Wo ist die Debatte? Wer baut noch Brücken? Ein offener Brief an die Leitmedien
PAUL SCHREYER, 26. August 2020, 13 KommentareHinweis: Dieser Beitrag ist auch als Podcast verfügbar.
Zunächst eine Vorbemerkung zum aktuell verkündeten Verbot der Demonstration am 29. August: Der Berliner Senat begründet dies damit, „dass es bei dem zu erwartenden Kreis der Teilnehmenden zu Verstößen gegen die geltende Infektionsschutzverordnung kommen wird“. Die Regierung entzieht damit einer unscharf bezeichneten Menschengruppe („dem zu erwartenden Kreis der Teilnehmenden“) pauschal das Demonstrationsrecht – mit Verweis auf den Gesundheitsschutz. Ganz unabhängig von dieser Abwägung folgt ein präventives Verbot wegen erwarteter (!) Verstöße offenkundig nicht rechtsstaatlichen Prinzipien. Darüberhinaus liegen bislang keine Belege vor, dass die stattgefundenen Demonstrationen, wie die am 1. August, zu einer messbaren Erhöhung der Zahl der Covid-19-Erkrankten geführt hätten.
Der Berliner Innensenator Andreas Geisel führt aus, die Demonstranten würden „unser System verächtlich machen“, wovon sich „alle Demokraten abgrenzen“ müssten. Das Verbot ist also ganz offiziell auch politisch motiviert. Mit einer so begründeten Entscheidung reiht sich die Regierung, ganz nüchtern und wertfrei betrachtet, in das Lager autoritärer Willkürregime ein. Es ist in pluralistischen Gesellschaften schlicht und einfach nicht erlaubt, Demonstrationen zu verbieten, weil den Behörden die politischen Ziele der Protestierenden nicht gefallen. Zudem: Was erhofft man sich davon? Ein Umdenken der Demonstranten? Geisel weiter:
„Das ist keine Entscheidung gegen die Versammlungsfreiheit, sondern eine Entscheidung für den Infektionsschutz. Wir sind noch mitten in der Pandemie mit steigenden Infektionszahlen. Das kann man nicht leugnen. Wir müssen deshalb zwischen dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit und dem der Unversehrtheit des Lebens abwägen.“
Mit „steigenden Infektionszahlen“ zu argumentieren, ist allerdings grob irreführend, da die gestiegene Anzahl der Tests nicht erwähnt wird. Wer mehr testet, der findet auch mehr, insbesondere dann, wenn breit und unspezifisch getestet wird, wie etwa bei Urlaubsrückkehrern. Steigende Fallzahlen sind nur unter bestimmten Bedingungen ein Indiz für eine größere Gefährdung der Öffentlichkeit – unter anderem dann, wenn die Auswahl der Orte, an denen getestet wird, vergleichbar und für die Gesamtbevölkerung repräsentativ ist, wenn die Testergebnisse um die falsch-positiven Ergebnisse bereinigt werden, wenn der Test ausschließlich auf infektiöse Virusfragmente anschlägt und wenn die positiv Getesteten auch tatsächlich zu einem Anteil und in einer Schwere erkranken, die eine ernste Besorgnis für die gesamte Bevölkerung rechtfertigt. Keine dieser Bedingungen ist aktuell erfüllt, weshalb die Annahme des Innensenators, steigende Fallzahlen bedeuteten eine größere Gefährdung der Öffentlichkeit, derzeit sachlich falsch ist.
