziehungen im Sammelband „Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht“ (Westend academics 2023).

Anmerkungen

(1)Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts (Stuttgart: Reclam, 1977), S. 5.

(2) Samuel Huntington: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert (München, Wien: Europa Verlag, 1996), S. 513.

(3) Ebd., S. 525.

(4) Michael Esfeld: Land ohne Mut. Eine Anleitung für die Rückkehr zu Wissenschaft und Rechtsordnung (Berlin: Achgut Edition, 2023), S. 14.

(5) Hans Fenske et al.: Geschichte der politischen Ideen (Frankfurt am Main: Fischer, 1987), S. 50.

(6) Marcus Klöckner, Jens Wernicke: „Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen.“ Das Corona-Unrecht und seine Täter (München: Rubikon, 2022).

(7) Ulrich von Kusserow, Eckart Marsch: Magnetisches Sonnensystem. Solare Eruptionen, Sonnenwinde und Weltraumwetter (Berlin: Springer, 2023), S. 342ff.

(8) Ebd., S. 347.

(9) Ausführlich thematisiert wird die Vorgeschichte des Ukrainekrieges unter anderem in Beiträgen verschiedener Autoren des folgenden Sammelbandes: Sandra Kostner, Stefan Luft (Hg.): Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht (Frankfurt am Main: Westend academics, 2023).

(10) Andrea Komlosy: Zeitenwende. Corona, Big Data und die kybernetische Zukunft (Wien: Promedia, 2022).

(11) Kostner, Luft: Ukrainekrieg, S. 133ff.

(12) Ebd., S. 12f.

(13) Emmanuel Todd: Traurige Moderne. Eine Geschichte der Menschheit von der Steinzeit bis zum Homo americanus (München: C.H. Beck, 2018), S. 462f.

(14) Esfeld: Land ohne Mut, S. 15.

(15) Ebd., S. 16.

(16) Huntington: Kampf der Kulturen, S. 502ff.

(17) Thomas Hobbes: Leviathan (Stuttgart: Reclam, 1970), S. 156ff.

(18) Komlosy: Zeitenwende, S. 8.

(19) Ernst Wolff: World Economic Forum. Die Weltmacht im Hintergrund (Hamburg: Klarsicht Verlag, 2022).

(20) Esfeld: Land ohne Mut, S. 17.

(21) Fenske et al.: Geschichte der politischen Ideen, S. 374.

(22) Karl Popper: Das Elend des Historizismus (Tübingen: Mohr, 1987), S. 121.

ALEXANDER FEIN, 29. Oktober 2023, 22:40 UHR

Danke für diesen hochinteressanten und erhellenden Text zum Zustand der westlichen Gesellschaft. Ohne ermüden zu wollen, erlaube ich mir erneut den Hinweis auf den US-Historiker Christopher Lasch (1932-1994), der in The Revolt of the Elites and the Betrayal of Democracy, 1994 (deutsch: Die blinde Elite - Macht ohne Verantwortung, Hoffmann und Campe 1995) auf die Bedeutung des liberalen Lebensstils als einen wesentlichen, die Demokratie aushöhlenden Faktor hinwies. Er kommt zu verblüffenden Zukunftsprognosen: "Netzwerke" - das Wort Internet kommt naturgemäß nirgends vor - werden den öffentlichen Raum vollständig vernichten; eine neue Klasse sogenannter symbolischer Analytiker - allen voran IT-Techniker -und Journalisten - werden für herkömmliche Tätigkeiten nur noch Verachtung empfinden; das unnatürlich enge Zusammenleben zwischen Männern und Frauen in den liberalen Gesellschaften werde den Dialog zwischen den Generationen vollständig zum Erliegen bringen. Sicherlich eine besonders verblüffende These des Buches, die sich bewahrheitet hat.

Zudem fördere ein sozial und räumlich mobiler Lebensstil die Desintegration von Sozialverbänden und letztendlich auch Nationen, die zu einem neuen Tribalismus führe. Er weist unter Hinzuziehung zahlreicher Quellen nach, dass der Liberalismus in der Verfassungsgeschichte der USA zunehmend zum dominanten Faktor wurde, auch hinsichtlich der Minoritätenpolitik, deren aggressivste Auswirkung wir nun im Wokismus sehen. Wenn der Autor Jürgen Wendler nun argumentiert, dass das Christentum die westliche Identität mit ausmache und daher eine Rückkehr zu den Wurzeln erforderlich sei, würde Lasch ihm entgegenhalten, dass der Glaube nicht deshalb wiederbelebt werden kann, weil er einen guten Zweck erfüllt, beispielsweise Sicherheit bietet, sondern dass der Wert religiöser Praxis in der Auseinandersetzung mit der eigenen Selbstgefälligkeit und -gerechtigkeit bestehe. Letztere hält Lasch nämlich für besonders penetrante Wesensmerkmale liberaler Eliten, die dann auch deren Zensurwut erkläre.

Insgesamt ist Christopher Lasch eher bei Autoren wie Ernst Wolff oder Ulrich Mies, denn er sieht den liberalen Lebensstil als attraktiv für soziale Aufsteiger in allen Weltregionen, deren Macht dann scharf gewendet als Globalfaschismus analysiert werden kann. Lasch leitet diese Erkenntnis allerdings von der US-Sozialgeschichte ab. Für mich war eine Konsequenz aus der Lektüre des Buches, liberal als Legaldefinition von "gut" geistig zu überwinden. Der Liberalismus ist in den im Artikel korrekt beschrieben Zuständen in sein Endstadium eingetreten.

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