Im Verbotsbescheid an die Veranstalter heißt es:
„Sie richten sich mit Ihrer Versammlung gegen die Maßnahmen der Regierung bzw. der einzelnen Landesregierungen zur Eindämmung des SARS-CoV-2 Virus, die Sie für überzogen halten. Sie sehen Ihre Freiheitsrechte dadurch unverhältnismäßig eingeschränkt, was mit einer Fehleinschätzung der eigentlichen Gesundheitsgefahren, die von dem SARS-CoV-2-Virus ausgehen, einhergeht.“
Wesentlich ist hier der Begriff „Fehleinschätzung“, der unterstellt, die Regierung habe in dieser Frage das Monopol auf die Wahrheit und jeder, der ihr widerspräche, würde entweder lügen oder sei schlecht informiert. Der Initiator der Demonstration Michael Ballweg kommentiert dazu:
„Meine Befürchtung im April 2020, dass im Rahmen der Pandemie die Grundrechte nicht nur temporär eingeschränkt werden, hat sich bestätigt. (…) Wir gehen juristisch gegen die Entscheidung des Innensenators vor und gehen davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht diesen feindlichen Angriff auf das Grundgesetz zurückweisen wird. Diese, wie die anderen Versammlungen von QUERDENKEN in Berlin werden stattfinden.“
Am Nachmittag reagierte die Bild-Zeitung mit scharfer Kritik – eine Ausnahme innerhalb der Leitmedien:
„Das ist ein inakzeptabler Angriff auf eines unserer höchsten Grundrechte, gegen jede Verhältnismäßigkeit und obendrein an politischer Dummheit kaum zu überbieten. (…) Unzählige Male wird jeden Tag im ganzen Land gegen die Maskenpflicht verstoßen – Konsequenzen hat das so gut wie nie. Ausgerechnet hier greift der Staat nun mit maximaler Härte durch, weil ihm die Demonstranten politisch nicht passen. Das ist ein unerträglicher Tabubruch.“
Fragen an die Leitmedien
Die aktuellen Zustände schienen vor kurzem noch undenkbar. Zur Zeit rumort es im Land so heftig, wie seit 1989 nicht mehr. Demonstrationen finden nicht nur in Berlin, sondern in vielen deutschen Städten statt. Polizisten solidarisieren sich, Schulleiter kündigen den Gehorsam auf.
Die Veranstaltung am 1. August in Berlin ließ sich (trotz anderslautender Meldungen) aufgrund der großen Menge der Teilnehmer nicht ohne weiteres von der Polizei auflösen. Deren genaue Zahl – ob nun 50.000 oder 250.000 Protestierende – ist strittig (20.000, wie von der Polizei behauptet, waren es mit großer Sicherheit nicht). Kaum weniger wichtig als die Zahl der Demonstranten aber war ihre – und das ist unstrittig – buntgemischte Zusammensetzung. Es handelte sich nicht um radikale, sektiererische Randgruppen sondern um einen breiten Querschnitt der Bevölkerung.
Laut einer aktuellen repräsentativen Umfrage erklären 20 Prozent der Deutschen, also hochgerechnet mehr als 15 Millionen Menschen, sie hätten „Verständnis für die aktuellen Demonstrationen“. 14 Prozent, also mehr als 10 Millionen, sind nach eigener Aussage „bereit, an einer Demonstration gegen die einschränkenden Maßnahmen teilzunehmen“. Dieser Wert hat sich von Anfang zu Mitte August von 10 auf 14 Prozent erhöht. 18 Prozent halten die Maßnahmen für übertrieben und 8 Prozent sagen offen, dass sie sich nicht an die von der Regierung festgelegten Corona-Regeln halten.
An der Bewertung dieser Zahlen und Fakten scheiden sich die Geister. Sind die Kritiker egoistische Ignoranten, die zum Beispiel das Maskentragen aus reiner Bequemlichkeit verweigern, oder folgen sie damit vielleicht einer rationalen, faktenbasierten Argumentation (wie man sie jüngst etwa in der Deutschen Apothekerzeitung lesen konnte)? Über diese Frage müsste selbstverständlich ernsthaft, respektvoll und umfassend diskutiert werden – unter Berücksichtigung unterschiedlichster Stimmen aus der Wissenschaft. Genau von dort kommt derzeit viel Kritik. So hat das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin, zu dessen Fördermitgliedern zahlreiche Ärzteverbände und große Krankenkassen wie die Barmer oder der AOK-Bundesverband gehören, in der vergangenen Woche mitgeteilt:
„Selbst in renommierten Medien wie beispielsweise der Süddeutschen Zeitung, im öffentlichen Fernsehen, aber auch international, etwa beim Fernsehsender der BBC oder CNN, werden die Informationen über COVID 19 oft in einer irreführenden Art und Weise berichtet. (…) Selbst in den Leitmedien wurden zur Beschreibung des Infektionsrisikos über Monate lediglich Fallzahlen ohne Bezugsgrößen und unter Verwendung unpräziser Bezeichnungen benutzt, etwa „Bisher gibt es X Infizierte und Y Todesfälle“. Dabei wird nicht zwischen Testergebnissen, Diagnosen, Infektionen und Erkrankungen differenziert. (…)
Evidenzbasierte Medizin lebt von einer offenen Diskussion kontroverser wissenschaftlicher Ergebnisse. Ein öffentlicher Diskurs ungeklärter Fragen wäre wünschenswert. Aktuell werden die Kontroversen aus unserer Sicht unzureichend in den etablierten Medien aufgegriffen. Die Präsentation der Daten erscheint einseitig, offene Fragen werden nicht angemessen angesprochen. (…) Die Menschen wollen ehrlich und unmissverständlich informiert werden. (…) Nur so kann in einer aufgeklärten Gesellschaft langfristig eine Vertrauensbasis hergestellt und aufrechterhalten werden, die ein rationales, auf wissenschaftlichen Fakten basierendes Handeln ermöglicht und die Kooperation der Bevölkerung im Katastrophenfall sichert.“
Das Deutsche Ärzteblatt berichtete am Montag über diese deutliche Kritik. Den Fachkreisen ist lange klar, wo die Probleme liegen. Die strittigen Fragen sind bekannt, allein, es fehlt am Mut, eine angemessene öffentliche Diskussion zu ermöglichen. Klar ist: Die Initiative dazu wird nicht von den Chefredaktionen ausgehen, die der Politik oft näher stehen, als ihnen gut tut. Jeder einzelne Journalist ist jetzt gefragt, seinen persönlichen Spielraum so weit wie möglich zu nutzen.
Den in den Leitmedien tätigen Kollegen stellt sich die Frage, wie Sie mit den Ansichten der Regierungskritiker, die die Corona-Maßnahmen ablehnen, zukünftig umgehen wollen. Sollen diese Menschen weiterhin, vielleicht sogar in zunehmend schärferem Maße, geächtet werden? Wenn ja, mit welchem Ziel? Dass sie ihre „fehlerhafte“ Haltung überdenken? Dass sie den Mund halten? Oder das Land verlassen? Alle zehn Millionen? Anders gefragt: Wohin soll die Ausgrenzung führen?
Der Graben muss dringend überbrückt werden. Irrtum ist menschlich, jeder kann dazu lernen, auf allen Seiten der Debatte. Auch eine qualitative Einteilung in „Mainstream“ und „Alternativmedien“ erscheint wenig zielführend, da die grundsätzliche Aufgabe, Informationen verständlich zu vermitteln, alle Journalisten eint oder zumindest einen sollte. Davon abgesehen und ganz wertfrei betrachtet, ist es aber sicher zutreffend, Medien mit großer Reichweite und großem Einfluss als „Leitmedien“ zu bezeichnen. Wer dort arbeitet, trägt besonders große Verantwortung (und verfügt oft über besonders geringen persönlichen Handlungsspielraum – wie wohl die meisten, die dort beschäftigt sind, wissen). Dennoch können kleine Nischenmedien wie Multipolar ohne das – ganz individuelle, persönliche – Engagement einer ausreichenden Anzahl von Kollegen in den Leitmedien nur wenig bewirken. Die kleinen Medien können die nötige Debatte über den Graben hinweg nicht ohne die Hilfe der großen führen – dazu fehlt ganz einfach die Reichweite.
In einer Gefahrensituation wird eine Lösung oft erst dann möglich, wenn jeder Einzelne bereit ist, ein persönliches Risiko einzugehen. Mitarbeiter kleiner und großer Medien sollten sich wieder auf das gemeinsame Anliegen besinnen, die Öffentlichkeit umfassend und fair zu informieren – gerade auch, wenn bestimmte Sichtweisen in den Chefredaktionen gerade nicht „angesagt“ sind. Es geht darum, den zahlreich vorhandenen vernünftigen, wissenschaftsbasierten Stimmen unter den Kritikern der Corona-Maßnahmen angemessenen medialen Raum zu geben: in Interviews, Talkrunden und Gastkommentaren. Wie die hier verlinkten Beiträge zeigen, gibt es inzwischen schon vereinzelt Redakteure, die genau das tun. Es sollten rasch mehr werden.
Falls zukünftig weiterhin auf breiter medialer Front versucht wird, alle Demonstranten als „gefährliche Irre“ auszugrenzen, wird es schwierig. Jedem Kollegen sollte klar sein, dass man einen Graben nur so lange überbrücken kann, wie er nicht zu breit und zu tief geworden ist. In der jetzigen Situation sind der Mut, die Aufgeschlossenheit und die Empathie jedes Einzelnen gefragt.
Eine Regierung, die kritische Demonstrationen in der eingangs beschriebenen Weise pauschal verbietet, verdient sicherlich nicht den Schutz, sondern die laute Kritik von Journalisten. Die derzeitige Situation ist ein Lackmustest für unabhängigen und pluralistischen Journalismus. Diesen kann jeder in den Medien Tätige individuell anstreben – oder auch nicht. Klar ist aber wohl eines: Wenn das gemeinsame Gespräch und die kollektive Suche nach einem Konsens über grundlegende Fakten erstirbt, dann wachsen Hass und Gewalt. Die Verlierer wären wir alle.
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